Was uns das Virus über uns selbst sagt

Wir hören gerne, wie aufgeklärt wir sind. Aber können wir uns selbst trauen? Ein Blick auf die leeren Nudelregale im Supermarkt zeigt, dass die Frage in einer Krise nicht so leicht zu beantworten ist

In der Berliner Boulevardzeitung „B.Z.“ habe ich die Meldung gelesen, dass aus mehreren Kliniken der Stadt Desinfektionsmittel, Atemschutzmasken und Handschuhe entwendet wurden. Zu den Stationen, zu denen sich die Diebe Zugang verschafften, gehört auch eine Intensivstation der Charité, auf der Neugeborene und Kinder mit Leukämie liegen. Krebsstationen verbrauchen große Mengen an sogenanntem Sterilgut. Da bei der Behandlung das Immunsystem heruntergefahren wird, sind Krebspatienten darauf angewiesen, dass sie gut gegen Keime und Viren geschützt sind. Das gilt erst recht für Babys und kleine Kinder.

Zu meinen bevorzugten TV-Serien gehörte eine Zeit lang „The Walking Dead“, in der der Überlebenskampf einer Gruppe von Menschen nach der Zombie-Apokalypse geschildert wird. Der Reiz der Serie liegt nicht in der Wahrscheinlichkeit einer Zombie-Attacke. Wir können uns schnell darauf einigen, dass die Wiederkehr der Toten zu den Ereignissen gehört, vor denen wir ausnahmsweise keine Angst haben müssen. Was einen bei „The Walking Dead“ vor dem Fernseher hält, ist die Plausibilität der Veränderung menschlichen Verhaltens nach dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. Der Zombie ist ja nur das Symbol für eine Katastrophe, die alles auf den Kopf stellt. Es könnte auch ein Meteoriteneinschlag sein. Oder ein Virus.

Wir beschwören gerne, wie aufgeklärt wir sind. Institutionen wie die EU bauen auf der Vorstellung auf, dass wir den Egoismus überwunden und in größeren Zusammenhängen zu denken gelernt haben. In der Krise zeigt sich, dass Blut doch dicker ist als Wasser, wie es so schön heißt. Der Kreis derjenigen, für die man sich verantwortlich fühlt, schrumpft dramatisch. Der Ehemann gehört dazu (in der Regel jedenfalls). Die Eltern, die Kinder. Deren Kinder.

Schon der Nachbar ist im Zweifel außen vor. Mit dem Arbeitskollegen, mit dem man seit Jahren zu Mittag gegessen hat, teilt man nicht einmal das auf der Firmentoilette entwendete Sterilium. „Erst die Hygiene, dann die Moral“, hat ein Kollege die Meldung aus Berlin kommentiert. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was passiert, wenn die Krankenhäuser nur noch Menschen einlassen, die aufgrund ihrer Konstitution und ihres Alters eine gute Überlebenschance haben.

Eine der philosophischen Grundfragen ist, wo der Sitz der Moral sei: im Menschen oder, und das wäre die konservative Antwort, in den Institutionen, also den von ihm geschaffenen Ordnungsinstanzen. Die sonnige Antwortet lautet, dass der Mensch von Natur aus gut sei, ein friedliebendes Geschöpf, das im Einklang mit sich und seiner Umwelt lebte, wenn man ihn nicht ständig verbiegen würde. Demgegenüber steht das Konzept vom Menschen als einem selbstsüchtigen Wesen, das jederzeit zu verblüffender Gemeinheit in der Lage ist und sich nur dann zusammenreißt, wenn Strafe droht.

In der Philosophiegeschichte wurden die beiden Sichtweisen exemplarisch durch den französischen Theaterautor Jean-Jacques Rousseau vertreten, auf den die Idee von der Unschuld des Menschen im Naturzustand zurückgeht – und dem englischen Mathematiker Thomas Hobbes, dessen Weltsicht in dem einprägsamen Satz zusammengefasst ist, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei.

Dass Rousseau ein schlechter Vertreter der Auffassung von der prinzipiellen Gutherzigkeit des Menschen war, hat der Anziehungskraft seiner Idee keinen Abbruch getan (um seine intellektuelle Arbeit frei von Störungen zu halten, ließ der Autor seine fünf Kinder allesamt ins Findelhaus bringen, wo sie nacheinander elendig zugrunde gingen). Bis heute ist der Franzose dennoch populärer als sein düsterer Gegenspieler von der Insel.

Wie wir auf den Menschen sehen, hat für die politische Planung erhebliche Auswirkungen. Alle sozialistischen Utopien beruhen auf der Annahme, dass Menschen sich am wohlsten fühlten, wenn alle gleich viel besäßen und es daher keinen Grund für Neid, Gier oder Gewalt mehr gäbe, hätte man endlich diesen Idealzustand wieder hergestellt. Auch der Sozialismus kennt Fehlverhalten, klar, aber das ist ein Übergangsphänomen, das sich leicht durch Umerziehung oder Liquidierung in den Griff bekommen lässt. Wenn erst einmal das eine Prozent der Reichen erschossen ist, fügt sich alles Weitere wie von selbst. Den Rest erledigen Steuern.

Menschen sind durchaus zu kooperativem Verhalten in der Lage. Sie können sogar erstaunlich selbstlos und großherzig sein. Aus Italien wird von Nachbarschaftsinitiativen berichtet, die sich in rührender Weise um die Alten und Kranken kümmern, die nicht mehr das Haus verlassen können. Man sollte sich nur nicht zu sehr auf den Großmut verlassen.

Kann man sich selbst trauen? Ein Gang durch den Supermarkt zeigt, dass die Frage nicht so leicht zu beantworten ist. Obwohl jeder weiß, dass es vernünftiger wäre, wenn alle es beim normalen Wocheneinkauf beließen, denken manche Leute, sie sollten auf Nummer sicher gehen. Die Unvernunft der einen hat die Unvernunft der anderen zur Folge. Es braucht einen starken Charakter (oder viel Gottvertrauen), um dem Impuls zu widerstehen, sich den Wagen mit Nudeln vollzuladen, wenn man sieht, dass die Barilla zur Neige gehen.

Es gibt die Theorie, dass die Religion in dem Moment entstand, als sich der Mensch aus der Kleingruppe emanzipierte und im Zuge der Sesshaftwerdung zu größeren Verbänden zusammenschloss. Mit der Entwicklung komplexer Gesellschaften steigt die Gefahr der Trittbrettfahrerei. Die Erfindung eines Gottes, dem nichts entgeht, wäre so gesehen die Antwort auf die gelockerte Sozialkontrolle. „Beobachtete Leute sind nette Leute“, schreibt der führende Vertreter dieses Ansatzes, der Psychologe Ara Norenzayan.

In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hat ein Psychotherapeut angeregt, die Angst zu bekämpfen, indem man den Egoismus überwinde. Wer die Atemmasken, die er gehortet habe, in der nächsten Hausarztpraxis oder Klinik abgebe, sollte sozial belohnt werden. Das wäre der Rousseau’sche Weg, wenn man so will.

Erfolg versprechender scheint mir sein Rat, den Humor zu bewahren. Lachen ist nicht nur ansteckend, es ist offenbar auch gesund. Wer viel lacht, sorgt für eine bessere Durchblutung des lymphatischen Rachenringes, also des Immunsystems im Mundraum, wo viele Erkältungserreger ankommen. Außerdem schafft es Abstand zu sich selbst und stärkt so das Gemeinschaftsgefühl, sagt der Therapeut: „Wenn wir aber das Gefühl haben, Teil von etwas Größerem zu sein, dann sind wir viel stärker und mutiger.“ Das wäre dann die Kreuzung von Rousseau und Woody Allen.

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