3500 Euro wegen Verbreitung eines Fotos, auf dem Karl Lauterbach mit erhobenem Arm zu sehen ist. 1500 Euro für das ironische Zitat eines Hashtags. Der Kampf gegen Hass im Netz nimmt groteske Formen an
Wie viele Menschen erinnern sich noch an Einzelheiten der Wulff-Affäre? Ich meine nicht das Ehedrama, obwohl auch das eine längere Betrachtung wert wäre. Dreimal einander das Jawort geben und dreimal vor den Scherben seiner Ehe stehen: Das verlangt schon eine besondere Form der Demut.
Und die Umstände der Trennung sind wieder nicht schön. Wie ich lesen musste, ist es dieses Mal ein Bodyguard aus Sylt, mit dem Bettina Wulff in inniger Umarmung gesichtet wurde. Dass mich die zugehörigen Fotos in meiner Meinung über den zweifelhaften Charakter des Inselparadieses bestärken, muss ich Ihnen nicht sagen. Warum konnte es nicht zumindest ein Personenschützer aus Husum oder von der Hallig Hooge sein? Aber nein, natürlich Sylt!
Wenn ich heute an Christian Wulff erinnere, dann meine ich die Vorwürfe, er habe sich als Politiker Vorteile verschafft, die ihm nicht zustanden. Ich bin neulich noch einmal auf die Ermittlungen gestoßen, die ihn das Amt als Bundespräsident kosteten. Im Rückblick ist es atemberaubend, was die Staatsanwaltschaft alles unternommen hat, um den Mann zur Strecke zu bringen. Über 20 000 Seiten umfasste die Ermittlungsakte. Mehr als hundert Zeugen wurden vernommen.
Um was es ging? Am Ende um den Vorwurf, Wulff habe sich bei einem Oktoberfestbesuch im Käfer-Zelt unrechtmäßig einen Entenschlegel zum Mund geführt. Die Ermittler hatten nicht nur die Sitzordnung mittels einer Schautafel minutiös rekonstruiert. Sie hatten sich auch bis auf die letzte Maß einen Überblick verschafft, was es zu essen und zu trinken gab und wie ausgelassen es dabei zuging.
Aber was ist die Macht eines Polizeibeamten gegen die einer deutschenStaatsanwaltschaft?
Wenn Wulff behauptete, er trinke vor allem Obstsaft, sichteten seine Verfolger Tausende von Fotos, um ihm nachzuweisen, dass er sehr wohl hin und wieder dem Alkohol zuneige. Erklärte er, sich aus Haxen nichts zu machen, wurde die Kellnerin ausfindig gemacht, die vier Jahre zuvor Bier und Fleisch aufgetragen hatte.
Wenn wir über Amtsmissbrauch sprechen, haben wir übereifrige Behördenmitarbeiter oder schikanöse Polizisten vor Augen. Aber was ist die Macht eines Polizeibeamten gegen die einer deutschen Staatsanwaltschaft? Wer einmal in deren Fänge gerät, dem gnade Gott. Der braucht sehr viel Geld und sehr gute Anwälte, um nicht zu verzagen.
Eigentlich soll ein Staatsanwalt unparteiisch agieren, so sieht es die Strafprozessordnung vor. Aber damit geben sich immer weniger Vertreter zufrieden. Im Zweifel auch Beweise sichten, die für den Angeklagten sprechen? Wo kommen wir denn da hin! Dann müsste man ja ein wenig leiser auftreten, am Ende sogar bescheiden.
Ich habe den Fall Wulff auch deshalb erwähnt, weil er geradezu mustergültig für eine Politisierung der Justiz steht, die uns besorgen sollte. Der Unterschied zu heute ist: Was damals vor allem die Reichen und Berühmten betraf, kann heute nahezu jeden treffen.
Ich habe vergangene Woche mit dem Anwalt Marcus Pretzell telefoniert. Pretzell vertritt den Rentner Stefan Willi Niehoff aus dem fränkischen Burgpreppach. Das ist der Mann, der im November in aller Herrgottsfrühe Besuch von der Polizei bekam, weil er auf X ein Bild verbreitet hatte, auf dem Robert Habeck als „Schwachkopf“ verhohnepipelt worden war.
Man sollte meinen, dass die Staatsanwaltschaft Bamberg, die Niehoff die Polizei auf den Hals hetzte, etwas behutsamer auftritt, seit der Fall als Beispiel für Exzessjustiz durch alle Medien ging. Aber nein, jetzt erst recht, lautet das Motto. Nun versucht man, den Rentner wegen der „Verwendung von Kennzeichen verfassungsfeindlicher und terroristischer Organisationen“ dranzukriegen, wie es in einem Strafbefehl vom 15. April heißt.
Der Beweis? Unter anderem eine Bildmontage auf X, bei der neben ein Foto der Moderatorin Sarah Bosetti („Der Ungeimpfte ist der Blinddarm, der im strengeren Sinne für das Überleben des Gesamtkomplexes nicht essenziell ist“) ein Bild des KZ-Arztes Fritz Klein gestellt wurde, der Juden als den Blinddarm am Körper Europas bezeichnete.
Vor Kurzem hätte er jemanden, der ihn aufgrund eines Ermittlungsverfahrens wegen Volksverhetzung kontaktierte, gebeten, sich an einen der einschlägig bekannten Szeneanwälte zu wenden, sagt Pretzell. Da sei das fast ausnahmslos ein Delikt rechtsradikaler Aktivisten gewesen. Inzwischen sei es ein Allerweltsvorwurf, der alle naslang vorkomme.
Es ist nicht so, dass es im Netz nicht genug Dinge gäbe, die verfolgungswürdig wären. Ich habe vor Jahren für einen „Spiegel“-Report wochenlang zu den Abgründen recherchiert, die sich bei Facebook auftun. Es ist irre, was einem dort präsentiert wird: Naziverherrlichung, Holocaustleugnung, Vergewaltigungsandrohungen, Aufrufe zur Gewalt – das ganze Programm.
Und die Strafwürdigkeit ist in vielen Fälle auch keine Auslegungsfrage. Wer das Bild von SS-Soldaten postet, die mit dem Maschinengewehr in eine Gruppe von Menschen halten, und dazu schreibt: „Meine Lösung der Flüchtlingsfrage“, benötigt keinen Übersetzer. Angeblich ist die Löschpraxis bei Facebook zwischenzeitlich strenger geworden. Aber nach wie vor findet man dort allen möglichen Wahnsinn, ohne dass es Konsequenzen hätte.
Weshalb lassen die mit dem Kampf gegen Hass und Hetze betrauten Staatsanwälte das laufen? Es gibt nur eine plausible Erklärung: Es ist ihnen zu anstrengend und zu kompliziert, sich mit Facebook anzulegen. Dann müssten sie ja gegen einen Milliardenkonzern vorgehen, der seinen Sitz praktischerweise in Irland hat, was Schriftverkehr in englischer Sprache erforderlich macht, um mit dem naheliegendsten Hindernis zu beginnen. Also greifen sie sich lieber die armen Kerle, die so unvorsichtig sind, auf X irgendwelchen Quatsch zu posten.
Da gibt es dann kein Halten mehr. 3500 Euro Strafbefehl wegen Verbreitung eines Schnappschusses, auf dem Karl Lauterbach mit erhobenem rechtem Arm zu sehen ist (Staatsanwaltschaft Schweinfurt). 1500 Euro wegen des Postens eines ironisch kommentierten Screenshots eines Twitter-Rankings, bei dem der Hashtag #AllesfürDeutschland ganz oben trendet (Staatsanwaltschaft Köln).
Es geht auch immer nur in eine Richtung. Nach den Todesschüssen auf einen jungen Mann
setzte die Amadeu Antonio Stiftung vorletzte Woche folgenden mittlerweile gelöschten Tweet ab: „Ein Polizist ermordet in Oldenburg den Schwarzen Lorenz A. ‚Einzelfall‘ schreit die Polizei. Außerdem hätte
er den Polizisten mit einem Messer bedroht – gelogen wie sich herausstellt. Die Wahrheit: In Deutschland herrschen ‚amerikanische Verhältnisse‘.“
Bislang ist der Tathergang völlig ungeklärt. Steht die Staatsanwaltschaft bei der Stiftung jetzt wegen Falschbeschuldigung in der Tür? Lässt man Computer beschlagnahmen und die Mitarbeiter vernehmen? Selbstverständlich nicht. Hass und Hetze gegen Polizeikräfte gilt vielerorts als zivilgesellschaftliches Engagement, da drückt man beide Augen zu.
Außerdem wäre eine Strafverfolgung ja eine Art Ermittlung des Staates gegen sich selbst. Unter den mit reichlich Steuergeld bedachten NGOs ragt die Amadeu Antonio Stiftung heraus. Auf vier Millionen Euro beliefen sich im Haushaltsplan 2023 allein die Zuwendungen der Bundesregierung.
Bleibt die Frage, wem eine Staatsanwaltschaft gegenüber
Rechenschaft ablegen muss. Formal untersteht sie dem Justizministerium. Aber wie es aussieht, kümmert das niemanden. Warum auch?
Die vier Jahre währenden Ermittlungen gegen Christian Wulff gingen mit einem Freispruch für den ehemaligen Bundespräsidenten zu Ende. Hatte das unrühmliche Ende der Wühlarbeit, die
den Steuerzahler ein Vielfaches der Oktoberfestsause kostete, für die beteiligten Staatsanwälte irgendwelche negativen Folgen? Selbstverständlich nicht.
In dieser Welt bemessen sich Erfolg und Misserfolg an anderen Kriterien.
© Sören Kunz