Worum geht es Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht mit ihrem Friedensaufruf? Um ein Überleben der Ukraine? Nichts könnte die beiden weniger interessieren. Nein, es geht ihnen zunächst einmal um sich selbst.
Ich habe länger überlegt, ob ich diese Kolumne schreiben soll. Ich schreibe normalerweise nicht schlecht über Leute, über die bereits halb Twitter-Deutschland hergefallen ist. Außerdem war Alice Schwarzer, um die es hier gehen wird, eine Heldin meiner Kindheit.
Ich war dreizehn Jahre alt, als sie in mein Leben trat. Als ich meiner Mutter wie jede Woche die Wäsche reichte, sah sie mich kurz an, gab mir dann das Wäschebündel zurück und sagte: „Ab jetzt bist du alt genug, für dich selbst zu sorgen.“ Damit hatte die Lektüre der „Emma“ (meine Mutter war Abonnentin der ersten Stunde) auch in meinem Elternhaus die Verhältnisse umgekrempelt.
Ich verdanke Alice Schwarzer nicht nur eine ordentliche feministische Erziehung. Ich gehöre darüber hinaus zu einer Generation von Männern, die umstandslos mitemanzipiert wurden. Was Hausarbeit angeht, kann ich bis heute sehr pingelig sei. Expertentum und Pedanterie liegen nah beieinander.
Anders als viele meiner Altersgenossen habe ich Schwarzer immer bewundert – für ihren Mut, ihre Frechheit, auch ihren Starrsinn. Ohne Schwarzer hätte es den Feminismus so in Deutschland nicht gegeben, jedenfalls nicht so schnell. Sie hatte ja außerdem meist recht. Sie sehen, mich verbindet ein starkes sentimentales Band mit dieser Frau.
Aber dann stieß ich vor zwei Wochen beim Surfen im Netz auf ein Video, in dem sie neben Sahra Wagenknecht stand und ein „Manifest für den Frieden“ vorstellte. Beide Frauen lachen in die Kamera. Sie knuffen und herzen sich. Vor allem Schwarzer scheint bester Stimmung. „Manche von euch sind vermutlich überrascht, mich hier mit Sahra Wagenknecht Schulter an Schulter zu sehen“, sagt sie strahlend in die Kamera.
Mir geht das Bild der lachenden Alice seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Immer wenn ich Meldungen aus der Ukraine lese, sehe ich diesen Ausbund an guter Laune. Es ist wie ein Fluch. Ich lese über gefallene Soldaten oder verschleppte Kinder – und zack ploppt das Bild der fröhlichen Alice vor meinem geistigen Auge auf.
Worüber lacht Frau Schwarzer? Was verschafft ihr so gute Laune? Sie selbst sagt, dass es einen sehr ernsten Grund für ihre Intervention gebe, nämlich das Sterben und die Zerstörung in der Ukraine. Das sind ihre Worte. Aber sie stehen in eigenartigem Kontrast zu ihrem sonnigen Auftritt.
Ich glaube, was sie in dem Moment mit einer Freude erfüllt, die den ganzen Raum erhellt, ist die Aussicht, endlich wieder im Zentrum des medialen Interesses zu stehen. Alice Schwarzer ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, welchen Wert es hat, wenn sie sich mit Sahra Wagenknecht zusammentut. Zwei Supernovas des Ich-Geschäfts gegen die Waffendeppen der Bundesregierung – da kann selbst das Talkshowduo Welzer / Precht einpacken!
Wir sind alle gegen den Krieg. Ich kenne niemanden, der sich darüber freut, dass in der Ukraine das Sterben weitergeht. Selbst die sogenannten Kriegstreiber wünschen sich ein Ende des Leids. Ich will sogar doppelt so viel Frieden wie Wagenknecht und Schwarzer. Ich war schon Teil der deutschen Friedensbewegung, da ist Frau Wagenknecht noch mit dem FDJ-Holzgewehr um den Sandkasten gelaufen.
Ich verstehe auch, dass Leute Angst haben. Putin ist alles zuzutrauen. Wird er als Nächstes Dresden überfallen, falls sich Deutschland nicht raushält, wie seine Propagandisten verkünden? Niemand weiß es.
Der Punkt, an dem die Meinungen auseinandergehen, ist die Frage, wie man das Töten beendet. Leute wie ich sind der Meinung, dass es erst Aussicht auf Frieden gibt, wenn man die Einsatzfähigkeit der russischen Armee so weit dezimiert hat, dass sie für die nächsten fünf, sechs Jahre keinen weiteren Angriffskrieg führen kann. Das deckt sich zufällig mit der amerikanischen Strategie in der Ukraine.
Die Friedensfreunde, die gegen mehr Waffen für die Ukraine sind, wollen es lieber nicht auf einen Showdown ankommen lassen. Sie glauben, dass man zu einem Waffenstillstand finden kann, wenn man die Hand nach Moskau ausstreckt. Was in fünf Jahren ist, sieht man dann, sagen sie. Ich halte beide Standpunkte für legitim, auch wenn ich nicht erkennen kann, dass der Mann im Kreml Interesse an Verhandlungen zeigt.
Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht geht es aber gar nicht um den Krieg, das ist der Witz dabei. Sie sagen zwar, wie sehr ihnen die Ukraine am Herzen liege. Aber das ist Gerede. Ein paar Beileidsbekundungen, die man sich abquetscht, damit der Friedensappell nicht ganz so trostlos wirkt. Ihnen geht es darum, eine neue politische Bewegung zu formen. Endlich wieder ganz vorne in der ersten Reihe mitspielen: Das ist es, was ihr Herz höherschlagen lässt.
Ich habe vor ein paar Tagen einen Kurzfilm über die vielleicht größte Tragödie dieses Krieges, die massenhafte Deportation von Kindern, gesehen. Die Verschleppung ukrainischer Kinder in das russische Hinterland hat biblische Ausmaße genommen. Zehntausende wurden ihren Eltern entrissen und Adoptiveltern in Russland übergeben. Sie bekamen neue Namen und Pässe, und wie es aussieht, wird es für sie nie mehr einen Weg zurück zu ihren Familien geben.
In dem Film sieht man, wie vermummte Soldaten Kindergärten und Krankenhäuser durchkämmen. Sie gucken unter jedes Bett und in jeden Schrank, ob sich da jemand versteckt hält. Ist davon an irgendeiner Stelle im „Manifest für den Frieden“ die Rede? Nein, natürlich nicht. Dann müsste man sich ja auf eine Diskussion über die Natur des Feindes einlassen, mit dem man es zu tun hat.
Ich kann sogar verstehen, wenn Leute sagen, wir sollten uns raushalten, weil wir nichts mit der Ukraine zu schaffen haben. Ich bin dezidiert anderer Meinung. Ich glaube im Gegensatz zu denjenigen, die die Ukraine am liebsten sich selbst überlassen würden, dass Putin nicht haltmacht, wenn er Kiew gefressen hat. Aber es gibt keinen Beistandspakt, nach dem wir zur Hilfe verpflichtet wären. Die Ukraine ist nicht Teil der Nato, sie ist nicht einmal in der EU.
Aber so reden Schwarzer und Wagenknecht nicht. So kalt und herzlos wollen sie dann doch nicht erscheinen. Sie verweisen im Gegenteil auf die Solidarität mit dem ukrainischen Volk. Gerade aus „Solidarität“ mit der Ukraine müsse man weiteren Waffenlieferungen entgegentreten und die „Eskalation“ der Waffen stoppen. So steht es in ihrem Aufruf. Das ist allerdings eine Form des sprachlichen Sadismus, da ist mir jede Krämerseele lieber.
Wie soll ich meine Gefühle beschreiben? Ich bin selten wütend, schon gar nicht über Politiker. Ich bin auch so gut wie nie empört. Wenn ich lese, dass jemand als Journalist über eine Äußerung schockiert oder entsetzt sei, denke ich insgeheim: Job verfehlt. Aber in dem Fall spüre in mir so etwas wie Wut aufsteigen, ich kann es nicht leugnen.
Wagenknecht ist für mich eine Machtpolitikerin, die bei allem, was sie tut, vorher kalkuliert, was es ihr bringt. Ich sehe in ihre Augen und ich sehe das schwarze Herz der Leninistin. Aber Schwarzer? Narzissmus und Idealismus gingen bei ihr stets Hand in Hand. Ihr politischer Kampf war immer eng mit dem Interesse an der eigenen Person verknüpft. Jetzt ist nur noch Narzissmus übrig.
Ein Freund sagte, er wünsche sich, Schwarzer und Wagenknecht wären dazu verurteilt, einen Tag russisches Propagandafernsehen zu schauen, diesen Mahlstrom an Lüge, Verleumdung und Vernichtungsfantasien. Aus ihren genozidalen Wünschen machen sie in Moskau gar kein Hehl. Dass man die ukrainischen Frauen vergewaltigen, ihre Kinder versklaven und die Männer alle umbringen müsse, wird dort als kleiner TV-Happen zum Nachmittagstee gereicht.
Aber vermutlich hätte es überhaupt keinen Effekt. Vermutlich würden die zwei Damen aufstehen und sagen, dass sie jetzt erst recht von ihrem Appell überzeugt seien. Das Fehlen jeder Empathie hat einen Vorzug: Es erlaubt einem, völlig unbeeinträchtigt von Mitleid durchs Leben zu schreiten.
© Michael Szyszka