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Der große TÜV-Schmu

Demnächst sollen Autofahrer ihren Wagen bereits alle zwölf Monate in die Werkstatt bringen. Und für Häuser soll es einen jährlichen Gebäude-TÜV geben. Aber klar, die neue Regierung verspricht tapfer mehr Bürokratieabbau

Geniale Idee: Die deutschen Autofahrer bringen ihr Auto nicht mehr alle zwei Jahre zum TÜV, sondern schon nach zwölf Monaten. Auf einen Schlag mehr Werkstattbesuche, mehr ausgelastete Techniker, mehr Gebühreneinnahmen. Und das alles nicht per Appell an die Einsicht, sondern per Verordnung, die bei Nichtbefolgung empfindliche Strafen nach sich zieht. Wenn ich beim TÜV wäre, ich könnte mein Glück kaum fassen.

Für alle anderen, insbesondere die gebeutelten Autofahrer, ist die Idee nicht ganz so genial. Eine Hauptuntersuchung schlägt mit 150 Euro zu Buche, egal ob die Prüfer etwas finden oder nicht. Meist finden sie nichts. Das ist zwar beruhigend, aber eben auch ärgerlich, weil es zeigt, dass es den Zirkus gar nicht gebraucht hätte.

Der deutsche Autobestand ist gottlob in einem Zustand, dass man den Prüfungszeitraum gefahrlos auf drei Jahre ausweiten könnte. In vielen Ländern gibt es gar keinen TÜV, ohne dass der öffentliche Verkehr zusammenbräche. Selbst die risikoscheuen US-Amerikaner, bei denen jeder Spielplatz einer Hochsicherheitszone gleicht, kennen nichts Vergleichbares.

Beutelschneiderei ist kein gutes Verkaufsargument, deshalb heißt es zur Begründung: aber die Sicherheit! Irgendjemand hat ausgerechnet, dass man noch mehr Verkehrstote vermeiden könnte, wenn man alle Autos, die älter als zehn Jahre sind, einmal im Jahr in die Werkstatt schickt.

Die Experten, die nicht beim TÜV angestellt sind, widersprechen. Totaler Quatsch sagt der ADAC. Wegen ein paar hängender Auspuffrohre Millionen Kraftfahrzeugbesitzer drangsalieren: Was für eine Schnapsidee. Aber weil der ADAC als fiese Lobbyorganisation gilt, der TÜV hingegen als eine Art Samariterbund, ist die Sache so gut wie entschieden. Ab 2026 ist es so weit, wenn nicht noch ein Wunder geschieht.

Heute ist es das Auto, morgen der Alkohol – irgendein Quatschexperte findet sich immer. Der „Spiegel“ präsentierte vergangene Woche einen Suchtforscher, der ausgerechnet hat, dass sich 850 alkoholbedingte Todesfälle im Jahr vermeiden ließen, wenn man alkoholische Getränke um fünf Prozent teurer machte, weil dann der Pro-Kopf-Verbrauch um 2,2 Prozent sinken würde.

Dass so etwas in einem seriösen Magazin steht, ohne dass die Redaktion in Gelächter ausbricht, ist der wahre Clou. Anderseits: Wer will sich schon nachsagen lassen, dass ihm der Tod von Menschen egal sei, nicht wahr?

Die sicherste Welt ist zweifellos die, in der man nicht mehr aus dem Haus tritt. Wobei: Selbst das stimmt ja nicht. Zu Hause droht der gefürchtete Hausunfall. Wie viele Menschen jedes Jahr von der Leiter fallen, weil sie mal eben die Gardinenstange richten wollen: schockierend! Selbst in der Büroklammer steckt der Tod. Wussten Sie, dass mehr Mitteleuropäer an einer verschluckten Büroklammer sterben, als einem islamistischen Terroranschlag zum Opfer fallen? Ich nicht, bis ich es zufällig beim Googeln entdeckt habe.

Niemand ist für mehr Bürokratie. Trotzdem haben wir immer mehr davon. Das ist das Paradox unserer Zeit.

Auf X hat neulich ein Unternehmer das Bild einer Herstellerangabe gepostet, die von den zuständigen Behörden moniert wurde, weil die Buchstabengröße im Adressfeld beim „e“ im Wort „Soundsoweg“ zu klein geraten war. Die Abweichung vom geforderten Standard war nur mit einem Elektronenmikroskop zu erkennen. Ohne Lupe konnte man kein, aber wirklich gar kein Problem sehen. Egal: Der arme Mann muss sein Produkt aus dem Verkehr ziehen, um es dann mit korrigierter Angabe erneut in Umlauf zu bringen.

Das Prinzip ist theoretisch unendlich ausweitbar. Warum nicht auch Gehölze überprüfen lassen, deren Zweige Spaziergänger erschlagen könnten? Oder Häuser? Aber halt, das ist ja genau die neue Idee der TÜV-Gemeinde. Eine Art Gebäude-Hauptuntersuchung, einmal im Jahr, verbindlich für jede Wohnimmobilie in Deutschland – so schlägt es das Deutsche Institut für Normung in einem 40-seitigen Papier vor.

Wenn man schon einmal dabei ist, belässt man es selbstverständlich nicht bei einer flüchtigen Bestandsaufnahme. 250 Kontrollen umfasst das DIN-Papier. Ist die Dachrinne sicher befestigt? Können die Dachluken ordentlich verschlossen werden? In welchem Zustand befindet sich der Schornstein? Auch die Sicherheit von Treppengeländern, Balkongeländern, Vordächern und Markisen sollte jedes Jahr gecheckt werden!

Zu meiner Osterlektüre gehörte „Wolfszeit“, Harald Jähners hochgelobte Mentalitätsgeschichte der Nachkriegsjahre. Dass in Deutschland Einrichtungen wie der TÜV, das DIN oder die Stiftung Warentest in so hohem Ansehen stehen, führt Jähner auf das Trauma der Schwarzmarktzeit zurück, als man sich Gaunern und Schiebern anvertrauen musste, wenn man nicht verhungern wollte. Jeder Tauschhandel war von der Angst begleitet, über den Tisch gezogen zu werden. Und oft genug wurde
man das ja auch. Dann stellte man, wenn man Pech hatte, fest, dass das Öl gepanscht, die Zigaretten gestreckt und das Brot gar kein richtiges Brot war.

Auch im neuen Koalitionsvertrag findet sich wieder ein Kapitel zum Bürokratieabbau. „Durch einen umfassenden Rückbau der Bürokratie werden wir unseren Staat wieder leistungsfähig machen“, heißt es dort. Wenn ich mich recht erinnere, stand das so ähnlich allerdings schon im letzten Koalitionsvertrag. Und in dem davor.

Ich fürchte, es braucht eine Art Selbstverpflichtung, wenn man vorankommen will. Für jedes neue Gesetz, das der Gesetzgeber erlässt, muss er eines benennen, das er abschafft. Und damit würde man die Flut an Regelungen und Vorschriften ja nur konstant halten.

Wenn man den Wildwuchs wirklich eindämmen wollte, bräuchte es eine Art Beweislastumkehr. Also statt immer zu vermuten, dass jemand eine Gesetzeslücke ausnutzen könnte, wenn man sie nicht rechtzeitig schließt, wartet man erst einmal ab, ob der Schaden wirklich so groß ist, wie angenommen wird.

Apropos TÜV, wird sich der eine oder andere aufmerksame Zeitungsleser vielleicht sagen. Ist das nicht die Vereinigung, die in Brasilien einen Staudamm als sicher zertifizierte, der dann leider doch brach und eine Schlammlawine freigab, die 270 Menschen unter sich begrub? Doch, genau das ist er, in diesem Fall der TÜV Süd.

Na ja, gut, nobody is perfect. Der Fall ist seit fünf Jahren beim Landgericht München anhängig. Die Sache zieht sich, weil immer noch nicht geklärt ist, welches Recht für die Entschädigungsforderungen gelten soll, brasilianisches oder deutsches.

Was ich bei der Gelegenheit gelernt habe: dass der TÜV Süd ein weltweit operierendes Unternehmen ist, das bei Bedarf alles Mögliche prüft, nicht nur makellose Autos auf ihre dann TÜV-garantierte Makellosigkeit. Der Technische Überwachungsverein, wie das Kürzel TÜV ausgeschrieben heißt, ist auch gar kein Verein, sondern eine Aktiengesellschaft, die einen Jahresumsatz von mehreren Milliarden Euro ausweist.

Ach, bei einem Unternehmen beschäftigt zu sein, das sich seine Kunden vom Staat zutreiben lässt, das möchte man auch mal erleben. Das ist fast so gut wie eine Bank, die sich ihr Geld selbst druckt.

© Silke Werzinger