Unter Autoren und Intellektuellen macht sich eine neue Form der Legasthenie breit. Die Fähigkeit, Sätze im Kontext zu lesen, ist stark vermindert. Alles wird nach Möglichkeit so verstanden, dass es als Waffe verwendet werden kann
Vor ein paar Jahren habe ich einmal Jürgen Trittin verteidigt. Die Bundestagswahl 2013 stand an, damals war Trittin der Spitzenkandidat der Grünen. Irgendjemand hatte einen Text ausgegraben, den er als Student unterschrieben hatte und in dem die Straffreiheit von Sex mit Minderjährigen gefordert wurde. Kinderschänder Trittin, hieß es darauf: So einen kann man doch nicht wählen!
Ich bin sofort dabei, wenn es gegen die Grünen geht. Die Mischung aus Sonntagspredigt, Moralekstase und Magenbitter verursacht mir regelmäßig Unwohlsein, insofern betrachte ich meine Kolumne als Therapeutikum aus Notwehr. Aber einen Politiker an einem 32 Jahre alten Zitat aufknüpfen zu wollen, das noch nicht einmal von ihm selbst stammt, sondern das er nur presserechtlich verantwortet hat, weil jemand im Impressum stehen musste?
Man fragt sich, ob ein Politiker des Jahres 2045 mit einem Tweet des Jahres 2013 zu Fall gebracht werden wird, schrieb ich. Was kommt als Nächstes?
Heute wissen wir, was als Nächstes kommt. Vor drei Monaten musste die Chefredakteurin der „Teen Vogue“, Alexi McCammond, ihren Posten räumen. Eben noch schien sie die ideale Besetzung: eine afroamerikanische Frau an der Spitze einer Modezeitschrift. Dann wurde ihr ein Eintrag auf Twitter zum Verhängnis, in dem sie als 17-Jährige nach einer Partynacht geschrieben hatte, sie sei am Morgen mit asiatisch geschwollenen Augen aufgewacht.
Asiatische Augen? Wie rassistisch! Hinfort mit ihr! Dass sich die arme Frau tausendmal entschuldigt hatte für die Unbedachtheit, mit der sich eine 17-jährige Version ihres heutigen Ich geäußert hatte? Dass sie den Tweet längst gelöscht hatte? Half alles nichts. Die neue Tugendwelt kennt kein Vergessen und keine Gnade. Irgendwo existiert immer ein Screenshot.
Vergangene Woche hat es Carolin Emcke erwischt. Falls Ihnen der Name nicht auf Anhieb etwas sagt: Frau Emcke ist Autorin mehrerer Bücher, in denen dargelegt wird, warum die Linken nicht nur die besseren Argumente auf ihrer Seite hätten, sondern auch die lauteren Motive. Dafür ist sie mit Preisen überhäuft worden, unter anderem dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, dem Brücken-Preis der Stadt Regensburg, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, um nur ein paar zu nennen.
Am Wochenende war sie auf dem Parteitag der Grünen als Gastrednerin eingeladen. Ihr Thema war die Relativierung der Wahrheit, was sie zu der Feststellung veranlasste, dass nach Juden, Feministen und Virologen nun vermutlich die Klimaforscher ins Fadenkreuz der Wahrheitsverdreher gerieten. Als Parteitagsrednerin sah sich Frau Emcke in der Pflicht, etwas zur grünen Sache beizutragen. In dem Fall dachte sie wohl, ein zusätzlicher Moral-Boost könne nicht schaden. Die grüne Parteispitze schaute dann auch ganz ergriffen.
Ich bin kein Fan von Carolin Emcke, wie Sie sich denken können, so wie ich kein Fan von Jürgen Trittin war. Wo ständig der Nahtod der Demokratie besungen wird, nimmt einer wie ich Reißaus. Ich mochte Grunge schon als Musik nicht. Als ich die etwas merkwürdige Aufzählung sah, wer angeblich alles mit Verfolgung durch rechte Wahrheitsfeinde rechnen muss, dachte ich: Geht’s nicht ’ne Nummer kleiner? Die Klimaforscher als die neuen Juden?
Soweit ich das beurteilen kann, haben nicht diejenigen einen schweren Stand, die dem Kampf gegen den Klimawandel das Wort reden, sondern diejenigen, die im Verdacht stehen, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. Aber ist das Ganze deshalb ein Skandal, der es wert ist, dass sich sogar der CDU-Generalsekretär einschaltet? Ist man gleich Antisemit, weil man einen etwas törichten Vergleich benutzt? Da habe ich dann doch meine Zweifel.
Wir haben es mit einer neuen Form der Legasthenie zu tun. Die Fähigkeit, Sätze im Kontext zu lesen, ist dabei stark vermindert. Jeder Satz wird so verstanden, dass er maximal gegen denjenigen spricht, der ihn äußert. Kein Wohlwollen mehr, kein Vertrauensvorschuss, kein Interpretationsraum – stattdessen nur die dunkelste und nachteiligste Lesart.
Das Kuriose ist, das diese neue Legasthenie vor allem unter Künstlern und Intellektuellen verbreitet zu sein scheint. Man sollte meinen, dass Leute, die sich der intellektuellen Welt zurechnen, besonders gut lesen und schreiben können, ja, dass sie sogar in der Lage sind, zwischen den Zeilen zu lesen. Aber das genaue Gegenteil scheint der Fall zu sein. Wo der normale Mensch sagt: „Ach, das hat er/sie sicher nicht so gemeint“, heißt es beim politischen Legastheniker: „Kein Zweifel, er ist Faschist/Rassist/Sexist, anders kann man den Satz gar nicht verstehen.“
Manche weigern sich sogar, den Text zur Kenntnis zu nehmen, über den sie urteilen. Ihnen reicht die Überschrift. Neulich las ich in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ in einem Artikel über die Literatursendung „Das Literarische Quartett“, ich hätte vor meinem Ausscheiden beim „Spiegel“ in meiner Kolumne die Überschrift „Nazis rein“ platziert. Der Autor, der Feuilleton-Redakteur Tobias Rüther, führte das als Beleg dafür auf, wie runtergekommen „Das Literarische Quartett“ sei. Jemand, der Überschriften wie „Nazis rein“ in den „Spiegel“ schmuggelt, als Gast einer Literatursendung: unerträglich!
In der angesprochenen Kolumne ging es darum, wie man es schaffen könnte, Rechtsradikale zu redemokratisieren. Ich dachte, das sei doch, was wir wollen. Aber so weit war Herr Rüther bei der Lektüre offenbar nicht gekommen. Es interessierte ihn auch nicht, dass es in Blättern wie dem „Spiegel“ oder dem FOCUS keine Überschrift gibt, die nicht vorher die Ressortleitung passiert hat, dann die Dokumentation und anschließend, nicht ganz unwichtig, die Chefredaktion. Wenn man also jemanden hätte in den Senkel stellen wollen, weil er „Nazis rein“ fordert, dann meinen damaligen Chefredakteur, aber das hätte ja nicht in die Geschichte gepasst.
Wann hat es angefangen, dass man andere bewusst missversteht, um im Meinungskampf die Oberhand zu gewinnen? Ich kann es nicht beweisen, aber mein Eindruck ist, dass es die Linke war, die dies als Kampfmittel einführte. Konservative oder Rechte sind naturgemäß weniger empfindlich, was die Verletzung von Sprachcodes angeht. Die korrekte Ausdrucksweise war nie ihr Steckenpferd. Aber das heißt nicht, dass man rechts der Mitte nicht in der Lage wäre zu adaptieren.
Was mich immer schon verblüfft hat, ist, dass vielen Matadoren offenbar die Fantasie fehlt, dass es sie selbst erwischen könnte, wenn sie anfangen, aus jedem unbedachten Wort einen Strick zu drehen. Es gibt kein Patentrecht auf politische Methoden. Nicht nur Greenpeace-Aktivisten können sich anketten, auch Identitäre beherrschen diese Protestform, wie man neulich bei der „taz“ feststellen musste. Heute ist es die Verwendung des Wortes „Globalist“, die angeblich eine verwerfliche Gesinnung beweist, morgen eben die falsche Opferreihung.
Einer der Kombattanten, die verlässlich auf der Zinne sind, wenn es gegen Rassismus, Sexismus oder ein anderes politisches Übel geht, ist der Journalist Malcolm Ohanwe. Neulich unterlief Ohanwe ein Missgeschick. Er postete das Bild eines dicken schwarzen Mannes, der von vier weißen Männern auf einer Sänfte getragen wird. „Mein feuchter Traum“, schrieb er dazu. Dummerweise hatte er übersehen, dass es sich bei dem dicken Mann um Idi Amin handelte, einem Hitler-Verehrer und Blutsäufer allerersten Ranges. Entsprechend unnachsichtig fielen die Reaktionen aus. Zwei Tage war Ohanwe damit beschäftigt, die Scherben seines missglückten Tweets wieder einzusammeln.
„Manchmal geht ein Witz daneben. Oder man postet etwas, was witzig gemeint war und dann doch nicht so witzig ist“, schrieb ich als Kommentar. „Wenn wir alle etwas gelassener wären, dann wäre auch schon was gewonnen.“
Er hat sich dafür bei mir bedankt. Wenn alle hinter einem her sind, ist man froh über jeden, der nicht nachtritt. „Sollte ich mal in Schwierigkeiten stecken, legen Sie ein gutes Wort für mich ein“, antwortete ich. Mal sehen, ob er sich daran erinnert.