Im deutschen Wolkenkuckucksheim

Überall in Europa denken sie darüber nach, wie sie ihre Wirtschaft retten können. Nur in Deutschland gilt: Hauptsache, klimaneutral! Wenn schon Untergang, dann auf jeden Fall sauber

Am 14. März 2020 veröffentlichte das Bundesgesundheitsministerium eine Warnung. „Achtung Fake News!“, hieß es darin. „Es wird behauptet und rasch verbreitet, die Bundesregierung würde bald weitere massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt nicht! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“

Als gutwilliger Bürger fragte man sich, wie man dem Appell Folge leisten sollte. Wie stoppt man die Verbreitung von Fake News? Indem man das Gegenteil in Umlauf bringt? Auch das hilft ja leider nicht gegen Falschnachrichten, weil man erst einmal sagen muss, wogegen man ist, um es dann richtigzustellen.

Zum Glück hatte sich das Problem schon zwei Tage später erledigt. Da beschlossen Bund und Länder genau die Einschränkungen, die das Gesundheitsministerium gerade ausgeschlossen hatte.

Ich erinnere mich noch gut an den ersten Lockdown. Als ich mich auf einer Parkbank im Englischen Garten niederlassen wollte, um ein Buch zu lesen, traten zwei Polizisten auf mich zu, weil das Niederlassen auf einer Bank zu Lesezwecken nun als Ordnungswidrigkeit galt. Vermutlich hält man im Bundesgesundheitsministerium den Aufenthalt im Freien ohnehin für überbewertet.

Ich musste an die Warnung aus dem ersten Corona-Jahr denken, als ich vergangene Woche folgenden Anti-Fake-News-Tweet aus dem Bundeswirtschaftsministerium sah:

„Wir haben eines der zuverlässigsten Stromnetze weltweit und eine hohe Versorgungssicherheit. Trotzdem kursieren unter #Blackout, #Stromausfall oder #Lastabwurf Behauptungen im Netz, die unbegründet Panik verbreiten.“ Es folgte eine ausführliche Begründung, weshalb Stromausfälle in Deutschland so gut wie ausgeschlossen seien.

Wir werden sehen, wie lange diese beruhigende Nachricht hält. In jedem Fall würde ich dazu raten, sich doch mit anderen Dienststellen abzustimmen, um unnötige Irritationen zu vermeiden. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenalarm zum Beispiel rief erst vor zwei Wochen zum Anlegen eines zehntägigen Vorrats für den Fall von Stromausfällen auf („Bei der Zusammenstellung Ihres Notvorrats kommt es auch auf eine durchdachte Planung an“).

Es könnte sicher auch nicht schaden, wenn Wirtschaftsminister Robert Habeck einmal seine grüne Parteivorsitzende zur Seite nehmen würde, damit sie in ARD-Interviews nicht weiter den Lastabwurf empfiehlt und so „unbegründet Panik verbreitet“, wie es in der Mitteilung aus seinem Hause heißt.

Wir leben in einem merkwürdigen Zwischenreich. Einerseits kommt uns mit dem Zusammenbruch der Energieversorgung gerade die Grundlage unserer Volkswirtschaft abhanden. Andererseits tut die Regierung so, als ob alles so weiterlaufen könnte, wie im Koalitionsvertrag vereinbart und niedergelegt.

Natürlich gilt weiter das Aus für die Kohle. Vor wenigen Tagen hat Robert Habeck mit RWE eine Vereinbarung geschlossen, wonach der Kohleausstieg nicht aufgeschoben, sondern im Gegenteil um acht Jahre vorgezogen wird – von 2038 auf 2030. Selbstverständlich wird auch am Atomausstieg festgehalten. Und ich bin sicher, wenn man die Verantwortlichen fragen würde, wie es mit dem Plan aussieht, zwei Dutzend neue Gaskraftwerke zu bauen, als Brückentechnologie auf dem Weg in die erneuerbare Zukunft, lautet die Auskunft: alles nach Plan.

Wie soll man das nennen? Deutscher Sonderweg? Kosmisches Gottvertrauen? Überall in Europa denken sie darüber nach, wie sie dafür sorgen können, dass ihre Wirtschaft nicht koppheister geht – nur in Berlin zimmern sie fröhlich weiter am Wolkenkuckucksheim. Es ist faszinierend, aber auch etwas beängstigend.

Die Antwort der Bundesregierung auf die Energiekrise lautet, kurz gefasst: jetzt erst recht. Also nun erst recht den Ausbau der erneuerbaren Energien forcieren und den Abschied aus dem fossilen Zeitalter vorantreiben. Man kennt das aus Managementseminaren, wo der Motivationstrainer Leuten, denen es den Boden unter den Füßen weggezogen hat, rät, sie sollten die Krise als Chance begreifen. Als Zuschauer sagt man sich da: Arme Teufel, in deren Haut möchte man auch nicht stecken. Leider sind wir in dem Fall alle Teilnehmer des großen Managementexperiments.

©Michael Szyszka

Schon die jetzigen Pläne sind völlig unrealistisch. Der „FAZ“-Redakteur Morten Freidel hat sich neulich die Mühe gemacht, einmal nachzurechnen. Um ihre Ziele zu erreichen, müsste die Regierung jeden Tag vier große oder acht kleine Windräder bauen, und das über die nächsten zehn Jahre. Selbst wenn man auf alle Genehmigungsverfahren von heute auf morgen verzichten würde: Dafür gibt es weder das Material noch die Monteure – von den Kosten gar nicht zu reden.

Und im Jahre 2045, wenn alles ausgestanden ist, weil Deutschland dann endlich klimaneutral ist, wie es die Befürworter erhoffen, ginge es wieder von vorne los. Auch ein Windrad hält nicht ewig. Nach 20 Jahren muss es ersetzt werden. Was bedeutet, dass ein nennenswerter Teil der Volkswirtschaft konstant damit beschäftigt wäre, für den Wind zu sorgen, der das Land am Laufen halten soll.

Ohne ein gewisses Maß an Energieunabhängigkeit wird es nicht gehen, jedenfalls wenn wir Industrienation bleiben wollen. Und die sollte nicht zu lange auf sich warten lassen. Die 200 Milliarden für den Gaspreisdeckel reichen bis Ende kommenden Jahres. Aber dann steht wieder ein Winter vor der Tür. Und danach noch einer. Und dann noch einer.

Wir sind ein reiches Land, das ist die gute Nachricht. Wir sind sogar ein energiereiches Land. Wir verfügen über Gasvorkommen, die uns für 20 Jahre von den Launen des Energiemarktes unabhängig machen könnten. Dummerweise ziehen wir es vor, über diesen Reichtum nicht einmal zu reden. Das meiste Gas liegt in Niedersachsen. Wie man lesen konnte, hat keine Partei im Wahlkampf die Gasvorkommen auch nur mit einem Wort erwähnt. Auch das ist eine Strategie: Umgehung der Realität durch kollektives Beschweigen. Darin haben wir in Deutschland eine gewisse Übung.

Glaubt man den grünen Strategen, ist klar, wer am Wahlerfolg der AfD schuld ist: die CDU, weil ihr Parteivorsitzender vor der Einwanderung in unser Sozialsytem gewarnt hat. Das macht das Leben im Wolkenkuckucksheim so angenehm: Man kann sich immer die Erklärung heraussuchen, die einem am besten passt. Auf den Demonstrationen spielt die Einwanderung hingegen kaum eine Rolle, dort geht es vor allem um Inflation und Energiepreise.

Die Lösung der AfD lautet: Nord Stream 2 aufmachen. Ich bin absolut dagegen. Ich hielte es für einen Riesenfehler, dem Terroristen im Kreml zu signalisieren, dass er machen kann, was er will, solange er uns nur wieder Gas liefert. Aber wenn man gegen Gas aus Russland ist, sollte man eine Alternative nennen können. Die Alternative kann nicht sein, darauf zu hoffen, dass uns die wundersame Umwandlung von Strom in Wasserstoff von allen Beschwernissen erlösen wird.

60 Prozent der Deutschen sagen, dass sie derzeit keiner Partei zutrauen, die Probleme in den Griff zu bekommen, vor denen das Land steht. Ein Rekordwert. Ich weiß, in der Regierung halten sie die Leute für zu blöd, die Weisheit der Energiewende zu erkennen. Aber die Leute sind nicht alle blöd. Sie ahnen: Alles abschalten ist auf Dauer auch keine Lösung.

Der Internationale Währungsfonds hat Mitte der Woche seine Prognose für das kommende Jahr veröffentlicht. Bei keinem Land sieht die Vorhersage so düster aus wie bei Deutschland. Doch bei einem: Russland, da ist es noch schlimmer. Das ist allerdings auch der einzige Trost.

Wäre ich Zyniker, würde ich sagen: Hauptsache, wir halten unsere Klimaziele ein. Wenn schon Untergang, dann wenigstens sauber.

 

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