Seit zweieinhalb Jahren verfolgt die Staatsanwaltschaft Göttingen die Journalistin Anabel Schunke. Der Fall sagt viel über das neue Selbstbewusstsein staatlicher Organe, die im „Kampf gegen Hasskriminalität“ die Meinungsfreiheit beschränken
Im Juni 2009 machte der Philosoph Peter Sloterdijk einen Vorschlag, der ihn fast den Kopf gekostet hätte. In einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine“ schlug er vor, staatliche Zwangsabgaben durch freiwillige Bürgerspenden zu ersetzen. Beim modernen Steuerstaat handele es sich um eine „rechtlich gezügelte Staats-Kleptokratie“. Was man schamhaft als „Soziale Marktwirtschaft“ bezeichne, sei in Wahrheit ein „Semi-Sozialismus“, gegen dessen fiskalische Enteignung man sich zur Wehr setzen müsse.
Kaum jemand erinnert sich noch daran. Sloterdijk ist seit Langem ein für seine originellen Einreden hochgeschätzter Feuilletongast. Das war vor fünfzehn Jahren anders. Da regnete es mächtig auf den Philosophen herein. „Leeres Sphären- und Blasengeschwätz“ machte die „taz“ in seiner staatskritischen Intervention aus. Als „Reaktionär“ und „geistigen Brandstifter“ fertigte man ihn ab, als einen, der die niedersten Instinkte und Affekte bediene.
Wer als „Staatsfeind“ gilt, kann einpacken. Umgekehrt lässt sich kein größeres Lob denken, als jemand als „staatstragend“ zu bezeichnen. Wenn man über die Grünen sagt, dass auf sie auch in kritischen Stunden wie der Abstimmung über das Schuldenpaket Verlass sei, weil sie so staatstragend wie keine andere Partei seien, wird das selbst von ihnen nicht als Beleidigung, sondern als Auszeichnung verstanden. Das Bewusstsein für staatliche Anmaßung ist dementsprechend schwach ausgeprägt.
Beim Surfen im Netz bin ich Anfang der Woche auf den Fall einer Journalistin gestoßen, der aus meiner Sicht zeigt, warum mehr Staatsskepsis dringend angezeigt wäre. Anabel Schunke heißt die Kollegin, sie schreibt für die „Weltwoche“, „Tichys Einblick“ und die „Achse des Guten“.
Ich finde vieles etwas überspannt. Wie bei vielen, die für sogenannte alternative Medien arbeiten, steht der Zeiger immer auf fünf nach zwölf. Anderseits, Jette Nietzard von der Grünen Jugend scheint mir auch keine besonders ausbalancierte Person zu sein. So ist das manchmal, wenn man mit heißem Herzen dabei ist. Da haut man auch Sachen raus, die man bei zweitem Nachdenken besser nicht rausgehauen hätte.
Im April 2022 setzte Frau Schunke auf Twitter, wie X damals noch hieß, einen längeren Tweet ab. Ich zitiere ihn vollständig, weil in juristischen Auseinandersetzungen jedes Wort zählt.
„Ein großer Teil der Sinti und Roma in Deutschland und anderen Ländern schließt sich selbst aus der zivilisierten Gesellschaft aus, indem sie den Sozialstaat und damit den Steuerzahler betrügen, der Schulpflicht für ihre Kinder nicht nachkommen, nur unter sich bleiben, klauen, Müll einfach auf die Straße werfen und als Mietnomaden von Wohnung zu Wohnung ziehen“, schrieb Schunke. „Wer das benennt, wird von der eigenen Innenministerin des neu erfundenen ‚Antiziganismus‘ bezichtigt. Wie jedwede andere Kritik an einer jahrzehntelang völlig fehlgeleiteten Zuwanderungspolitik soll auch diese unter dem Rassismusvorwurf erstickt werden.“
Wäre ich Sinti oder Roma, würde ich mich zweifellos ärgern. Es gibt auch in dieser Volksgruppe viele Menschen, die brav den Müll entsorgen, ihre Kinder pünktlich zu Schule schicken und ohne Verzug die Miete entrichten. Ist der Post also grob vereinfachend und verallgemeinernd? Mit Sicherheit. Aber ist er auch strafbar? Das ist die Frage, seit die Staatsanwaltschaft Göttingen gegen Anabel Schunke ein Verfahren wegen Volksverhetzung einleitete.
Die Sache zieht sich jetzt seit zweieinhalb Jahren. Erst beantragte die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl, den der zuständige Richter mit dem Hinweis ablehnte, bei dem Post handele es sich um zulässige Regierungskritik im Rahmen der Meinungsfreiheit. Als die Staatsanwaltschaft nicht lockerließ, gab es doch einen Strafbefehl, über 3600 Euro. Weil den wiederum die Journalistin nicht akzeptieren wollte, landete die Sache vor dem Amtsgericht, das den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt sah und Schunke zu einer Strafe von 5400 Euro verurteilte.
Ich bin fest angestellt. Wenn mich jemand wegen meiner Texte verklagt, leite ich das kalt lächelnd an die Anwaltskanzlei Söder Berlinger weiter. Aber das sieht bei einer freien Journalistin anders aus. Die ist nicht so einfach in der Lage, sich auf längere Rechtsstreitigkeiten einzulassen. Das wissen auch die Staatsanwälte, die sie ins Visier genommen haben. Deshalb setzen sie auf Zermürbung. Oder soll man besser von demonstrativer Einschüchterung sprechen?
Wie soll man es nennen, wenn eine Staatsanwaltschaft trotz ihres Erfolges vor Gericht anschließend in Berufung geht, weil sie findet, die Strafe könnte im Grunde noch höher ausfallen? „Die Angeklagte ist Journalistin und genießt hierdurch ein besonderes Maß an Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung“, hieß es zur Begründung. „Wenn sie also derartige Inhalte veröffentlichen kann, ohne dass es einschneidende Konsequenzen hat, könnte dies zu einem negativen Vorbildeffekt führen.“
Es hat sich etwas verschoben. Man sieht es auch am Selbstbewusstsein der Ermittler, die eigentlich zur Unparteilichkeit verpflichtet sind. Wie der Zufall es will, hatten Vertreter der Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet, wie die Göttinger Schwerpunktstaatsanwaltschaft vollständig heißt, einen Auftritt in der CBS-Sendung „60 Minutes“. Es ging um Meinungsfreiheit in Deutschland. Da saßen sie nebeneinander und amüsierten sich über die Bürger, denen sie die Polizei auf den Hals hetzen, um ihnen zur „Strafe“ Computer und Handy wegnehmen zu lassen.
Handy-Entzug als Strafe für vermeintlich anstößige Äußerungen? Das ist eine eher eigenwillige Auslegung der Gewaltenteilung. Normalerweise erfolgt im Rechtsstaat die Strafe erst nach dem Urteil. Aber so ist das, wenn der Staat gegen Hasskriminalität vorgeht: Dann reicht schon der Verdacht eines Fehlverhaltens.
Auch die Empfindlichkeiten nehmen zu. In Nordrhein-Westfalen wurde vor einer Woche eine Meldestelle gegen antiasiatischen Rassismus in Betrieb genommen. Meldestellen für Antifeminismus oder Muslimfeindlichkeit, das kannte man. Aber eine Meldestelle wegen Vorurteilen gegen „asiatisch gelesene“ Menschen, wie die korrekte Bezeichnung in dem Fall lautet?
Das WDR-Magazin „Cosmo“ hat dankenswerterweise in einem Beitrag, in dem die Stelle beworben wurde, plastisch gemacht, was unter antiasiatischem Rassismus zu verstehen ist. Auch scheinbar positive Aussagen wie „Du kannst gut Mathe“ könnten Betroffene verletzen und seien deshalb meldewürdig.
Unnötig zu sagen, dass die politische Gesinnung des Angeklagten nicht unerheblich ist. Ein anderer Netzfund aus dieser Woche: Ein Rechtsanwalt bringt einen Beitrag zur Anzeige, in dem ein X-Nutzer die Abschiebung von Flüchtlingen mit dem Holocaust vergleicht. Die Staatsanwaltschaft Bayreuth stellt das Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung ein. Begründung: Der Beschuldigte bekenne sich dazu, dass der Holocaust ein einmaliges und unvergleichliches Verbrechen gewesen sei, und setze sich auch privat und beruflich für Vielfalt, Toleranz und Inklusion ein. „Die Auswertung weiterer Posts ergab eine eindeutig linksgerichtete Gesinnung. Damit liegen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für verfolgbare Straftaten vor.“
Wie es im Fall Schunke weitergeht? Vor einer Woche kam die 5. Strafkammer des Landgerichts Braunschweig zu einem Freispruch. Ein Angriff auf die Menschenwürde im Sinne des Volksverhetzungsparagrafen sei nicht erkennbar, die Ausführungen der Angeklagten seien zurückhaltend und insbesondere unter Beachtung der Meinungsfreiheit auszulegen.
Hat die Sache damit ein Ende? Mitnichten. Die Staatsanwaltschaft will in Berufung gehen und den Freispruch anfechten. Was sollte sie daran auch hindern? Im Gegensatz zu der Journalistin, die alle Verfahrenskosten selbst tragen muss, verfügt die Staatsanwaltschaft über nahezu unbegrenzte Mittel.
Vielleicht hatte Sloterdijk doch nicht so unrecht. Der moderne Staat ist nicht nur ein geldgieriges Ungeheuer. Was er dem Bürger entzieht, verwendet er gegen ihn, wenn er sich seinen Anweisungen widersetzt. Das ist dann der ultimative Triumph.