Auch die Kanzlerin scheint sich in der Krise zu radikalisieren. Statt möglichst viele Stimmen zu hören, engt sie den Kreis der Berater auf Leute ein, die ihr alle das Gleiche empfehlen: noch härtere Maßnahmen, noch länger
Wovon träumt Viola Priesemann? Träumt sie von singenden Walen oder von elektronischen Schafen? Liest sie Rilke oder mag sie Celan? Interessiert sie sich für Architektur? Weiß sie, wer Igor Levit ist? Ich wüsste gerne, wie sie denkt. Ob sie ein kreativer Mensch ist oder jemand, der nur Zahlen im Kopf hat. Von ihrem Urteil hängt in diesen Tagen viel ab. Wenn sie sagt, dass nach den Restaurants, den Museen und den Geschäften jetzt auch alle Betriebe und Unternehmen schließen müssen, dann spricht viel dafür, dass es so kommt.
Viola Priesemann ist Physikerin. Spezialgebiet: Theorie neuronaler Systeme. Vor Weihnachten wurde sie erstmals einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Da hatte sie ein Papier veröffentlicht, in dem sie dazu riet, die Zahl der Corona- Infektionen auf zehn von 100000 Einwohnern zu drücken, besser noch auf sieben. Im Augenblick liegt die Zahl der Ansteckungen im Schnitt bei 160, in vielen Kreisen deutlich darüber. Man ahnt, welche Anstrengungen es bräuchte, um auf den von Viola Priesemann empfohlenen Wert zu kommen.
Die Physiker haben die Virologen als die Exegeten der Krise abgelöst. Die Virologen erklären, wie sich das Virus verhält. Die Physiker modellieren in ihren Computern den Verlauf der Pandemie. Sie sagen uns, wo wir in zehn, zwanzig oder vierzig Tagen stehen. Von diesen Rechnungen hängt ab, wer sich wie lange außerhalb seiner Wohnung aufhalten darf, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten.
Welche Bedeutung Wissenschaftlern wie Priesemann zukommt, konnte man sehen, als die Entscheidung über die Verlängerung des Lockdowns anstand. Vor der entscheidenden Sitzung hatte die Kanzlerin zu einer Konferenz eingeladen. Christian Drosten war dabei, der Hausvirologe der Regierung; Lothar Wieler vom Robert Koch-Institut; Michael Meyer-Hermann, der Mann mit dem Dutt, der schon immer fand, dass man Deutschland so lange schließen sollte, bis das Virus verschwunden ist. Und die Physikerin vom Max-Planck-Institut aus Göttingen. Die Runde war sich schnell einig: die sozialen Kontakte einschränken, koste es, was es wolle.
Man sollte meinen, dass sich die Kanzlerin breiten Rat einholt. Wenn es eine Lehre aus existenziellen Krisen gibt, dann, dass die Leute an der Spitze gut daran tun, auch abweichende Meinungen anzuhören. Nichts kann verhängnisvoller sein als ein Expertenkreis, in dem man sich zu einig ist. Die Wissenschaft spricht vom Groupthink, das schnell in die Selbstradikalisierung führt. Dazu existiert ebenfalls ausreichend Forschung. Aber Soziologie oder Psychologie zählten noch nie zu Angela Merkels Interessengebieten.
Auch in der Virusbekämpfung gibt es Stimmen, die zu einem besonnenen Vorgehen raten. Der Epidemiologe Klaus Stöhr, der als Direktor des Influenza-Programms der WHO viel Erfahrung mit Grippeverläufen gesammelt hat, gehört dazu. Stöhr kann sehr überzeugend darlegen, weshalb es reines Wunschdenken ist, die Inzidenz im Winter unter 50 drücken zu wollen. Aber solche Experten sind in den Kanzlerrunden nie dabei. Angela Merkel hört den Rat, den sie hören will. Das ist dann auch der Rat, der den Ministerpräsidenten präsentiert wird. So schließt sich der Kreis.
Wir bewegen uns auf eine neue Phase des Lockdowns zu. Die Kanzlerin spricht bereits davon, die Maßnahmen bis Ostern zu verlängern. Dieses Mal wird es die Wirtschaft auch in ihrer ganzen Breite erwischen. Warum sind Schulen und Restaurants zu, ruft der Chor der
Lockdown-Befürworter, aber auf dem Weg zur Arbeit darf man im Bus nebeneinanderstehen? Schluss damit!
Ich finde es erstaunlich, wie wenig kreativ und innovativ sich Deutschland ausgerechnet in seiner größten Belastungsprobe zeigt. Das Einzige, was der Regierung und den von ihr konsultierten Wissenschaftlern einfällt, ist, alles abzuschließen. Das kann, mit Verlaub, jedes Kind. Wir planen Missionen zum Mars und schicken Datenpakete in Lichtgeschwindigkeit um den Globus. Aber wenn es darum geht, das Virus in Schach zu halten, verhalten wir uns so, als lebten wir im Mittelalter.
Wobei, das ist ungerecht – dem Mittelalter gegenüber. Im 14. Jahrhundert hatte man immerhin die Pestmaske.
Wir sind noch nicht einmal in der Lage, ältere Menschen kostenlos mit Mundschutz zu versorgen. Der Wille dazu ist da. Leider gibt es Probleme mit den fälschungssicheren Berechtigungsscheinen.
Niemand in der Regierung weiß eine Antwort, warum der Lockdown nicht die erwünschte Wirkung zeigt. Den vor Weihnachten präsentierten Modellen zufolge sollte die Zahl der Infizierten jetzt bei 50 pro 100000 Einwohnern liegen. Es wird nicht einmal der Versuch unt ernommen, eine Erklärung zu finden. Aus dem Scheitern der Strategie zieht man einfach den Schluss, dass man die Anstrengungen verdoppeln müsse. Das ist Wissenschaft als Schamanismus.
Man sollte die Zahlen so weit senken, bis die Gesundheitsämter wieder jeden Kontakt nachverfolgen könnten, heißt es. Abgesehen davon, dass genau das schon beim ersten Mal nicht wirklich funktioniert hat, wie die Entwicklung im Spätherbst zeigte: Es gibt auch international kein Beispiel, wo ein harter Lockdown dauerhafte Entlastung gebracht hätte. Irland hat es versucht, Frankreich, Spanien. Kaum wurden die Einschränkungen gelockert, zogen die Zahlen wieder an. Nach dem Lockdown ist vor dem Lockdown. Aus dieser Logik gibt es kein Entrinnen, wenn man die Welt der Abschließung einmal betreten hat.
Wir kennen eine Ausnahme, das ist Neuseeland. Neuseeland ist das einzige demokratische Land, in dem eine Lockdown- Strategie erfolgreich war. Der Preis dafür ist allerdings absolute Abschottung nach außen – und „absolut“ heißt in dem Fall absolut. Davon ist selbstverständlich nie die Rede, wenn sich die Lockdown-Experten äußern. Europa ist den Verantwortlichen immer noch etwas heiliger, als es die Covid-Toten sind, die man jeden Tag beschwört.
Warum sink en die Zahlen nicht? Meine Vermutung ist: weil immer weniger Menschen der Kanzlerin folgen. In Umfragen sagen die meisten, dass sie mit den Maßnahmen einverstanden seien. Die ARD hat ihren „Deutschlandtrend“ veröffentlicht, wonach nur 17 Prozent die Corona-Politik der Regierung ablehnen. Es ist natürlich denkbar, dass es diese 17 Prozent sind, die auf dem Rodelberg stehen, bis die Polizei kommt. Es spricht allerdings einiges dafür, dass die Schnittmenge zwischen Lockdown-Befürwortern und Lockdown- Ignoranten größer ist, als viele annehmen.
Menschliches Verhalten lässt sich nicht im Computer modellieren, das ist das Problem der Zahlenmystik. Deshalb lagen die sogenannten Quants schon in der Finanzkrise furchtbar daneben. Es waren vor allem Physiker, die ihre Rechner mit den Daten fütterten, aus denen dann die größten finanziellen Massenvernichtungswaffen der Moderne wurden. Der „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher hat darüber ein ganzes Buch geschrieben. Es hieß „Ego“. Aber auch das hat im Kanzleramt vermutlich nie jemand gelesen.
Wir stehen vor der paradoxen Situation, dass die Mehrheit der Deutschen die Kanzlerin für ihre Krisenpolitik lobt und sich dann im Privaten konträr verhält. Daran wird auch ein schärferer Lockdown nichts ändern. Es sei denn, man stellt neben jeden Rodelschlitten einen Polizisten und ermuntert die Leute, den Nachbarn zu verpfeifen, wenn er mehr als die erlaubte Zahl an Gästen hat.
Der Präsident des Bayerischen Gemeindetages hat vorgeschlagen, Bewegungsprofile aus Handydaten auszulesen, um zu sehen, wer sich nicht an die 15-Kilometer-Regel hält. Er hat dafür gleich Prügel bezogen. Dabei hat der Mann völlig recht: Wer auf eine Inzidenz unter 50 kommen will, braucht den Polizeistaat.
Es ist wahnsinnig schwer, den Rückweg aus dem Lockdown anzutreten, wenn man den Weg einmal eingeschlagen hat. Jede Abweichung vom Kurs wäre das Eingeständnis, dass man sich verrechnet hat. Es wird ein langes, kaltes Frühjahr. Wenn wir aus diesem Albtraum erwachen, wird von dem Deutschland, das wir kennen, weniger übrig sein, als sich die meisten derzeit vorstellen können.