Wir haben es mit einer neuen Form des Politjournalismus zu tun. An die Stelle der Neugier ist das Urteil getreten, an die Stelle der Frage die Verdächtigung. Ein falscher Like reicht, und man bläst zur Gesinnungsjagd
Der Gesinnungsjäger hasst Uneindeutigkeit. Nichts ist ihm so zuwider wie Ambiguität. Er kann oder will sich nicht vorstellen, dass einer die Bücher rechter Autoren liest und dennoch die Grünen wählt. Oder dass jemand vor einer Studentenverbindung spricht und gleichzeitig mit Menschen befreundet ist, die über einen Migrationshintergrund verfügen. Es gibt bei ihm nur Entweder- oder. Anders würde die Gesinnungsjagd ja auch nicht funktionieren.
Auch der Journalismus lebt von Ambiguitätsreduktion. Das erleichtert den Überblick. Wenn es gegen Mächtige geht, gegen Fleischfabrikanten, Finanzgrößen oder Politiker, mag das gerechtfertigt sein, selbst wenn am Ende nur Abziehbilder übrigbleiben. In jedem Fall problematisch wird es, wenn sich der Furor gegen Privatpersonen richtet, die sich nicht zur Wehr zu setzen wissen. Dann wird Journalismus zur Vernichtungsmaschine.
Heinrich Böll hat vor vielen Jahren einen Roman über die unheimliche Macht der Medien geschrieben. Der Roman heißt „Die verlorene Ehre der Katharina Blum” und schildert die Geschichte einer Angestellten, die von einer Party eine Zufallsbekanntschaft mit nach Hause nimmt, einen jungen Mann, der der Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe verdächtigt wird. Eine Boulevardzeitung bekommt Wind von der Sache und stellt der Frau nach. Sie wird über die Zeitungsseiten gejagt, bis sie schließlich die Waffe gegen den Reporter richtet, der ihr Leben zerstört hat.
Das ARD-Politmagazin „Panorama” hat am Donnerstag vergangener Woche einen Filmbeitrag über einen Oberstleutnant der Bundeswehr gesendet, den die Redaktion der Sympathie mit Rechtsradikalen verdächtigt. Der Soldat ist in der Pressestelle der Bundeswehr als Referent beschäftigt, bis zu dem Fernsehbeitrag dürfte ihn außer seinen Kameraden kaum jemand gekannt haben. Das hat sich schlagartig geändert. Seit diesem Donnerstag ist Oberstleutnant Marcel Bohnert der Beweis, dass rechte Gesinnung in der Bundeswehr allen Ankündigungen zum Trotz seinen Platz hat, wie es die Redaktionsleiterin Anja Reschke in ihrer Anmoderation ausführte.
Die Beweislage sieht so aus: Als Beleg für die Vernetzung des Soldaten ins rechtsradikale Milieu präsentierte das Magazin zwei Likes, die die Redaktion nach einer „Instagram- Recherche” zutage gefördert hatte. In einem Fall hatte Oberstleutnant Bohnert ein Foto von Büchern des rechten Antaios-Verlags mit „gefällt mir” markiert. Bei dem zweiten Like handelte es sich um ein Herzchen unter dem Urlaubsfoto eines Wasserfalls, das unter anderem mit dem Hashtag „Defend Europe” versehen war, ein Motto, das auch bei der extremen Rechten beliebt ist.
Beide Fotos stammten vom Profil eines Instagram-Nutzers, der sich selbst als „identitär” bezeichnete. Es gab weder Stimmen aus dem Umfeld des Soldaten, die den Verdacht einer zweifelhaften Gesinnung bestätigten, noch eigene Texte oder Äußerungen. Dass das Verteidigungsministerium den Referenten auf Anfrage umgehend seines Postens enthob, wurde mit Genugtuung quittiert: „Immerhin. Aber warum erst jetzt?” lautete das Fazit des Beitrags.
Wenn „Panorama” sendet, schauen viele Menschen zu. So konnte es nicht ausbleiben, dass sich auch andere auf die Suche nach den Social-Media-Aktivitäten von Leutnant Bohnert machten. Wie sich herausstellte, hatte der Soldat vieles gelikt, zum Beispiel einen Tweet für Black Lives Matter; eine Fotomontage, mit der zur Umbenennung der Mohrenstraße in Berlin aufgerufen wurde. Es fand sich sogar ein Like für den ZDF-Moderator Jan Böhmermann. Hätte die „Panorama”-Redaktion mehr als eine „Insta gram- Recherche” betrieben, wäre sie möglicherweise auch auf den Verein Deutscher Soldat gestoßen, eine Vereinigung von Bundeswehrangehörigen mit Migrationshintergrund, die sich umgehend mit dem von ihnen geschätzten Kameraden solidarisierten.
Schlimmer als ein denunziatorischer Beitrag ist für den Betroffenen ein denunziatorischer Beitrag, für den der Sender unter Rechtfertigungsdruck gerät. Undenkbar, dass man einen Fehler eingesteht oder die Recherche im Nachhinein korrigiert. Stattdessen werden die Anstrengungen verdoppelt. Erst wenn das Ansehen des Opfers vollständig ruiniert und ausgelöscht ist, gibt man sich zufrieden.
Jetzt hat man noch einen Vortrag bei einer Burschenschaft in München gefunden und eine Rede vor dem rechtskonservativen Studienzentrum Weikersheim. Die Redaktion zitiert dazu die Rechtsextremismus-Expertin Natascha Strobl mit der Einschätzung, dass es sich bei Weikersheim um ein „Zentrum der neuen Rechten” handele. Auch hier hätte eine weitergehende Recherche geholfen. In Weikersheim sind, außer Marcel Bohnert, bereits Gerhard Schröder, Joachim Gauck, Gesine Schwan und Wolfgang Schäuble aufgetreten.
Der Journalist Claus Richter hat vor ein paar Wochen im „Cicero” an die journalistischen Standards erinnert, die Briten und Amerikaner nach dem Krieg als Grundlage eines fairen, unparteilichen Journalismus etablierten: Unvoreingenommenheit, die genaue Prüfung der Fakten, die Pflicht, die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen, Meinungspluralismus. Richter hat 13 Jahre das ZDF-Politmagazin „Frontal21” geleitet; bis heute steht er der Jury des prestigeträchtigen Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises vor. Seine Generation sei keineswegs Gegner eines engagierten Journalismus gewesen, schreibt er, „aber wer mit seiner Arbeit kritisches Nachdenken fördern wollte, sollte sich vor allem an die wenden, die nicht schon zu 100 Prozent die Meinung der Autoren teilten”.
Wir haben es mit einer neuen Form des Politjournalismus zu tun. Dieser Journalismus will nicht mehr aufklären, er will recht behalten. An die Stelle der Neugier ist das Urteil getreten, an die Stelle der Frage die Verdächtigung. Abkehr vom „Neutralitätswahn” heißt das heute. Warum nicht? Es gibt kein Gesetz, dass einen als Journalist zur Fairness verpflichtet. Die Frage ist nur, ob sich diese Haltung mit dem Auftrag einer Institution verträgt, die sich aus Gebühren finanziert, auch von denen, die sie ablehnen. Im Staatsvertrag der öffentlich-rechtlichen Anstalten ist ausdrücklich festgeschrieben, dass die Redakteure unparteilich und ausgewogen zu berichten haben.
Wenn schon ein falscher Like eine Existenz vernichten kann, dann ist niemand mehr sicher, das wird oft übersehen. Die Extremismus- Expertin Natascha Strobl, die bei Magazinen wie „Panorama” hoch im Kurs steht, ist in der Vergangenheit bei einer Reihe linksradikaler Organisationen aufgetreten, die, anders als das Studienzentrum Weikersheim, regelmäßig im Verfassungsschutzbericht stehen. Nach den Kriterien der „Panorama”-Redaktion müsste man also im Fall von Frau Strobl von einer linksradikalen Vernetzung sprechen. Einige findige Menschen haben auch Likes der Autorin des „Panorama”-Beitrags, Caroline Walter, unter linksradikalen Seiten ausgegraben. Soll man jetzt wirklich behaupten dürfen, dass bei „Panorama” Leute arbeiten, die mit Linksradikalen sympathisieren?
Die Autorin hat sich in mehreren Tweets zu d en Vorwürfen geäußert, sie habe nicht umfassend genug recherchiert. Ich bin ein Fan von Twitter, weil es ein en viel direkteren Zugang zur Gedanken- und Gefühlswelt von Menschen ermöglicht als ein Pressetext. Ich weiß nicht, inwieweit die Mischung aus Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit, die sie dort an den Tag legt, typisch für di e Redaktion ist, der sie an gehört: In jedem Fall gewährt sie den Blick in eine Welt, in der es nur Feinde oder Gefolgsleute zu geben scheint.
Auf der Höhe der Relotius-Affäre hat sich Caroline Walter im Dezember 2018 auch über journalistische Integrität geäußert. „Es gibt zu viele Journalisten, die nur in Scoops denken, an ihre Karriere”, schrieb sie damals. „Es ist nicht cool, Journalist zu sein, es bedeutet, verdammt viel Verantwortung zu übernehmen!” Manche Aussagen entfalten im Nachhinein eine gewisse Komik, mitunter unfreiwillig.