Ein Freund von mir saß in der DDR zweieinhalb Jahre im Gefängnis. Er war beim Versuch, das Land über die tschechische Grenze zu verlassen, verhaftet worden. Ein Bekannter hatte ihn bei der Stasi verpfiffen. Er war 17 Jahre alt, als sie ihm den Prozess machten.
Wer als Jugendlicher mit Totschlägern, Raubmördern und Gewohnheitskriminellen im Knast sitzt, entwickelt bestimmte Überlebenstechniken. Sobald sich die Zellentür öffnete, um einen Neuzugang einzulassen, musste blitzschnell entschieden werden, ob es sich bei dem Neuen um einen Spitzel handelte oder jemanden, dem man vertrauen konnte. Diese Technik der Menschenbeurteilung hat mein Freund bis heute nicht abgelegt: Wenn ihm jemand vorgestellt wird, fragt er sich unwillkürlich, wie sich derjenige in einer Umgebung verhalten würde, in der die Gesetze der bürgerlichen Welt suspendiert sind.
Die Kolumne von Jan Fleischhauer finden Sie jeden Samstag im FOCUS Magazin
Wenn ich zum Beispiel Herrn Kalbitz sehe, den Vorsitzenden der AfD in Brandenburg, habe ich eine ungefähre Vorstellung, wie sich dieser Mann an einem anderen Ort unter anderen Umständen verhalten würde. Ich weiß, das ist hochgradig ungerecht. Möglicherweise ist Herr Kalbitz ein herzensguter Mensch, der jede Spinne über die Schwelle trägt, damit sie keinen Schaden nimmt. Aber ich kann mir nicht helfen: Ich würde ihm aus dem Weg gehen, wenn wir zusammen eingesperrt wären.
Viele Debatten um die AfD tragen komische Züge
Es gibt derzeit eine rege Diskussion, ob die AfD eine bürgerliche Partei sei. Die AfD würde gerne so wahrgenommen werden – ihre Gegner auf der Linken schreiben lange Abhandlungen, warum schon die Idee absurd sei. Wie viele Debatten, die um die AfD kreisen, trägt auch diese komische Züge. Dass jetzt ausgerechnet Leute, die eben noch alles daransetzten, möglichst unangepasst zu erscheinen, die Definitionsmacht über das Bürgerliche reklamieren, bringt mich zum Schmunzeln.
Das Problem der AfD ist aus meiner Sicht, dass sie zu viele Politiker in ihren Reihen hat, die eine Mehrheit der Deutschen als seltsam empfindet. Einer wie Björn Höcke mag in der Partei eine große Nummer sein, die meisten Wähler verfolgen seine Auftritte mit einer Mischung aus Faszination und Befremden.
Manche Menschen verbringen ihr Leben damit, Elvis nachzueifern. Sie schmeißen sich in Glitzerklamotten, toupieren das Haupthaar zur Tolle und schmettern die großen Hits. Höcke hat sich für die Goebbels-Imitation entschieden. Das ist angesichts der historischen Umstände eine mutige Wahl. Als Elvis-Imitator hätte Höcke es deutlich leichter im Leben, insofern gebührt ihm Respekt, wie ich finde.
Ich halte die Leute der AfD nicht für gefährlich, ich halte sie für skurril. Wer ständig so redet, als er ob zu viel Leni Riefenstahl geguckt hätte, der wird es in Deutschland nicht zum Ministerpräsidenten bringen, allen Erlösungsfantasien zum Trotz. Das heißt nicht, dass ich das Rohheitspotenzial übersehen würde, das in dieser Partei auch steckt. Ich glaube nur nicht, dass man es in Deutschland damit ganz nach oben schafft. Wenn sogar ein beträchtlicher Teil der AfD-Wähler der Meinung ist, dass man die Vertreter dieser Partei nicht in die Nähe eines Regierungsamts lassen sollte, sagt uns das etwas über die realen Machtchancen.
Am normalsten ist noch Parteichef Jörg Meuthen. Aber der darf ja nicht einmal mehr als Delegierter zum nächsten Bundesparteitag fahren, weil sie in seinem Kreisverband finden, dass er zu lasch sei. Ein echter Professor hat es in der AfD derzeit schwerer als ein falscher Goebbels.
Die Wahlen in Brandenburg und Sachsen gelten als Zeichen, dass es mit der Partei unaufhaltsam vorangeht. Was Leute wie Kalbitz als „Sensationsergebnis“ feiern, ist für die Gegenseite ein Menetekel, wie nahe wir angeblich wieder dem Faschismus sind. Tatsächlich spricht sehr viel mehr für die Annahme, dass die AfD ihren Zenit überschritten hat, als für die These, dass dieser noch vor ihr liegt.
Der Wahlforscher Manfred Güllner hat verdienstvollerweise darauf hingewiesen, dass die AfD in beiden Bundesländern im Vergleich mit der Bundestagswahl 2017 nicht mehr, sondern weniger Wähler überzeugen konnte. In Brandenburg haben 14,2 Prozent der Wahlberechtigten für die AfD gestimmt, zwei Jahre zuvor waren es noch 14,7 Prozent gewesen. Das ist ein Schwund von 3,4 Prozent. In Sachsen betrug der Verlust sogar zehn Prozent (AfD-Ergebnis bei der Bundestagswahl 2017: 20,1 Prozent, AfD-Ergebnis bei der Landtagswahl 2019: 18,1). Die vergleichsweise geringe Wahlbeteiligung lässt Parteien größer aussehen, als sie in Wahrheit sind, eine Verzerrung, von der auch CDUund SPDregelmäßig profitieren.
Ein Gutteil ihres Nimbus verdankt die AfD den Leuten, die sie bekämpfen. Jede Großmäuligkeit wird umgehend für bare Münze genommen, anstatt sie als das zu sehen, was sie ist, nämlich die Angeberei von Leuten, die auf jeden Fall rhetorisch über ihre Verhältnisse leben.
Das ist wie in einer unglücklichen Sadomaso-Beziehung
Wenn ein AfD-Hintersasse herumposaunt, dass man mit dem Wahlergebnis in Brandenburg ein Drittel des Weges gegangen sei, gilt das der Gegenseite als Beweis für den totalitären Anspruch der Partei. So nährt die Aufregung den Größenwahn und der Größenwahn wiederum die Aufregung. Das ist wie in einer unglücklichen Sadomaso-Beziehung, in der sich die Akteure auf verquere Weise gegenseitig stützen.
Der „Spiegel“ hat in einem Leitartikel dazu aufgerufen, die AfD als Feind zu sehen und entsprechend zu bekämpfen. Es ist nicht ganz klar, ob das die Kollegen aus dem „Spiegel“ einschließt. Aber ich denke, so ist es gemeint. Wer mit einem AfD-Politiker spricht, tut als Journalist gut daran, sich vor jeder Frage dreimal öffentlich zu bekreuzigen. Wer auf diese Übung verzichtet, gilt als Sympathisant, wenn nicht gar als heimlicher Parteigänger.
Gefährlichste Waffe im Meinungskampf ist nicht Beschimpfung, sondern Spott
Viele Journalisten glauben, der AfD so maximal zu schaden. Sie fühlen sich dadurch bestätigt, dass die Parteiführer den Umgang mit ihnen als unfair beklagen. In Wahrheit sonnen sich Leute wie Höcke und Kalbitz in der Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wird. Es ist tausendmal besser, man ist berüchtigt und gefürchtet als ignoriert und verspottet.
Die gefährlichste Waffe im Meinungskampf ist nicht die Beschimpfung, sondern der Spott. Lange wusste das niemand besser als die Linke. Es gehört zu ihren tragischen Alterserscheinungen, dass ihr dieses Wissen abhandengekommen ist.
3 Kommentare