Einmal im Monat erscheint die Mitarbeiterzeitschrift des Auswärtigen Amtes „intern AA“. Sie geht an alle aktiven und ehemaligen Diplomaten des Hauses, an die deutschen Konsulate sowie an Interessierte in den Bundestagsfraktionen der Parteien. Die Auflage liegt laut Impressum bei 11 400 Exemplaren.
Die Oktoberausgabe stand im Zeichen des Kampfs gegen den Rassismus. Das Heft war von den „Diplomats of Color“ gestaltet, einer Vereinigung von Beschäftigten mit nichtweißer Hautfarbe, und trug die Überschrift „Farbe bekennen“. Ein Leser aus dem Auswärtigen Amt hat mir am Wochenende ein Exemplar zugeschickt. Er meinte, es könnte mich interessieren.
Auf Seite acht stieß ich beim Blättern auf das Bild eines Straßenschilds in Berlin, das den Namen von George Floyd zeigt, des Schwarzen, der in Minneapolis im Würgegriff eines Polizeibeamten starb. Jemand hatte den ursprünglichen Namen überklebt, sodass es so aussah, als gäbe es jetzt in der Hauptstadt eine Straße, die an Floyd erinnert.
Ein kleines Schild, wie es manche Straßenschilder zur Erklärung tragen und das man bei der Umwidmungsaktion hatte stehen lassen, verriet, wessen Name ersetzt worden war: Es war der Name von Bernhard Weiß, dem jüdischen Vizepolizeipräsidenten, der von Joseph Goebbels als „Isidor Weiß“ geschmäht wurde und der sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nur durch großes Glück ins Exil hatte retten können.
Es gibt 9500 Straßen in Berlin. Es finden sich darunter Könige, Kirchenfürsten und Generäle als Namensgeber, auch Kaiser Wilhelm und die Hohenzollern haben bis heute ihren Platz im Gedenken der Stadt. Es hätte also viele Möglichkeiten gegeben, eine Straße in George-Floyd-Straße umzubenennen.
Warum wählt man ausgerechnet den Namen eines Mannes, der wie kaum ein anderer von den Nazis gehasst wurde, um ihn zu überkleben? Und warum findet das ohne jeden Kommentar seinen Eingang in die Mitarbeiterzeitschrift des Auswärtigen Amtes, also des Ministeriums, an dessen Spitze ein Mann steht, der von sich selbst sagt, dass er wegen Auschwitz in die Politik gegangen sei?
Weil genau das so gewollt ist. Das Bild ist ein Symbol, ein Zeichen. An die Stelle des Juden tritt die Person of Color, das ist die Botschaft.
Wir reden in diesen Tagen viel über kulturelle Aneignung. Die Grünen in Berlin haben gerade ihre Spitzenkandidatin gezwungen, sich dafür zu entschuldigen, dass sie als Kind davon geträumt hat, Indianerhäuptling zu werden. Aber ausgerechnet wenn es um den Mord an den Juden geht, fallen im linksbürgerlichen Milieu die Hemmungen.
Wobei das, was wir erleben, mit dem Wort „Aneignung“ noch zu schwach bezeichnet ist. „Überschreibung“ wäre angebrachter. Oder soll man sagen: „Ersetzung“?
Ich bin mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass der Holocaust ein einzigartiges Verbrechen ist. Der Völkermord ist keine Erfindung der Deutschen. Aber ein Volk auszulöschen, weil man glaubt, dass einen die Vorsehung dazu bestimmt habe, das hat es so noch nicht gegeben. Der Historiker Saul Friedländer nannte das den „Erlösungsantisemitismus“.
Jetzt heißt es, der Glaube an die Singularität des Judenmordes sei eine deutsche Zwangsvorstellung. Oder wie es die Ägyptologin Aleida Assmann auszudrücken beliebt: eine „Fixierung“. Und es sind nicht irgendwelche randständigen Gestalten, die finden, dass man den Holocaust neu bewerten müsse, wie der Name Assmann zeigt, sondern hochgeachtete Intellektuelle und Gelehrte.
Gerade haben zwei Professoren in der „Zeit“ unter der Überschrift „Enttabuisiert den Vergleich!“ dafür plädiert, den deutschen „Fetischismus“ mit der Ausnahmestellung von Auschwitz zu überwinden, um zu einer neuen, inklusiven Erinnerungskultur zu kommen. „Inklusiv“ ist eines dieser Worte, die alles in den Schatten stellen, auch 50 Jahre deutsche Erinnerungspolitik und -praxis.
Wer darauf besteht, dass der Holocaust einzigartig sei, der denke provinziell, so lautet das Verdikt. Ja, schlimmer noch: Er leiste dem Rassismus Vorschub, weil er die Debatte um koloniale Verbrechen abwehre.
„Nachdrücklich lehnen wir die Monopolisierung von Unterdrückungserzählungen durch Staaten wie Deutschland ab, die historisch Unterdrücker waren“, heißt es in einer Erklärung, die 1500 Künstler und Künstlerinnen unterzeichnet haben. „Wir lehnen die Vorstellung ab, dass die Leiden und Traumata von Opfern politischer und historischer Gewalt gemessen und in eine Rangfolge gebracht werden können.“
Deutlicher kann man es nicht sagen: Lange genug haben die Juden das Gedenken monopolisiert, jetzt sollen sie sich gefälligst mal hinten anstellen. Der Holocaust war schlimm. Aber das Leid der Schwarzen war mindestens genauso schlimm.
Es gab schon einmal jemanden, der die Singularität der Judenvernichtung infrage stellte. Der Name des Mannes war Ernst Nolte. Seine Interventionen, dass der Gulag, also der Mord der Bolschewiki an den Revolutionsfeinden, ursprünglicher gewesen sei als der Holocaust, führten zu einer der schärfsten Debatten der Nachkriegszeit. Als die Sache entschieden war, galt Nolte als Geächteter.
Vor vier Jahren reichte die Erinnerung daran noch, damit der „Spiegel“ in Panik die Bestsellerliste änderte, als dort ein Buch des Historikers Rolf Peter Sieferle auftauchte. Sieferle hatte den Holocaust als „Mythos“ bezeichnet – nicht in dem Sinne, dass es sich um eine Erfindung handeln würde, sondern dass er im Erinnerungsraum der Deutschen den Status von etwas Quasi-Religiösem eingenommen habe. Vom „Mythos“ zur „Fixierung“ beziehungsweise zum „Fetisch“ ist es nur ein kleiner Schritt.
Wer hätte gedacht, dass die Schublade noch einmal geöffnet werden würde, dieses Mal unter politisch umgedrehten Vorzeichen. Offenbar kommt es darauf an, was man beweisen will, damit das, was eben noch geächtet war, plötzlich als wegweisend gilt. Wenn es dar um geht, den Kolonialismus als das ursprünglichere Menschheitsverbrechen zu etablieren, scheint jedes Mittel recht, auch die erinnerungspolitische Wende.
Dass die Juden im Opfergedenken den ersten Platz einnehmen, war in Teilen des migrantischen Milieus immer schon ein Ärgernis. Der Satz, dass die Muslime die Juden von heute seien, ist nicht nur so dahingesagt. Angesichts des manifesten Antisemitismus in der muslimischen Welt könnte man es als Fortschritt betrachten, wenn sich der Aggressor mit dem Objekt seiner Aggression identifiziert. Aber so ist das selbstverständlich nicht gemeint. Erstrebenswert erscheint allein der mit der Pogromgeschichte verbundene Opferstatus.
Vielleicht ist es an der Zeit, Stopp zu sagen. Man muss nicht jede Unverschämtheit akzeptieren, nur weil jemand erklärt, er habe ebenfalls Diskriminierung erlebt. Ein Argument lautet, Deutsche mit Migrationserfahrung hätten andere Probleme und andere Familiengeschichten. Aber auch von einer Person of Color kann man verlangen, dass sie die Geschichte des Dritten Reichs kennt, zumal wenn sie Deutschland im Ausland vertritt.
Vor allem: Was folgt daraus für die Mehrheitsgesellschaft? Kaum ein Deutscher hat Vorfahren, die einen Fuß nach Namibia oder Tansania gesetzt haben. Das koloniale Erbe Deutschlands ist relativ überschaubar. Man kann natürlich behaupten, dass Verantwortung unabhängig von der konkreten historischen Schuld besteht. Aber wer die Erinnerungskultur in dieser Weise globalisiert, landet in der Abstraktion. Dann gibt es irgendwann auch keine Täter und Opfer mehr, weil jeder Mensch irgendwie schuldig ist.
Das Auswärtige Amt hat in der Dezembernummer des „intern AA“ dem George-Floyd-Bild eine Fußnote folgen lassen. Selbstverständlich habe man mit der Veröffentlichung nicht eine Erinnerungskultur gegen eine andere einführen oder die posthume Ehrung von Bernhard Weiß infrage stellen wollen, heißt es darin knapp.
Für Juni ist jetzt die nächste Ausgabe der „Diplomats of Color“ geplant.