Der Staat erreicht eine magische Grenze: Im nächsten Jahr werden die Steuereinnahmen bei fast einer Billion Euro liegen. Gleichzeitig ist in Deutschland auf nichts mehr Verlass. Wie passt das denn zusammen?
Die wichtigste Nachricht vorneweg: Spätestens im kommenden Jahr werden die Steuereinnahmen die Marke von einer Billion Euro überschreiten.
Ich weiß, ich weiß, wenn man in die Zeitungen schaut, muss man zu einer ganz anderen Einschätzung kommen. Da ist ständig davon die Rede, dass die Steuereinnahmen viel geringer ausfallen als erwartet. Die meisten Menschen denken deshalb, die Bundesregierung müsse mit immer weniger Geld auskommen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Keine Regierung hat jemals über so viel Steuereinnahmen verfügt wie diese.
Das entscheidende Wort ist hier „erwartet“. Die Prognosen hatten ursprünglich noch mehr Geld versprochen. Wenn Leute wie der Linkspartei-Vorsitzende Jan van Aken in der Talkshow sitzen und davon reden, der Staat sei kaputtgespart worden, hat er recht – in dem Sinne, in dem auch ein Milliardär recht hat, wenn er darüber klagt, dass man nicht mehr nach Saint-Tropez könne, weil dort alles so überlaufen sei. Man lebt im Überfluss, aber halt nicht mehr ganz so schön, wie man es sich gestern noch ausgemalt hat.
Was bekommen wir für unser Geld? Wenn man sich den Zustand der Krankenhäuser ansieht oder der Straßen oder des Schienennetzes, muss man sagen: Nicht viel. Man kann inzwischen schon froh sein, wenn man binnen eines Tages von A nach B kommt. Verabredungen zu einer festen Uhrzeit treffen nur noch unverbesserliche Optimisten.
Jedes Unternehmen hätte längst Konkurs angemeldet, weil ihm die Kunden davongelaufen wären. Dummerweise kann der Bürger nicht davonlaufen. Wie heißt es so schön: Ein Staat kann nicht pleitegehen. Im Zweifel zwackt er den Bürgern einfach noch mehr Geld ab.
Das Versagen hat Auswirkungen, auch das lässt sich an Zahlen festmachen. Die Zahl der Menschen, die den Eindruck haben, dass der Staat restlos überfordert ist, hat einen Rekordwert erreicht. 70 Prozent finden das. Nur noch 25 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass er seine Aufgaben erfüllen kann. Die Zahl hat sich binnen vier Jahren halbiert, auch das ein Rekord.
Viel ist davon die Rede, dass man die Demokratie schützen müsse. Der wirksamste Demokratieschutz wäre nach meinem Dafürhalten ein funktionierendes Gemeinwesen. Einfach mal verlässlich ein ICE, der dort hält, wo es im Fahrplan vermerkt ist, und das zu der Zeit, die einem vorher zugesagt wurde: Das würde die Zahl der Staatsfeinde augenblicklich senken. 2070, so hat der Bahnvorstand erklärt, sollen sich die Deutschen wieder auf die Bahn verlassen können. Dann kommt der Deutschlandtakt. Aber hey, wer Bahn fährt, hat ja Zeit.
Die Linken haben auf die Misere zwei Antworten. Die eine Antwort lautet: mehr Schulden. Deshalb wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit für die Aufhebung der Schuldenbremse getrommelt. Nur die Argumente variieren. Entweder ist es die Waffenlieferung an die Ukraine, die mehr Schulden unausweichlich macht. Oder der Starkregen im August. Oder der Einsturz einer Elbbrücke in Dresden.
Kein Witz, das hat der grüne Finanzexperte Andreas Audretsch im Bundestag so vorgetragen: Dresden zeige, dass die Schuldenbremse tödlich sei. Wer nicht wolle, dass die Bürger beim Verlassen des Hauses in Lebensgefahr gerieten, müsse sie sofort aussetzen.
Die andere Antwort lautet: ordentlich Steuererhöhungen. So brutal sagt es natürlich niemand, schließlich will man die Wähler nicht verschrecken. Also wird der Kammerton des politischen Protestantismus angeschlagen. Starke Schultern können mehr tragen als schwache. Besserverdiener stärker in die Verantwortung zu nehmen, ist eine Frage der Fairness. Es braucht eine solidarische Lastenverteilung. Die Kunst besteht darin, dabei so zu reden, dass sich niemand von den eigenen Unterstützern angesprochen fühlt.
Die SPD hat gerade einen Steuerplan vorgelegt, wonach 95 Prozent der Bürger entlastet werden sollen. Weil auch die SPD spitzbekommen hat, dass der Metallschlosser bei VW kein Tagelöhner ist, sondern mit einem Teil seines Einkommens locker den Spitzensteuersatz erreicht, werden nun alle möglichen Verrenkungen unternommen, um die Sache schön zu rechnen.
Das Problem ist: So viele Reiche gibt es nicht, wie es bräuchte, damit es sich am Ende ausgeht. Der ehemalige Parteichef Sigmar Gabriel hat in schonungsloser Offenheit vorgerechnet, was eine Steuerreform, bei der dann 404000 Steuerpflichtige rund 41 Millionen Steuerzahler entlasten sollen, in der Praxis bedeutet. Selbst wenn man den Spitzensteuersatz für die Topverdiener um 10 Prozent erhöhen würde, käme für den Einzelnen nur eine Entlastung von 55 Cent am Tag heraus. Das klingt nicht nach einem Wahlkampfschlager.
Oder man setzt schon bei Leuten an, die 80000 Euro im Jahr verdienen – so sieht es eine Modellrechnung des Seeheimer Kreises, also des konservativen Flügels in der SPD, vor. Das würde die Einnahmebasis deutlich verbreitern. Aber dann ist leider auch der VW-Angestellte dabei.
In Wahrheit funktioniert der deutsche Sozialstaat wie ein institutionalisierter Hütchenspielertrick. Was zum Beispiel bei allen Debatten unter den Tisch fällt: Dass 40 Prozent des Lohns schon mal weg sind, bevor das Finanzamt überhaupt zugreifen kann. Diese Steuer heißt nicht Steuer, sondern Sozialabgaben, was zugegebenermaßen netter klingt, aber auf dasselbe hinausläuft.
Dass die meisten keine Ahnung haben, dass ihnen 40 Prozent vom Lohn abgezogen werden, verdankt sich einem Buchungstrick. Die Hälfte der Abzüge wird einfach als Arbeitgeberanteil ausgewiesen. Damit sieht es auf dem Lohnzettel so aus, als würde man sich die Kosten teilen. Aber das ist natürlich Mumpitz. Kein Arbeitgeber hat etwas zu verschenken. Gäbe es die 40 Prozent Sozialkosten nicht, läge der Bruttolohn entsprechend höher. Aus 2400 Euro würden, schwupps, 4000 Euro. Aus 4500 Euro mit einem Schlag 7500 Euro.
Ich würde meinen, ein Staat, der eine Billion Euro im Jahr an Steuern einnimmt, verfügt über genug Geld. Im Zweifel kann er sich sogar eine Reihe von Extravaganzen leisten. Wenn Politiker trotzdem von Notlage reden, dann, weil sie das Geld noch schneller zum Fenster herausreichen, als es durch die Tür hereinkommt.
Ein weiteres Problem ist, dass man laufend Gruppen findet, die bei jedem Sparpaket von vornherein ausgenommen sind. Rentner sind zum Beispiel schon mal tabu. Gerade hat die Regierung ein Rentenpaket auf den Weg gebracht, das die jüngeren Beitragszahler 300 Milliarden Euro kosten wird, zusätzlich zu den 140 Milliarden, die jetzt schon jedes Jahr aus Steuermitteln in die Rente fließen. Auch die Beamten dürfen auf umfassende Für- und Nachsorge vertrauen. Und natürlich alle, die beschlossen haben, dass man auch ohne geregelte Arbeit durchs Leben kommt.
Allein die Ausgaben fürs Bürgergeld liegen bei 42 Milliarden Euro, und da sind die neun Milliarden noch nicht mitgerechnet, die außer Plan dazu kommen, weil viele Leute es erkennbar anders sehen als unser Arbeitsminister, der sagt, man müsse doch bescheuert sein, wegen dem Bürgergeld seinen Job zu kündigen. Nee, sagen die sich: Man muss nicht bescheuert sein, man muss nur rechnen können.
Genau genommen ist es immer eine Gruppe, die es am Ende trifft, weil sie als einzige ohne mächtige Fürsprecher dasteht: Menschen, die nicht vom Staat abhängig sind, sondern auf eigenen Beinen stehen.
Auf Wirtschaftsveranstaltungen werden dem Bürger, der mit unermüdlichem Fleiß seinen Teil zum großen Ganzen beiträgt, schöne Kränze geflochten. Aber im Prinzip ist der fleißige Mensch verdächtig. Wer vom Staat keine Leistungen bezieht, ist dem Staat auch nichts schuldig. Wer dem Staat aber nichts schuldet, vor dem muss man sich vorsehen, denn der könnte ja auf dumme Gedanken kommen. Zum Beispiel auf den Gedanken, dass es so viel Staat gar nicht braucht.
© Sören Kunz