Lob des Boomers

Der Boomer ist das Auslaufmodell der Politik: zu alt, zu weiß, zu fortschrittsfeindlich. Aber hat sich mal jemand die Wahlergebnisse angesehen? Es sind nicht die Jungen, es sind die Alten, die das Bollwerk der Demokratie sind

Der „Spiegel“ hat mit 20 Jahren Verspätung mit Thomas Gottschalk abgerechnet. Gottschalk findet Jimi Hendrix bedeutender als Tokio Hotel! Er beurteilt Frauen nach ihrem Äußeren! Außerdem hat er einmal Geri Halliwell von den Spice Girls ans Knie gefasst!! Seine Antwort, er habe Frauen im TV rein dienst- lich angefasst, hat auch nicht geholfen.

Wenn man genau hinsieht, legt Gottschalk Geri die Hand nicht aufs Knie, sondern auf ihre Hand, die auf dem Knie ruht. Aber das nützt ihm auch nichts mehr. Insbesondere „junge Menschen“ fänden das heute unangebracht, befindet der „Spiegel“ streng.

Ich habe Zweifel, dass sich sehr viele junge Menschen Ausschnitte von „Wetten, dass..?“-Sendungen anschauen. Selbst wenn sie es täten, haben sie vermutlich schon Schlim- meres gesehen. Das Verdikt bleibt: Gottschalk ist out.

Es gibt ein eigenes Genre der Generationenbetrachtung: die Boomerbeschimpfung. Zu weiß, zu alt und insgesamt nicht fortschrittlich genug, so lässt sich der Vorwurf gegen die zwischen 1950 und 1965 Geborenen zusammenfassen.

Außerdem haben sie in ihrer Blütezeit nicht bescheiden genug gelebt. Statt die Klimabilanz ihres frivolen Treibens zu bedenken, haben sie fröhlich Party gemacht. Sie haben sich an großen Autos erfreut. Sie sind um die Welt gejettet, um der Enge der deutschen Heimat zu entfliehen. Und mit den Anstandsregeln haben sie es auch nicht immer so genau genommen. Schmutzige Witze kommen vermutlich noch hinzu. Und Drogen!

Welche Spuren der Verwüstung der sorglose Lebenswandel angerichtet hat, kann man an allen Enden und Ecken besichtigen. Hätten sich die Boomer mehr am Riemen gerissen, würden heute nicht die Flüsse über die Ufer treten und sich die Meere erheben. So sieht’s aus!

Ich erkenne zwei Strategien der Gegenwehr. Die gängigste Strategie ist der Verjüngungsversuch durch Umarmung. Indem man noch jugendlicher aufzutreten versucht als die „jungen Menschen“, hofft man, dem Verdammungsurteil zu entkommen. Das lässt sich auch bei der Befassung mit Gottschalk beobachten. Es sind ja nicht Vertreter der Generation Z, die dem Fernsehmoderator sein Sündenregister vorhalten, sondern mehrheitlich Journalisten, die den 40. Geburtstag deutlich hinter sich haben.

Auch der „Spiegel“ ist nicht mehr der jüngste. Der typische Abonnent ist weiß, männlich und, Gott sei’s geklagt, ziemlich alt. Daher soll jetzt der „junge Mensch“ umworben werden, weshalb man neuerdings ganz viel über Gefühle schreiben lässt. Nicht sagen, was ist, sondern sagen, was das, was ist, mit einem macht – das ist der neue Zugang.

Der andere Weg, sich dem Urteil zu entziehen: Zerknir- schung. Das ist die Übung, in der es der langjährige stellvertretende „Zeit“-Chefredakteur Bernd Ulrich zum Vorreiter und Rollenmodell gebracht hat. Motto: Ich habe schrecklich gesündigt, aber jetzt sehe ich es ein und versuche, gut zu machen, was nicht mehr gut zu machen ist. Also: Lob der Leinsamen und Kleie angerührt mit Wasser und einem Schuss Sesamöl gleich zum Frühstück.

Ulrich ist Katholik. Da ist das Bußritual eingeübt. Notfalls zieht man sich mit drei Rosenkränzen und einem Luisa-Neubauer-Interview aus der Affäre. Wobei: Ich sollte mich nicht zu sehr über ihn lustig machen. Neubauer als Gegenüber ist wie Wasserfolter. Unter allen Heimsuchungen, die einem der Wind des Netzes in die Timeline weht, ist sie eine der größten. Die Mischung aus Besserwisserei, Höhere-Töchter-Haltung und Kosmo-Kauderwelsch ist einzigartig – und auch einzigartig nervig.

Die Wahrheit ist: Boomer sind die Verteidiger der Demokratie, das letzte Bollwerk gegen rechts. Haben sie in den Redaktionen, in denen man missmutig ihre Vergehen zusammenzählt, mal drauf geschaut, wer in Brandenburg dem SPD-Ministerpräsidenten Dietmar Woidke den Hintern gerettet hat? Nein, es waren nicht die „jungen Menschen“, von denen der „Spiegel“ gerne mehr Leser hätte. Die haben mehr- heitlich für die AfD gestimmt. Es war die Generation Thommy, die Woidke vor dem Fall bewahrt hat.

In keiner Altersgruppe schneiden Weidel und ihre Leute so schlecht ab wie bei der Gruppe 65 plus. Gäbe es die Alten nicht, die AfD läge bundesweit über 20 Prozent. Es wird viel über das demografische Übergewicht der Boomer geklagt. Auf Jahre werden sie noch die Politik bestimmen, einfach, weil es von ihnen so viele gibt. Ich kann nur sagen: Gut, dass sie und nicht die Generation Z die Mehrheit stellen. Wäre es andersherum, müsste man sich um die Demokratie wirklich Sorgen machen.

Es sind übrigens auch die Boomer, die in München zum Jahrestag des 7. Oktober am Odeonsplatz stehen, um den jüdischen Nachbarn zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. In der ersten Reihe: Uschi Glas, Michaela May und der Kabarettist Christian Springer. Ja, Uschi Glas, die gerne wie Thomas Gottschalk wegen ihrer angeblich altbackenen Ansichten verspottet wird. Aber wenn’s drauf ankommt, ist auf sie, im Gegensatz zu vielen Klima-Vorturnern, halt Verlass.

Es ist kein Zufall, dass die alte Bundesrepublik zusammen- steht, wenn es darum geht, die republikanischen Werte zu verteidigen. In der Generation, die mit Willy Brandt aufgewachsen ist, hat man noch eine ordentliche Antifa-Schluckimpfung bekommen. Das wirkt bis heute nach.

Ich weiß, wovon ich spreche. Ich erinnere mich noch genau, wie mich meine Mutter eines Abends zu sich rief – ich war gerade in der 4. Klasse vorgerückt –, um mich im ernsten Ton zu fragen, ob ich schon einmal etwas von Adolf Hitler gehört habe. Das sei ein sehr böser Mann gewesen. Er habe den Krieg angefangen und KZ bauen lassen und dafür gesorgt, dass die Juden getötet wurden.

Dann machte sie eine Pause und sah mich aufmerksam an: Wir müssten jetzt alle gemeinsam dafür sorgen, dass sich das nie wiederhole. Ich hatte bis zu diesem Augenblick noch nie von Juden gehört. Ich hatte auch keine Vorstellung, was ein KZ ist. Aber natürlich nickte ich.

Es gab nur zwei weitere Gelegenheiten, bei denen mich meine Mutter auf ähnliche Weise ins Gebet nahm: Das eine Mal, als sie mich vor „Mitschnackern“ warnte, wie bei uns im Norden Männer hießen, die sich an kleinen Kindern vergingen. Das andere Mal ging es um Drogen und wie sie einem für immer das Leben ruinierten.

Hitler, Heroin und Päderasten – damit war aus Sicht meiner Mutter das Wesentliche abgedeckt, um vorerst unbeschadet durchs Leben zu kommen. Was die Drogen und die Mitschnacker anging, war die Handlungsanweisung einfach: Halt dich einfach von Ihnen fern. Wie ich allerdings dafür sorgen sollte, dass sich Hitler nicht wiederholte, war schwerer zu sagen.

Als ich später die Geschichte der Anne Frank las, hatte ich zwar noch immer keine Vorstellung, wie wir diesmal den Nationalsozialismus besiegen würden. Dafür wusste ich nun, was anschließend zu tun war. Ich malte mir aus, wie jemand bei uns klingeln und um Versteck bitten würde. Ich hatte keinen Zweifel, dass wir Annes Nachfolgerin ohne Zögern einlassen würden. Ich hoffte nur, dass sie in meinem Alter war.

Selbstverständlich ist es auch die bundesrepublikanische Aufbaugeneration, die für ein angemessenes Gedenken gesorgt hat, gegen vielfältige Widerstände. Dass in Berlin an zentraler Stelle das Holocaust-Mahnmal steht, ist ganz wesentlich der Journalistin Lea Rosh zu verdanken, SPD-Mitglied seit 1968. Allen, die gegen das Denkmal waren, hätte ich gleich sagen können, dass es keinen Sinn hatte, sich querzustellen.

Auch in dem Fall weiß ich, wovon ich rede. Lea war eine gute Freundin meiner Eltern. Wenn sie bei uns mit großer Geste reingeschneit kam, verstummte sogar meine Mutter, und das will einiges heißen. Und heute? Wissen die jungen Menschen nicht mal mehr zu sagen, was der Holocaust war. 40 Prozent der Befragten zwischen 18 und 34 Jahren antworten auf die Frage, was ihnen dazu einfällt, mit einem Fragezeichen.

Vielleicht sollte man die Rente einfach umbenennen – in Demokratieabgabe. Es ist wie mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk: Es ist teuer, es ist lästig, aber am Ende sollte man froh sein, dass es das System gibt.

© Silke Werzinger

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