Empathieverbot

Darf man sich als Schauspieler oder Schriftsteller in andere Menschen hineinversetzen? Die neue Theorie sagt: nein, wenn es sich um Angehörige von Randgruppen oder fernen Kulturen handelt, auf keinen Fall. Das wäre das Ende der Kunst

Die Schauspielerin Halle Berry musste sich entschuldigen. Sie hatte in einem Interview angekündigt, dass sie demnächst eine Frau spielen werde, die sich in einen Mann verwandelt. Große Aufregung in der Transgender- Community. Halle Berry könne die Erfahrungen eines Transsexuellen gar nicht nachvollziehen, lautete der Vorwurf. Außerdem würde sie einem echten Transgender-Schauspieler die Rolle stehlen.

Es täte ihr furchtbar leid, erklärte Frau Berry daraufhin. Sie hätte als eine „Cisgender-Frau“ niemals die Rolle in Betracht ziehen dürfen, das sei ihr jetzt klar geworden. „Die Transgender-Gemeinschaft sollte unangefochten die Chance haben, selbst ihre Geschichten zu erzählen.“ Für Uneingeweihte: „Cisgender-Frau“ ist der Begriff für Frauen, die glauben, dass sie Frauen sind und nichts anderes.

Frau Berry hätte gewarnt sein können. Das Gleiche ist vor zwei Jahren schon Scarlett Johansson passiert. In dem Fall ging es um die Rolle einer Frau, die als Mafiosi lebt und Massagesalons als Tarnung für Bordelle nutzt. „Rub & Tug“ hieß das Projekt, es beruhte auf der Lebensgeschichte des Zuhälters Dante „Tex“ Gill. Mit dem Geld aus der Prostitution bezahlte er später seine Geschlechtsumwandlung. Ein Stoff wie gemacht fürs Kino.

Scarlett Johansson hat in ihrem Leben schon alles Mögliche gespielt: eine einfältige Journalistin, die Schwester der englischen Königin Anne Boleyn, ein Computerprogramm, eine Außerirdische, eine Superheldin. Aber Scarlett Johansson als eine Frau, die eigentlich ein Mann ist? Undenkbar. Die Schauspielerin gab aufgrund der Proteste umgehend ihre Rolle zurück. Unnötig zu sagen, dass man nie wieder etwas von dem Film gehört hat, weil die Finanzierung nach ihrem Rückzug auseinanderfiel.

So wie vermutlich auch aus dem Projekt mit Halle Berry nichts werden wird. Aber immer noch besser kein Film über eine Frau, die als Mann lebt, als eine mit den falschen Stars.

Vermutlich gingen Sie bislang davon aus, dass es die Aufgabe eines Schauspielers sei, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Wer will es Ihnen verdenken? Es gibt in Hollywood Tausende von Experten, die mit künstlichen Haaren, Maske und Kostüm Schauspielern dabei helfen, möglichst glaubwürdig jemand zu verkörpern, der sie nicht sind: alte Menschen, junge Menschen, Dicke, Dünne, Zombies, Aliens. Einmal im Jahr wird sogar ein Preis dafür vergeben, wem es am besten gelang, in eine fremde Haut zu schlüpfen. Der Preis heißt Oscar.

Sorry, aber das ist die Welt von gestern. Wenn meine Freundin Maskenbildnerin wäre, würde ich ihr raten, sich schleunigst nach einem neuen Job umzusehen. Demnächst spielen nur noch Frauen Frauen, nur noch Alte Alte, und Dicke werden nur noch von Dicken dargestellt. Gut, Außerirdische und Zombies bleiben als Rolle, die haben noch keine Community, die ihre Interessen vertritt. Aber die Marktlücke ist halt sehr klein.

Das Konzept, das Halle Berry und Scarlett Johansson zum Verhängnis wurde, heißt „Cultural Appropriation“ oder zu Deutsch: „kulturelle Aneignung“. Es kommt wie alles, was derzeit als neu und fortschrittlich gilt, von den amerikanischen Hochschulen und besagt in Kürze, dass man Mitglieder von Minderheiten entrechtet, wenn man so tut, als wäre man sie. Der Begriff der Entrechtung ist dabei sehr weit gefasst. Um sich der kulturellen Aneignung schuldig zu machen, reicht es schon, dass man einen Tanz imitiert, der einem gefällt, oder sich so kleidet wie jemand aus einer anderen sozialen Gruppe oder bestimmte Worte benutzt, die in einer bestimmten Szene oder Subkultur gerade angesagt sind.

Ich würde Sie nicht behelligen, wenn die ersten Ausläufer dieser Theorie nicht bereits Deutschland erreicht hätten. Vergangenes Jahr ging ein Hamburger Kindergarten durch die Zeitungen, weil die Erzieher den Eltern empfohlen hatten, auf Indianerkostüme zu verzichten. Stattdessen sollten die Kinder weiße T-Shirts mitbringen, die sie dann bunt bemalten.

Nach meiner Erfahrung wird es nicht mehr lange dauern, bis die ersten Broschüren der Amadeu Antonio Stiftung aus Berlin über die richtige Kostümierung zu Fasching erscheinen. Keine Kindergärtnerin will in Verdacht geraten, die Gefühle anderer Menschen zu verletzen, schon gar nicht die von toten Indianern. Auch für Hexen, Piraten und arabische Prinzen sehe ich, was die Zukunft angeht, schwarz.

Am besten spielt man nur sich, das ist ungefährlich. Und schreibt auch nur noch über sich selbst. Vor ein paar Monaten ist in den USA ein Roman mit dem Titel „American Dirt“ erschienen, in dem die Autorin das Schicksal mexikanischer Migranten schildert. Das Interesse war schon vor Erscheinen riesengroß. Die Verlage überboten sich gegenseitig bei den Abdruckrechten, die Schauspielerin Salma Hayek posierte mit dem Buchcover auf Instagram.

Dann meldeten sich hispanische Autoren zu Wort und fragten, wie es denn sein könne, dass eine weiße Frau aus der Mittelschicht das Elend migrantischer Arbeiter beschreibe. Salma Hayek erklärte, sie habe das Buch gar nicht richtig gelesen, was man ihr sofort abnahm. Auch an Frau Hayek geht das Alter nicht spurlos vorbei. Sie sieht fantastisch aus für ihre 53 Jahre, aber in dem Alter ist Lesen für eine Schauspielerin nicht mehr ungefährlich. Diese endlosen Reihen winziger Buchstaben: Da kneift man schnell mal die Augen zusammen, was sich fatal auf die Faltenbildung auswirkt.

„American Dirt“ gilt jedenfalls als Sündenfall. Ich bin gespannt, wann wir anfangen, rückwärts zu denken. „Madame Bovary“ von Gustave Flaubert: ein Mann, der sich in eine von ihrem Gatten gelangweilte Arztgattin in der französischen Provinz hineinversetzt? Oder „Oliver Twist“ von Charles Dickens: ein Mann, der die Sicht eines armes Waisenkinds in London einnimmt? Oder „Die Blechtrommel“ von Günter Grass: ein Mann, der die Welt aus der Perspektive eines wachstumsgestörten Kindes beschreibt? Machen Sie schon mal Platz im Bücherregal, wäre mein Tipp.

Cultural Appropriation hat auch seine komischen Seiten. Als eifriger Twitter-Leser stieß ich vor zwei Wochen auf die Frage einer jungen Frau, wie es sich denn mit Rastazöpfen verhalte. Sie frage sich, ob sie zu „weiß“ dafür sei, obwohl ein Elternteil von ihr aus Afrika stamme. Die Antwort fiel nuanciert aus. Wenn ihr Vater Schwarzafrikaner sei, gehe das mit den Rastazöpfen in Ordnung. Sei sie hingegen eine weiße Afrikanerin, wäre das wirklich problematisch. „Bist du schwarz oder of color? Haben deine Eltern und Großeltern historisch diese Frisuren getragen?“, das sei die entscheidende Frage. Twitter hat einen schlechten Ruf, aber wie man sieht, ist auch praktische Lebenshilfe möglich.

Ich fürchte, es kommen harte Zeiten auf die Tattooszene zu. Viele Motive sind anderen Kulturen entlehnt, angefangen bei den Tribalmustern ferner Südseestämme. Auch die bei der Jugend beliebten Ohrtunnel stammen, soweit ich das beurteilen kann, nicht aus dem germanischen Kulturraum. Die Regermanisierung beim Körperschmuck hielte ich für eine begrüßenswerte Entwicklung. Mich hat es immer schon irritiert, wenn der Kellner in seinen Ohrläppchen Löcher hat, durch die man ein Matchbox-Auto fahren könnte.

Die Pointe des Denkens in kulturellen Sonderzonen ist, dass es zum Verwechseln dem bei den radikalen Rechten ähnelt. Wenn es etwas gibt, was Rechte nicht ausstehen können, dann die Idee des Universalismus, diese erstaunliche Gabe, sich in fremde Menschen hineinversetzen zu können, in ihr Glück, ihr Unglück, auch das Unrecht, das ihnen möglicherweise widerfährt. In der identitären Vorstellung sind die Kulturen streng getrennt und sollten das auch bleiben. Empathie ist in dieser Welt kein Wert, sondern ein Schimpfwort.

Irgendein Witzbold hat dem Tweet der Frau mit den Rastazöpfen ein Bild von Martin Sellner, einem der Anführer der identitären Bewegung von rechts, gegenübergestellt. Überschrift: „Ethnopluralisten unter sich“. Die Zahl der Likes hielt sich hier in Grenzen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert