Überall fehlt Personal – in der Gastronomie, im Hotelgewerbe, am Flughafen. Gleichzeitig sind 1,6 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Wie passt das zusammen?
Es gibt zwei Zahlen in Deutschland, die niemand zusammenzubringen scheint. Oder niemand zusammenbringen will. 1,7 Millionen und 1,6 Millionen. Das eine ist die Anzahl der offenen Stellen, für die dringend Arbeitskräfte gesucht werden. Das andere ist die Anzahl der Menschen, die arbeitslos sind und Hartz IV beziehen.
Überall fehlt Personal. In der Gastronomie, im Hotelgewerbe, am Flughafen. Dass Deutschland ein Fachkräfteproblem hat, das kennen wir. Diese Klage ertönt so verlässlich wie zu Sonntag Glockengeläut. Aber wir reden hier nicht von Spezialaufgaben, sondern von einfachen Tätigkeiten, also Jobs, die jeder erledigen kann, der über zwei Hände verfügt.
Um Koffer zu entladen oder Tische abzudecken, braucht es kein Abitur und keine Vorkenntnisse. Man muss noch nicht einmal die deutsche Sprache beherrschen. Alles, was man benötigt, ist ein gesundes Kreuz und den Willen, sich nützlich zu machen.
Aber die Leute sind verschwunden. Am Flughafen stapelt sich das Gepäck, weil niemand die Koffer aufs Band wuchtet. Das Restaurant in Dresden hat nur noch drei Tage die Woche geöffnet. Personalmangel, sagt der Wirt entschuldigend. Er finde einfach niemanden, der die Teller abträgt. „Bewirb dich bei uns“, steht auf dem DHL-Transporter. Es klingt fast flehentlich.
„Wo sind die nur alle hin?“, fragte der „Spiegel“ die Woche auf seinem Titel. Es ist ein Rätsel. Hunderttausende fehlen, und niemand kann sich so richtig erklären, wo sie geblieben sind. Wenn nur die körperlich anstrengenden Arbeitsstellen leer blieben, um die sich schon früher keiner riss, das würde man verstehen. Aber auch an der Tankstelle oder beim Bäcker suchen sie händeringend nach Leuten, die mithelfen.
Ein noch größeres Rätsel ist, dass niemand eins und eins zusammenzählt und einen Blick auf diejenigen wirft, die nicht arbeiten gehen, obwohl sie arbeiten könnten. 1,6 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter beziehen Hartz IV, dazu kommen die Familienangehörigen. Und nicht alle sind IT-Spezialisten oder Post-Docs, für die es gerade keine Anschlussverwendung gibt.
Wie muss man sich den typischen Hartz-IV-Bezieher vorstellen? Ein Vorschlag: alleinerziehende Mutter, studierte Medizinerin mit zwanzig Jahren Berufserfahrung, der es den Boden unter den Füßen wegzog, als der Mann sie verließ. Jetzt steht sie an der Tafel, um frisches Obst für die Kinder zu ergattern. Dafür bringt der achtjährige Sohn in Mathematik eine „eins mit Sternchen“ nach Hause. So steht es bei Kathrin Hartmann in „Wir müssen leider draußen bleiben“, einem der Klassiker der Armutsreportage.
Auch in „Die Elenden“ von Anna Mayr, dem aktuellsten Zugang zum Genre der Berichte vom Rand der Gesellschaft, ist es stets eine Verkettung unglücklicher Umstände, die den eben noch mitten im Leben Stehenden straucheln und stürzen lässt. Da ist die Frau, die auf einen Heiratsschwindler hereinfällt. Oder die junge Mutter, die eine Krankheit zu Boden streckt. Oder der Mann, dessen Unternehmen in den Strudel der Pandemie gerät. Selbstverständlich träumen alle von einer Rückkehr in die Arbeitswelt, die sich dann irgendwie nie materialisiert, allen Bewerbungsschreiben zum Trotz.
Das ist die sentimentale Sicht auf die Dauerarbeitslosigkeit. Die andere wäre, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die schon so lange einer geregelten Beschäftigung entwöhnt sind, dass sie gar nicht mehr wissen, was Arbeit ist. Wie immer man dazu steht: Man wüsste gerne, woran man ist. 44 Milliarden Euro geben wir im Jahr für den Hartz-IV-Staat aus. Es ist einer der größten Posten im Haushalt, fast so groß wie der Verteidigungsetat, um den gerade so gerungen wird.
Aber man liest darüber nichts. Acht Seiten umfasst die Titelgeschichte im „Spiegel“ zur neuen Jobkrise. Eindrucksvoll wird dargelegt, welche Schneise der Verwüstung der Personalmangel in der Wirtschaft hinterlässt. Aber nicht an einer Stelle wird erwähnt, dass es Tausende Arbeitslose gibt, die man sofort an den Flughafen schicken könnte, um den Betrieb in Gang zu halten.
Auch die Regierung fahndet lieber in der Türkei nach Arbeitskräften, als darüber nachzudenken, wie man diejenigen wieder in Lohn bringen könnte, die angeblich jeden Tag die Stellenanzeigen durchforsten. Eines der ersten Gesetzesvorhaben der neuen Regierung bestand darin, den Druck auf Arbeitsunwillige zu senken. Bislang musste jemand, der komplett auf stur stellte, mit einem Abzug bei den Hartz-IV-Leistungen rechnen. Damit ist es erst einmal vorbei. Von nun an fließt immer Geld, egal, ob sich einer kooperativ zeigt oder nicht.
Es ist kein Zufall, dass es die Grünen waren, die auf die Erleichterung drängten. Wer das Leben am Rand der Gesellschaft nur aus der Zeitung kennt, neigt zur Verklärung der Verhältnisse. Bei den Sozialdemokraten sieht das schon anders aus. Die SPD hat in ihren Reihen noch immer eine erkleckliche Anzahl von Anhängern, die Tür an Tür mit Leuten wohnen, die sich morgens lieber auf die andere Seite drehen, als den Gang zum Arbeitsplatz anzutreten.
Es war immer ein Missverständnis, dass die sogenannten unteren Lohngruppen besonderes Verständnis für das Leben auf Stütze aufbringen würden. Sozialromantik ist auch eine Klassenfrage. Je weiter man weg ist, desto leichter fällt das Mitleid. Die Lidl-Verkäuferin hat nichts als Verachtung übrig für die Nichtsnutze, die sich im Hartz-IV-Leben eingerichtet haben und sie im Zweifel noch dafür verspotten, dass sie sich durch den Tag quält.
Die Wut über die Hartz-IV-Reformen richtete sich nicht gegen Sanktionen für Schlawiner und Drückeberger. Was für Unverständnis sorgte, war die Entscheidung von Rot-Grün, auch Leuten das Leben schwer zu machen, die jahrelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hatten. Das wurde als zutiefst ungerecht empfunden. Wer sein Leben hart gearbeitet hat, weiß sehr genau, wo die Grenze verläuft zwischen Faulenzern, die nicht arbeiten wollen, und Malochern, die einfach Pech hatten, weil die Werft kollabierte oder irgendwelche Fritzen in der Konzernzentrale das nächste Umstrukturierungsprogramm anwarfen.
In der öffentlichen Befassung mit dem Leben am Rand der Gesellschaft kommt Armut ausschließlich als Finanz-problem vor, weshalb alle Sozialprogramme darauf hinauslaufen, mehr Geld lockerzumachen. Der Praktiker hingegen weiß, dass die Frage, ob man morgens mit den Kindern aufsteht, nicht eine des Geldes ist. Auch die ärmste Kirchenmaus kann sich einen Wecker stellen, damit die Kinder ein Frühstück bekommen haben, bevor sie sich auf den Schulweg machen.
Gibt es unverschuldete Armut? Aber ja. Man muss sich nur bei einer Tafel in die Schlange einreihen, um das zu erkennen. Sollte die Regierung die Not lindern? Ich wäre sofort dafür. Zu den großen Ungerechtigkeiten des Sozialstaats gehört es, dass man sein Leben lang geschuftet haben kann, ohne dass es einen später vor Armut schützt.
Aber nicht jeder, der Hartz IV bezieht, ist ein Opfer der Verhältnisse. Für manche ist es einfach eine Frage der Kalkulation. Wer heute als Vorstand einer vierköpfigen Familie an der Ladenkasse steht oder Umzugskisten schleppt, könnte morgen den Job quittieren, ohne dass er sehr viel schlechter dastände. Auf 2100 Euro netto belaufen sich die Zuwendungen für einen Hartz-IV-Haushalt mit zwei Kindern inklusive Miete. Sind mehr als zwei Kinder im Haus, sind es noch einmal deutlich mehr.
Die Politik kann sich entscheiden, die Leute in Ruhe zu lassen. Wir nehmen auch künftig hin, dass Hunderttausende auf Kosten derer leben, die den Laden am Laufen halten. Womit wir aber aufhören sollten, ist so zu tun, als träumte jeder Hartz-IV-Bezieher von einem Job, der sich aus unerfindlichen Gründen nie einstellt.
Wer angesichts von 1,7 Millionen verwaisten Stellen keinen Arbeitsplatz findet, ist entweder arbeitsunfähig oder arbeitsunwillig. Einen anderen Schluss lässt die Lage nicht zu.
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