Die Linke hat immer auf den Staat gesetzt. Jetzt erleben wir in einem grausamen Echtzeitexperiment, was von den Versprechungen zu halten ist, man müsse den Staat nur gewähren lassen, dann wäre für Sicherheit und Wohlstand gesorgt
Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise veröffentlichte der für seine konservativen Ansichten bekannte Autor Charles Moore im „Daily Telegraph“ einen Kommentar, der in der Frage mündete, ob man im bürgerlichen Lager mit dem Vertrauen in den Markt richtiggelegen habe. „Es hat mehr als dreißig Jahre gedauert, bis ich mir als Journalist diese Frage stelle“, schrieb er, „aber in dieser Woche spüre ich, dass ich sie stellen muss: Hat die Linke nicht am Ende recht?“ Es ist wieder an der Zeit, Glaubenssätze zu überprüfen.
Erneut zeigt sich, dass die eben noch verworfenen Argumente zutreffend sein könnten, nur dieses Mal die der Liberalen, die immer schon dem Staat misstrauten. Wenn Politik und Regierung beim Schutz der Bürger versagen, müsste man dann nicht über legen, der Übertragung von immer mehr Machtbefugnissen entgegenzutreten, wäre heute zu fragen.
Ein Jahrzehnt des ausufernden Staatsglaubens kommt in der Pandemie an sein krachendes Ende. Wir erleben in einem grausamen Echtzeitexperiment, was von den Versprechungen der staatlichen Repräsentanten zu halten ist, man müsse sie nur gewähren lassen, dann wäre für Sicherheit und Wohlstand gesorgt.
In Wahrheit verhält es sich genau umgekehrt: Je mehr der einzelne Bürger auf staatlichen Schutz angewiesen ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er das Jahresende nicht lebend erreicht. Das ist keine polemische Zuspitzung, das ist die Beschreibung der Lage.
Das Mortalitätsrisiko in Relation zur Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge lässt sich sogar ziemlich präzise fassen. Man muss nur die täglichen Sterbetafeln aus den Altenheimen zur Hand nehmen. Wer in einer Betreuungseinrichtung lebt, weil er sich nicht mehr selbst versorgen kann, hat ein xmal so hohes Risiko, an Corona zu erkranken, wie sein rüstiger Altersgenosse, der keine Hilfe benötigt.
Zur Gesundheitskrise kommt jetzt die Vertrauenskrise. Letztere wird uns noch begleiten, wenn wir die Kontrolle über unser Leben längst zurückerlangt haben. Man macht sich sicherlich keiner Übertreibung schuldig, wenn man voraussagt, dass diese Krise das Land nachhaltiger erschüttern wird als der Kampf gegen das Virus.
Dass es der Staat sei, auf den man am besten seine Hoffnungen richte, dieser Glaube ist in der Psyche der Nation tief verankert. Daran haben auch zwei Weltkriege nichts ändern können. Es hätte aus meiner Sicht nahegelegen, aus der Geschichte die Lehre zu ziehen, sich etwas mehr Staatsskepsis zu erlauben – schließlich war das Problem der Deutschen noch nie ein Zuviel an Individualismus und Eigensinn. Aber so kann der Deutsche nicht denken.
Es fällt uns ungemein schwer, vom Staatsglauben Abschied zu nehmen. Noch immer sagt die Mehrheit, dass sie die Maßnahmen der Politik für richtig hält. Man kennt das Phänomen aus toxischen Beziehungen: Auch wenn das Opfer weiß, wie ungesund die Beziehung ist, in der es feststeckt, kann es sich aus ihr nur schwer befreien. Lieber leugnet es die Situation oder redet sich ein, dass sich die Dinge mit der Zeit schon bessern werden. Wird es auf sein Unglück angesprochen, gibt es sich selbst die Schuld: Es war zu nachlässig oder zu selbstsüchtig.
Ist es nicht genau das, was wir hören? Dass wir uns zu viele Nachlässigkeiten gestattet haben? Dass wir das in uns gesetzte Vertrauen enttäuscht haben, weshalb man nun zu härteren Maßnahmen greifen muss? So steht es auch in den Kommentaren, in denen der Kurs der Regierung als alternativlos bezeichnet wird. Die Paartherapie würde von „Enablern“ sprechen. Gemeint sind Menschen, die durch Beschwichtigungen oder Entschuldigungen das Beziehungsdrama verlängern.
Es gibt Krisen, gegen die man sich nicht wappnen kann. Sie lassen sich nur stoisch ertragen. Aber solch eine Krise ist die Pandemie nicht, und so demütig ist die Politik auch nie aufgetreten. Im Gegenteil. Das Versprechen der Regierung war, alles in ihrer Macht Stehende zutun, um Leben zu schützen. Daraus bezieht sie bis heute die Legitimation, grundlegende Freiheitsrechte zu suspendieren.
Man muss hier nicht noch einmal aufzählen, was alles versäumt wurde, angefangen von der Aufrüstung der Gesundheitsämter, die noch immer nicht in der Lage sind, Gesunde von Infizierten zu trennen. Wenn aber die Politik ihre Zusagen nicht einhält, warum sollten ihr die Bürger dann weiter folgen?
Die Regierenden ziehen aus dem eigenen Unvermögen den Schluss, dass man ihnen jetzt erst recht gehorchen müsse. Kein Wort der Einsicht oder der Entschuldigung. Nur Durchhalteparolen sowie neue Anweisungen und Zumutungen. Gerade weil der Staat versagt hat, soll der Bürger auf ihn bauen. Man muss sich nur für einen Moment ausmalen, auch die Verantwortung für die Impfstoffentwicklung hätte im Kanzleramt oder im Palais Berlaymont in Brüssel gelegen. Glaubt irgendjemand ernsthaft, wir wären dann jemals über die erste Testphase hinausgekommen?
Die Kanzlerin hat vor der Bundespressekonferenz erklärt, sie könne die Klagen über den schleppenden Impfstart nicht nachvollziehen. Sie habe mit den Gründern von Biontech, Ugur Sahin und Özlem Türeci, telefoniert, um sich ein Bild über den Stand der Forschung zu verschaffen. Die beiden würden Großartiges leisten, jede Kritik sei deshalb deplatziert.
Dass es die Kanzlerin für nötig hält, sich hinter dem Erfolg zweier Entrepeneure zu verstecken, ist noch niederschmetternder, als es jedes Eigenlob hätte sein können. Niemand hat Ugur Sahin und Özlem Türeci unterstellt, sie würden nicht hart genug arbeiten. Alle sind glücklich über das deutsche „Impfwunder“. Die meisten Menschen hätten sich nur gewünscht, dem privaten Impfwunder wäre nicht ein staatliches Impfdesaster gefolgt. Hätten Angela Merkel und Jens Spahn so umsichtig agiert wie die Biontech- Gründer, ständen wir heute nicht vor dem dritten und vierten Lockdown.
Wer sich einmal daran gewöhnt hat, die Freiheitsrechte der Bürger zu beschneiden, kann nicht einfach davon ablassen. Am Mittwoch haben die Regierenden den Lockdown verlängert. In einem nächsten Schritt wird es da rum gehen, auch den finanziellen Bewegungsraum zu beschränken.
Spätestens nach der Bundestagswahl im Herbst wird man die Leute für die Fehler, die man in Berlin gemacht hat, zur Kasse bitten. Dass die Verfügung über das eigene Einkommen ebenfalls ein essenzielles Freiheitsrecht darstellt, das ist ein Gedanke, der inzwischen nicht nur Vertretern der Linkspartei gänzlich abhandengekommen ist.
Dem Zusammenbruch der Finanzmärkte ging ein Zusammenbruch der Begriffe voraus. Eigenverantwortung, unternehmerisches Risiko, das freie Spiel von Angebot und Nachfrage – alles, was die ökonomische Ordnung ausgemacht zu haben schien, erwies sich als Farce, als die Banken für ihr kolossales Versagen nicht bestraft, sondern mit Steuergeldern gerettet wurden. Wir erleben jetzt wieder eine Umwertung der Werte. Diesmal sind es Begriffe wie Demokratie, Grundrechte, Freiheit, die nicht das bedeuten, was sie zu bedeuten scheinen.
Der Journalist Claudius Seidl hat dieser Tage daran erinnert, dass die Hedgefonds- Leute, die die Finanzkrise kommen sahen und deshalb gegen die Wall Street wetteten, vom Zynismus der Finanzökonomie desillusionierte Konservative waren: Männer wie Steve Eisman und Michael Burry, die Ronald Reagan gewählt und für die Republikaner gespendet hatten und deren Ansichten immer sozialistischer wurden, je tiefer sie in die Finanzwelt eintauchten.
Eisman und Burry haben mit ihren Wetten gegen die Wall Street Millionen verdient, weil sie als Erste sahen, was kommen würde. Auch die neue Vertrauenskrise wird ihre Profiteure haben. Wir kennen ihre Namen nur noch nicht.