Kategorie: 2020

Kann uns nur noch die Kernenergie retten?

Die Strahlenangst gehört zur deutschen Identität. So wie die Liebe zum Auto. Leider gibt es nach Lage der Dinge nur eine Energiequelle, die verlässlich ist und gleichzeitig klimaneutral, und das ist die Atomenergie

Bei einem Besuch in London habe ich vor einigen Jahren ein Buch mit dem schönen Titel „Strange Days Indeed: The Golden Age of Paranoia“ erstanden. Der Autor Francis Wheen beschreibt darin die seltsam fiebrige Stimmungslage Mitte der siebziger Jahre, als die eine Hälfte im Westen den Untergang der Zivilisation wegen der Hippie-Kultur für unausweichlich hielt und die andere Hälfte die Menschheit den Atomtod sterben sah. Auf dem Rückumschlag ist ein Mann abgebildet, der an einem Strand an lauter Badenden mit einem Schild vorbeiläuft, auf dem „The End Is Near“ steht.

Die Untergangsangst ist zurück. Selbst kluge Köpfe sind von der Überzeugung befallen, dass das Ende der Menschheit kurz bevorstehe, diesmal nicht wegen der Atom-, sondern wegen der Klimakatastrophe. Sie könne weinen, wenn sie daran denke, wie gering die Chancen ihrer Tochter seien, anno 2076 60 Jahre alt zu werden, schrieb neulich Marina Weisband, eine durchaus nachdenkliche Frau, die sich nach ihrem Ausscheiden bei den Piraten als Digitalexpertin einen Namen gemacht hat.

Lassen Sie uns nicht darüber diskutieren, wie berechtigt oder unberechtigt Ängste sind. Ich selbst halte es für extrem unwahrscheinlich, dass die menschliche Rasse ab dem Jahr 2076 nicht mehr existieren wird. Menschen neigen nun einmal zu Zwangsvorstellungen. Eine Freundin von mir kann über keine Brücke fahren. Sie ist von der Angst geplagt, dass die Brücke in dem Moment, in dem sie darüberfahren würde, einstürzen könnte, deshalb nimmt sie bei Reisen entsprechende Umwege in Kauf. Es ist völlig sinnlos, sie auf die Unwahrscheinlichkeit des von ihr befürchteten Ereignisses hinzuweisen.

Nehmen wir also an, wir alle seien dem Hitzetod geweiht. Wäre es dann nicht an der Zeit, über die einzige Maßnahme nachzudenken, die geeignet ist, das Schicksal abzuwenden? Nach Lage der Dinge gibt es nur eine Energiequelle, die verlässlich ist und gleichzeitig klimaneutral, und das ist die Atomenergie. Was die CO2-Bilanz angeht, ist die Kernkraft sogar der Solarenergie überlegen. Nur Windenergie und Wasserkraft können klimapolitisch mithalten.

Wo ich mit den Apokalyptikern übereinstimme, ist der Pessimismus, die Erderwärmung ließe sich durch Selbstdisziplin begrenzen. Ich glaube, Leute wie Marina Weisband haben zu 100 Prozent Recht, wenn sie der Politik die Fähigkeit absprechen, das Ruder noch rechtzeitig herumzureißen. Bis wir so weit sind, dass wir den Laden mit Sonne und Wind am Laufen halten, sind die Eisberge längst geschmolzen.

Ich kenne alle Argumente gegen die Nutzung der Kernenergie. Die Frage der Müllentsorgung ist nicht hinreichend geklärt. Es gab in der Vergangenheit mehrere schwere Unfälle. Aber wenn ich davon ausgehe, dass nur wenige Monate bleiben, um zu verhindern, dass die Erde unbewohnbar wird, ist es dann nicht klüger, auf eine Technologie zu setzen, bei der nur ein theoretisches Risiko besteht, dass sie uns im Stich lässt?

Bislang hieß es: Ja, sicher, dass sich Tschernobyl oder Fukushima wiederholen, ist extrem unwahrscheinlich – aber ein Atomunfall reicht, um einen ganzen Landstrich zu verwüsten. Dieses Argument hat sich erledigt. Wenn wir weitermachen wie bisher, so sagen uns die CO2-Experten, dann ist nicht nur ein Landstrich verwüstet, sondern der ganze Globus.

Auch an der Kernkraft ist der Fortschritt nicht vorbeigegangen, das kommt hinzu. Die neuen Meiler haben mit den alten AKWs, von denen bei uns die letzten 2022 außer Betrieb gehen, kaum etwas gemein. Moderne Reaktoren, die auf flüssiges Natrium als Kühlmittel setzen, wären in der Lage, aus abgebrannten Brennelementen Energie zu gewinnen, was auch den Blick auf das Problem mit dem Atommüll schlagartig ändert.

Tatsächlich kommt eine ganze Reihe von Experten zu dem Schluss, dass nur eine Renaissance der Atomenergie uns vor einem globalen Anstieg der Temperaturen bewahren kann. Selbst Greta Thunberg hat in einem unbedachten Moment zu erkennen gegeben, dass sie in der Kernkraft einen positiven Beitrag sieht. „Atomkraft kann laut Weltklimarat IPCC ein kleiner Teil einer großen neuen, kohlenstofffreien Energielösung sein“, postete sie auf Facebook. Sie hat das dann mit Rücksicht auf die Befindlichkeit der „Fridays for Future“-Aktivisten relativiert, indem sie ein paar Tage später hinzusetzte, sie persönlich sei natürlich gegen die Kernkraft. Aber das war eher ein taktisches Manöver.

Es ist mitnichten so, dass die Kernenergie tot ist. Sie spielt nur in Deutschland keine Rolle mehr. Schon ein paar Kilometer jenseits der deutschen Grenze, in Frankreich, stehen die ersten von insgesamt 58 Reaktorblöcken, von deren Stromerzeugung wir übrigens unmittelbar abhängen, wenn bei uns der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Auf der anderen Seite, in Tschechien, verrichten insgesamt sechs Atommeiler ihren Dienst, ohne dass jemand daran denkt, sie abzuschalten.

So kann man fortfahren: Schweiz fünf Meiler, Belgien und Spanien je sieben. Selbst das wegen seiner Klimaneutralität gelobte Schweden mag nicht auf die Kernenergie verzichten. In Finnland, das bereits über vier Reaktoren verfügt, wird gerade um einen Neubau gerungen.

Ich habe Angela Merkel vor ein paar Jahren einmal gefragt, was sie dazu bewogen habe, über Nacht die deutsche Energiepolitik umzustoßen. Im Nachhinein ist die Entscheidung, das Land vom Atomstrom abzukoppeln, möglicherweise der schwerwiegendste Fehler ihrer Regierungszeit.

Auch sie habe es mit der Angst zu tun bekommen, als sie die Bilder aus Fukushima gesehen habe, gab die Kanzlerin als Antwort. Das fand ich für eine Frau, der man nachsagt, kühl kalkulierend auf die Welt zu sehen, eine bemerkenswerte Aussage. Es wurde dann im weiteren Verlauf der Diskussion noch etwas hitzig, weil ich erwiderte, dass ich nicht gedacht hätte, dass eine CDU-Kanzlerin einmal wie Claudia Roth reden würde.

Vielleicht hat Angela Merkel mit ihrer Entscheidung auch einfach der deutschen Gemütslage Rechnung getragen. Die Wahrheit ist ja, dass von den Unionsanhängern unter dem Eindruck von Fukushima ebenfalls eine Mehrheit für die Sofortabschaltung aller hiesigen Kernkraftwerke war. Es ist in Japan kein Anwohner wegen Strahlen gestorben, die Toten waren alle Opfer des Tsunamis. Aber was zählen schon Zahlen, wenn das Gefühl regiert?

Die Strahlenangst gehört zur deutschen Identität. So wie die Liebe zum Auto, der Widerwille gegen das Tempolimit und die besondere Wertschätzung von schön dicht schließenden Fenstern. Man kann das auch politisch einordnen. Je weiter jemand nach links tendiert, desto größer seine Strahlenangst, weshalb schon die Anschaffung einer Mikrowelle in jedem sozialdemokratischen Haushalt eine große Sache war, wie ich aus eigenem Erleben weiß.

Vielleicht sollten wir die Klimakrise nutzen, an uns selbst zu arbeiten. Manchmal führt eine Krise ja dazu, dass man über sich selbst hinauswächst. Das gilt auch für Nationen.

Das Ende der Biologie

Wie viele Geschlechter gibt es? Sind es drei, fünf oder sogar 60? In jedem Fall haben Mann und Frau als Kategorien ausgedient. Wer heute noch an die Biologie glaubt, ist ein Hinterweltler, Düber den man nur den Kopf schütteln kann 

Die Kinderbuchautorin Joanne K. Rowling hat sich zu Fragen der Biologie geäußert. Rowling ist Mutter dreier Kinder, außerdem die Erfinderin der Harry-Potter-Welt. Dass sie drei Kinder großgezogen hat, erwähne ich, weil niemand, der Kinder hat, an den Grundfragen des Lebens vorbeikommt, wie erfolgreich er oder sie auch sein mag. Rowling hat geschrieben, dass sie nach wie vor davon ausgehe, dass es Männer und Frauen gebe und dass für sie das biologische Geschlecht nichts Erfundenes sei, sondern real.

Ich wurde darauf aufmerksam, weil sich augenblicklich ein Sturm der Entrüstung erhob. Wer wie die britische Autorin behaupte, dass es nur zwei Geschlechter gebe, werte Transmenschen ab, hieß es. Ihre Äußerung sei diskriminierend und perfide. Es folgte der Aufruf zum Boykott ihrer Bücher.

Frau Rowling wird den Aufruf, ihre Bücher zu meiden, verschmerzen können. Ich finde den Fall bemerkenswert, weil er zeigt, wie selbstverständlich in einem Teil der akademischen Linken die Vorstellung geworden ist, die Unterscheidung in Mann und Frau sei eine rückständige, um nicht zu sagen repressive Idee, die kein aufgeklärter Mensch mehr vertreten könne.

Die Frage, ob es mehr als Mann und Frau gibt, beschäftigt die akademische Öffentlichkeit schon seit Längerem. Der Theorie zufolge, die Einzug in die Seminarräume gehalten hat, ist Geschlecht nichts, was man vorfindet, so wie Gene oder Hormone, sondern Definitionssache und damit eine Frage der gesellschaftlichen Übereinkunft. Wie viele Geschlechter es gibt – ob es drei sind, fünf oder wie bei Facebook 60 –, das ist Teil der akademischen Debatte. Aber dass die sogenannte binäre Ordnung der Vergangenheit angehöre, darüber besteht Einigkeit.

Man darf sich nicht täuschen: Nur weil etwas absonderlich wirkt, heißt das nicht, dass es nicht Wirkung entfalten kann. Tatsächlich hat kaum eine Disziplin eine solche Karriere hingelegt wie die Gender-Wissenschaften, wobei man von Wissenschaften im engeren Sinne eigentlich nicht sprechen kann. Keine der vorgetragenen Thesen hält einer Überprüfung durch die Biologie oder die Neurowissenschaften stand.

Im Grunde funktionieren die „Gender Studies“ wie Homöopathie. Es existiert eine Reihe von Hypothesen und Annahmen, die nicht durch das Prinzip von Bestätigung oder Falsifikation, sondern allein durch Wiederholung Wahrheitskraft erlangen. Dennoch gibt es inzwischen in Deutschland über 150 Lehrstühle.

Wie bei allen Theorien, die lange genug im Umlauf sind, verselbstständigt sich die Sache irgendwann. Aus Lübeck erreicht uns zum Jahreswechsel die Nachricht, dass die Stadtverwaltung einen Leitfaden zur „gendersensiblen Sprache“ verfasst hat, damit sich alle Bürger angesprochen fühlen, auch jene, „die sich nicht als Frau oder Mann beschreiben“. Bevor Mitarbeiter der Stadt in näheren Kontakt mit einem Lübecker treten, sollen sie zuerst ermitteln, welches Geschlecht der oder diejenige bevorzugt. Die Empfehlung zur Ansprache lautet: „Guten Tag Name Vorname, wie darf ich Sie in Zukunft ansprechen?“

Selbst in bayerischen Gemeinden wird inzwischen überlegt, ob man in Grundschulen nicht Toiletten für das dritte Geschlecht einführen sollte, also für Kinder, die angeblich nicht genau sagen können, ob sie nun Jungen oder Mädchen sind oder das nicht sagen wollen.

Wenn ich im Gemeinderat von Taufkirchen säße, würde ich mir die Frage stellen, ob es ein einziges Kind gibt, das durch den Toilettengang dokumentieren will, dass es grundsätzlich anders ist als alle anderen. Der sicherste Weg, zum Mobbing-Opfer zu werden, besteht doch darin, sich als Außenseiter zu outen. Aber solche Überlegungen spielen keine Rolle, wenn es darum geht, sich als aufgeschlossen und aufgeklärt zu beweisen. Vermutlich kämen die Gemeindemitglieder arg ins Schwimmen, wenn sie sagen sollten, was genau sie unter dem drittem Geschlecht verstehen. Sind Intersexuelle gemeint, also Menschen, die beide Geschlechtsmerkmale besitzen und deshalb wirklich nicht sagen können, ob sie Mädchen oder Junge beziehungsweise Frau oder Mann sind? Die Zahl ist allerdings sehr gering. Der Prozentsatz von Kindern, die als Zwitter geboren werden, liegt deutlich unter 0,1 Prozent.

Oder sind vielmehr Transsexuelle das Ziel der Baumaßnahme? Dann allerdings wäre die Investition in gesonderte Toiletten für die Katz. Der Transsexuelle besteht ja gerade darauf, ein Mann oder eine Frau zu sein, nur unglücklicherweise im falschen Körper beheimatet. Dass die Krankenkasse die Kosten für eine Geschlechtsumwandlung übernimmt, lässt sich nur damit begründen, dass Geschlecht eben keine Frage der Definition, sondern eine der Hormone ist. Wäre es anders, könnte man sich die Kosten für die Behandlung sparen. Dann müsste man dem Transsexuellen lediglich sagen, dass die binäre Ordnung ohnehin passé sei.

Je ausführlicher man sich mit der Materie beschäftigt, desto verwirrender wird es. In Kanada ist eine Gender-Aktivistin vor Gericht gezogen, weil sich die Mitarbeiterinnen mehrerer Schönheitsstudios geweigert hatten, ihr die Hoden zu wachsen. Die Aktivistin machte geltend, die Weigerung stelle eine Diskriminierung als Frau dar. Der Komiker Ricky Gervais hat die Geschichte zum Teil seines Stand-up-Programms gemacht, womit er sich augenblicklich den Vorwurf der Minderheitenfeindlichkeit einhandelte.

Manchmal lohnt es sich, ein wenig Abstand zu gewinnen. Ich bin seit zwei Wochen in Kenia und Tansania unterwegs. Ich kann natürlich nicht genau einschätzen, wie viele Menschen hier der Meinung sind, dass eine Romanautorin verdammt gehört, weil sie nach wie vor an die Biologie glaubt. Meine Vermutung wäre: Es sind weniger als 0,1 Prozent. Die meisten Menschen, die in Afrika leben, wissen noch nicht mal, was ein Gender-Stern ist. Würde man ihnen sagen, dass sich Frau und Mann als Geschlechter überholt haben, würden sie nur den Kopf über den verrückten Weißen schütteln.

In Wahrheit lassen sich die Zentren der neuen Geschlechtertheorie auf einer Weltkarte relativ gut eingrenzen. Es sind die amerikanischen Hochschulen an den beiden Küsten der USA sowie die europäischen Universitätsstädte, wobei Deutschland als Verbreitungsgebiet besonders hervorsticht. Was zu einer interessanten Frage führt: Wenn die Gender-Theorie den Anspruch erhebt, für alle Menschen zu gelten, muss man dann nicht unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass die Bewohner Afrikas besonders rückständig sind?

Vielleicht sollten die Vertreter der „Gender Studies“ mal mit den Kollegen von den „Kolonialismusstudien“ reden. Eine Tür weiter könnte man ihnen sagen, warum die Zeiten, als man im Westen glaubte, dem Rest der Welt überlegen zu sein, eigentlich vorbei sind.