Alle sind gerade der Meinung, dass Dritte-Reich-Vergleiche gar nicht gehen. Einverstanden. Aber warum sind ausgerechnet die Leute besonders streng, die ansonsten jeden, dessen Meinung sie nicht teilen, einen Nazi nennen?
Seine Vergleiche hinken wie Goebbels, hat die Autorin Samira El Ouassil einmal über mich geschrieben. Ich fand das ganz lustig. Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich nicht eigentlich empört sein müsste. Ein Goebbels-Vergleich, und das unter Kollegen – fällt das nicht unter Verharmlosung der Geschichte? Oder geht das gerade noch als Witz durch und liegt damit haarscharf im Bereich des Erlaubten?
Man kann mit Dritte-Reich-Vergleichen nicht vorsichtig genug sein. Am Wochenende machte ein Videoclip die Runde, in dem man eine junge Frau auf einer Bühne in Hannover sah, wo sie zu Teilnehmern der sogenannten „Querdenken“-Proteste sprach.
„Ja, hallo, ich bin Jana aus Kassel“, stellte sie sich vor, um dann umstandslos mitzuteilen, dass sie sich wie Sophie Scholl fühle, da sie seit Monaten aktiv im Widerstand tätig sei. Sie sei ein sehr lieber Mensch und werde nie aufhören, sich für Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit einzusetzen, weshalb sie auch Reden halte, Flyer verteile, auf Demos gehe. „Ich bin 22 Jahre alt, genau wie Sophie Scholl, bevor sie den Nationalsozialisten zum Opfer fiel.“ Das kommt dabei heraus, wenn man im Geschichtsunterricht geschlafen hat, würde ich sagen. Sophie Scholl hat ebenfalls Flugblätter verteilt, das ist wahr. Anders als Angela Merkel und Markus Söder beließen es die Nazis allerdings nicht bei Maskenpflicht und Demoverboten.
Ich fürchte, wir werden den Janas demnächst noch öfter begegnen. Wenn man monatelang die Schulen zusperrt und junge Menschen sich selbst überlässt, muss man sich nicht wundern, wenn sich anschließend Wissenslücken auftun. So was kommt von so was, wie es so schön heißt.
Trotzdem Hohn und Spott auf allen Kanälen. Am Sonntag erreichte der Vorfall das Außenministerium. Es ist derzeit einiges los in der Welt. Freiheitskampf in Minsk, Krieg in Bergkarabach, in Hongkong fischen sie jetzt die Anführer des Bürgerprotests von der Straße. Aber das ist alles nichts im Vergleich zum Auftritt einer 22-Jährigen mit schütteren Geschichtskenntnissen.
„Nichts verbindet Corona-Proteste mit Widerstandskämpfer* Innen. Nichts!“, donnerte Heiko Maas Richtung Kassel beziehungsweise Hannover. „Das verharmlost den Holocaust und zeigt eine unerträgliche Geschichtsvergessenheit.“ Schade, dass sich der Bundesaußenminister in dieser Deutlichkeit nicht auch mal die Chinesen oder die Russen zur Brust nimmt. Gut, man kann nicht alles haben.
Die Welt käme prima ohne Nazivergleiche aus, darauf kann man sich sofort einigen. Man ist als Journalist oder Politiker fast immer gut beraten, eine andere Epoche zu wählen, um historische Parallelen zu ziehen.
Andererseits übt die Nazizeit rhetorisch eine geradezu zwanghafte Verführungskraft aus, weshalb der Rechtsanwalt Mike Godwin schon vor 30 Jahren eine sozialpsychologische Theorie formulierte, die als „Godwin’s Law“ Bekanntheit erlangte: Je länger eine Diskussion läuft, desto mehr nähert sich die Wahrscheinlichkeit, dass jemand auf Hitler zu sprechen kommt, hundert Prozent an.
Es gibt berühmte Vorbilder. Helmut Kohl hat seinen späteren Freund Gorbatschow mit Goebbels verglichen, die SPD-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin den US-Präsidenten George W. Bush mit Hitler. Wie gut, dass Herta Däubler-Gmelin Trump noch nicht kannte. Nicht auszudenken, welcher Vergleich ihr da eingefallen wäre.
Selbst der heilige Willy Brandt ließ sich dazu hinreißen, ins Nazifach zu greifen, als er Heiner Geißler einen modernen Goebbels nannte.
Heiner Geißler wiederum hat politisch sogar drei Goebbels-Vergleiche überlebt, zwei passive und einen aktiven. Zu seiner Zeit gab es Heiko Maas noch nicht, muss man fairerweise hinzufügen.
Große Fans des Nazivergleichs sind naturgemäß auch unsere europäischen Nachbarn. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit stecken sie deutsche Politiker in Naziuniformen, um für die angemessene moralische Fallhöhe zu sorgen.
Auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise sprach der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras von „sozialem Holocaust“, den die Kreditgeber seinem Land zumuten würden, in dem Fall übrigens, ohne dass ihn die SPD-Grundsatzkommission oder das Außenministerium zur Rede gestellt hätten.
Mir wäre es umgekehrt lieber: die Leute wüssten mehr vom Dritten Reich, und wir wären dafür bei schiefen Vergleichen etwas gelassener. Nur weil jemand einen Menschen, den er nicht leiden kann, mit einer NS-Größe in Zusammenhang bringt, stehen wir nicht gleich wieder mit einem Bein im Dritten Reich. Meine Meinung. Interessanterweise kennen in dem Punkt ausgerechnet die Leute kein Pardon, die bei anderer Gelegenheit jeden, dessen Meinung sie nicht teilen, sofort einen Nazi nennen, womit sie ja den Nazivergleich par excellence nutzen, nicht wahr? Die „Welt“ hat vor ein paar Tagen einem Text über „Fridays for Future“ die Überschrift „Wollt ihr die totale Angst?“ verpasst.
Große Aufregung! Deutschland 1943!! Sportpalastrede!!! Sie sei schockiert, ließ sich die „Fridays for Future“-Anführerin Luisa Neubauer vernehmen. Glaubt man ihr unbesehen.
Unter Klimaaktivisten ist man grundsätzlich schnell erschüttert, das ist dort der Modus Operandi.
Andererseits nimmt man in dieser Welt Holocaust-Vergleiche erstaunlich gelassen hin. Wenn die ARD ein Science-Fiction-Drama über den Klimawandel „Ökozid“ nennt und diesen dann in einer Art Nürnberger Prozess vor einem internationalen Gerichtshof verhandeln lässt, ist das keine Verharmlosung des Holocausts, wie die „Jüdische Allgemeine“ meint, sondern ein wichtiger Beitrag zu einer der drängenden Fragen der Zeit. Es kommt halt ganz darauf an, wer wen mit wem vergleicht.
Immerhin, KZ-Vergleiche sind auch bei den Linken inzwischen verpönt. Seit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Frage negativ beschied, ob es zulässig sei, das Schicksal von Hühnern mit dem von KZ-Häftlingen gleichzusetzen, gelten Peta-Aktionen wie „Der Holocaust auf Ihrem Teller“ in der Szene als zumindest zweifelhaft.
Die gehobene Ebene des Nazivergleichs ist die Inanspruchnahme der Geschichte zur Aufwertung der eigenen Agenda. Dass man etwas tue (oder unterlasse), weil es die Geschichte von einem verlange, ist ein fester Bestandteil politischer Rhetorik. „Nie wieder Auschwitz“ ist das Ground Zero der Argumente. Der Einmarsch im Kosovo lässt sich daraus ebenso ableiten wie das Gegenteil, sich grundsätzlich an keinem Kriegseinsatz zu beteiligen.
Das Gegenteil des Nazivergleichs ist der Bannfluch über Begriffe, gewissermaßen der Nazivergleich ex negativo.
Wer ein Wort benutzt, das sich bei den Nazis gewisser Beliebtheit erfreute, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, er benutze Nazisprache.
Unvergessen der Satz, mit dem Johannes B. Kerner die unglückliche Eva Herman aus seiner Sendung scheuchte: „Autobahn geht gar nicht.“ Auch „Kraft durch Freude“ und „Reichsparteitag“ sind Begriffe, die man besser vermeiden sollte. Soziale Errungenschaften sind glücklicherweise nicht betroffen. Bis heute darf man gefahrlos Muttertag feiern und den 1. Mai begehen, ohne dass jemand kommt und sagt: Nazifeiertag! Ich bin gespannt, wann das Vergleichsverbot auf DDR-Vergleiche ausgeweitet wird.
Erste Ansätze dazu gibt es. Als der CDU-Politiker Arnold Vaatz das Kleinrechnen der Corona-Proteste mit dem Vorgehen der DDR-Medien verglich, handelte er sich sofort eine scharfe Ermahnung ein.
Auch alle Versuche, die Politik des Berliner Senats mit der DDR in Verbindung zu bringen, stoßen auf Widerstand (Linken-Politikerin Julia Schramm: „Wer den Mietendeckel mit Stasimethoden vergleicht, hat genauso ’nen Schatten wie Jana aus Kassel“). Ob es sich bei diesem Vergleich nach Meinung der Kritiker um eine Verunglimpfung der DDR Diktatur handelt oder um eine unzulässige Herabsetzung des Berliner Senats, lassen wir dahingestellt.