Diese Woche ist ein Buch erschienen, das geeignet ist, die linke Glaubenswelt gegen sich aufzubringen. Schon jetzt kochen Wut und Empörung hoch
Ich habe darüber nachgedacht, einen Verriss zu schreiben. Mein Freund und langjähriger Kollege René Pfister hat ein Buch veröffentlicht, es ist diese Woche erschienen. Es heißt „Ein falsches Wort“ und beschreibt die neue linke Kultur der Empfindsamkeit, die auch hierzulande um sich greift.
Ich habe meinem Freund zum Erscheinen seines Buches gratuliert. Aber vielleicht sollte ich das für mich behalten? Am besten wäre vermutlich, ich würde es hier in Grund und Boden verdammen. Die Leute, die ihn erledigen wollen, warten nur auf Beifall von der falschen Seite. Ich sehe schon, wie sie die Messer wetzen.
Leider kann ich ihm den Gefallen eines Verrisses nicht tun. Ich spreche jetzt als Journalist und nicht als Freund. Als Journalist fühle ich mich der Wahrheit verpflichtet, und deshalb kann ich das Buch nur allen empfehlen, die wissen wollen, wo der Wahnsinn herkommt, der uns Debatten beschert, ob man nicht Winnetou aus dem Verkehr ziehen muss oder einen Partysong wie „Layla“ oder die zu freizügige Darstellung von Frauen auf Jahrmarktsbuden. Es ist das Beste, was ich bislang zur neuen linken Glaubenskultur gelesen habe.
Pfister ist vor drei Jahren für den „Spiegel“ nach Washington gezogen. Selbstverständlich hat er sich in einem der Viertel niedergelassen, in dem nur Menschen wohnen, die Trump für eine Ausgeburt der Hölle halten. Ich habe ihn nie gefragt, was er wählt, aber ich vermute, er schwankt wie jeder gute „Spiegel“-Redakteur zwischen Sozialdemokratie und Grünen. Doch je länger er in den Staaten lebte, desto mehr wuchsen die Zweifel, was den aktuellen Stand des linken Bewusstseins angeht – so beschreibt er es selbst.
Vorletztes Jahr sollte sein Sohn in der Schule über Kolumbus schreiben. Zufällig wurde Pfister Zeuge einer Diskussion, bei der sich der Sohn mit einem Klassenkameraden austauschte, ob er in seinem Schulaufsatz erwähnen solle, dass Kolumbus ja bei allen problematischen Seiten auch ein ziemlich mutiger Mann gewesen sei. „Too risky“, antwortete der Mitschüler, „it could bring you in trouble.“
Das ist heute der Alltag in einem Land, zu dessen Gründungsakten die Verteidigung der Meinungsfreiheit gehört: Zwei 13-Jährige unterhalten sich darüber, ob man schreiben dürfe, dass Christoph Kolumbus nicht nur ein verachtenswertes Monster gewesen sei, sondern vielleicht auch als Kind seiner Zeit verstanden werden müsse. Wie gesagt: Too risky.
Pfister hat die Opfer des neuen Fundamentalismus aufgesucht, darin liegt eines der vielen Verdienste seines Buchs. Da ist die Geschichte von Ian Buruma, Chefredakteur der „New York Review of Books“, einer der angesehensten Literaturzeitschriften der Welt, der es wagte, einem Autoren ein paar Seiten freizuräumen, dem mehrere sexuelle Übergriffe zur Last gelegt worden waren.
Der Mann war in einem ordentlichen Gerichtsverfahren von allen wesentlichen Vorwürfen freigesprochen worden. Sein Text behandelte die Frage, was es für die Gesellschaft bedeutet, wenn ein Freispruch nicht mehr zählt, weil die MeToo-Bewegung einen weiter für schuldig hält. Das reichte, um Buruma seinen Job als Chefredakteur zu kosten.
Oder da ist die Geschichte des Datenanalysten David Shor, der bei den Demokraten ein hochgeschätzter Meinungsforscher war, bis er plötzlich als untragbar galt. Sein Vergehen? Er hatte einen Tweet abgesetzt, in dem er anlässlich der Krawalle nach dem Tod von George Floyd darauf hinwies, dass gewaltsame Proteste den Demokraten vor Wahlen immer mehr geschadet hätten als den Republikanern.
Oder die Geschichte des Klimaforschers Dorian Abbot, der am berühmten MIT einen Vortrag halten sollte. Der Vortrag wurde dann abgesagt. Studenten hatten protestiert, weil Abbot ein Video gepostet hatte, in dem er sich beklagte, dass asiatische Studenten an seiner Uni systematisch benachteiligt würden, um Platz für andere Minoritäten zu machen. Selbst das Beharren darauf, dass alle Studenten gleich behandelt werden, kann inzwischen als Vergehen gelten.
Die Anhänger der neuen Bewegung behaupten gern, Cancel Culture sei ein Popanz, eine fixe Idee von Konservativen, die nicht verwinden könnten, dass ihnen andere Stimmen die Diskurshoheit streitig machen würden. Wenn man ihnen Fälle wie den von Buruma oder Shor entgegenhält, sagen sie: Einzelfälle.
Es sind immer alles Einzelfälle – bis zu dem Moment, an dem sich ein Polizist danebenbenimmt. Dann ist von strukturellem Rassismus die Rede. Aber das ist ja der Trick: Das, was offensichtlich ist, so lange in Abrede zu stellen, bis selbst die Opfer ins Grübeln geraten, ob sie sich alles möglicherweise nur eingebildet haben.
Pfister führt das nicht weiter aus, aber ich bin nach der Lektüre seines Buches mehr denn je überzeugt, dass es sich bei dem neuen linken Glauben um eine psychische Disposition handelt. Es ist ja selten der fröhliche, lebensbejahende Typ, den man in den Reihen derer antrifft, die den Kopf eines Sünders verlangen, weil dieser entweder die falschen Leute kennt oder die falschen Leute eingeladen hat oder unter Verdacht geraten ist, selbst den falschen Ideen anzuhängen. Früher hat dieser Typus den besonders frömmlerischen Teil der Kirchengemeinde ausgemacht, heute richtet er seine Energien auf die Überwachung immer neuer Sprachregeln.
Der moderne Mensch denkt, dass Schuld ein Gefühl sei, das es zu vermeiden gelte. Dem religiös Gebildeten hingegen ist sofort klar, welche Wonnen in dem Bewusstsein liegen können, gefehlt zu haben. Wäre es anders, hätte es der Katholizismus nicht zur Weltreligion gebracht. Ganze Glaubenssysteme sind auf dem Bemühen aufgebaut, den Makel der Schuld zu tilgen. Beichte, Zerknirschung, Ablass – alles beruht auf der Annahme, von Grund auf schuldig zu sein. „Dies kann Dein Beichtstuhl sein“, heißt es nicht von ungefähr in einer Fibel zur Seelenerkundung aus der Feder des amerikanischen Antirassismus-Gurus Ibram X. Kendi.
Gründe, sich als weißer Mittelschichtsmensch Selbstvorwürfe zu machen, gibt es genug. Wenn man seinen Wohlstand nicht im speziellen der Ausbeutung anderer Völker und Kontinente verdankt, dann doch in jedem Fall dem Raubbau an der Natur durch den energieintensiven Lebensstil. Deshalb funktioniert ja auch die Übertragung der neuen Erlösungslehre auf Deutschland, obwohl der Pietismus über Baden-Württemberg nie richtig hinausgekommen ist. Entweder entdeckt man nachträglich den Rassisten in sich. Oder den heimlichen Frauenfeind. Oder den Umweltfrevler. Klimasünder sind wir alle, das wäre, wenn man so will, der kleinste gemeinsame Nenner.
Ich fürchte, mein Freund wird in den kommenden Wochen noch einiges zu hören bekommen. Eine besonders eifrige Äbtissin der neuen Lehre, die Germanistin Annika Brockschmidt, hat schon die Alarmglocke geschlagen.
„Während in den USA der Faschismus LGBTQ-Menschen ihrer Bürgerrechte beraubt, schreibt der Washington-Chef des ‚Spiegels‘ einen Text darüber‚ wie im Namen von Gleichberechtigung und Antirassismus ‚linke Aktivisten der Gesellschaft eine neue Ideologe aufzwingen‘: unfassbar.“ Pfisters Thesen seien „unverantwortlich“, „bizarr“, „gefährlich“, Pfister selbst ein „bürgerlicher Steigbügelhalter des Faschismus“. Kurz: das Ganze eine „Schande“.
Wie heißt es so schön: Was trifft, trifft auch zu.