Glaubt man einer neuen, nachrückenden Generation von Journalisten, dann denkt die Jugend von heute queer, grün und gendergerecht. Wie sich zeigt, ist das ein großer Irrtum – mit ernsten Folgen für Politik und Medien
Ein Freund rief an, um mich auf einen Text bei „Bento“ aufmerksam zu machen. Für alle Leser, die nicht auf Anhieb wissen, wovon die Rede ist: „Bento“ ist die junge, digitale Ausgabe des „Spiegel“. Eine Art Online-„Bravo“ für die Generation Y. Oder sind wir inzwischen bei der Generation Z angelangt? Ich glaube, ich habe bei der Generationenbenennung den Überblick verloren. Egal, in jedem Fall richtet sich der „Spiegel“ mit „Bento“ an die politisch bewusste Jugend, von der es heißt, dass wir mehr auf sie hören sollten.
Der Freund ist verheiratet und hat drei Kinder im Schulalter. Er ist also eindeutig über das „Bento“-Alter hinaus. Aber ich habe den Eindruck, er liest alles, was dort steht. Es ist wie eine Sucht. Manche Menschen begeistern sich für Zierfische. Andere wollen so viel wie möglich über das geheime Leben der Bäume wissen. Sein Hobby sind die Zwangsideen der sogenannten Millennials.
Ich kann ihn in gewisser Weise verstehen. Wenn es „Bento“ nicht gäbe, müsste man es erfinden. Wo sonst bekommt man einen so tiefen Einblick in die Lebens- und Vorstellungswelt junger, politisch nachhaltig sozialisierter Menschen? Ich finde schon den Titel genial. Klingt wie eine dieser Sushi-Boxen, die sie am Flughafen anbieten. Total gesund und trotzdem hip.
Eine typische Woche auf „Bento“ geht so: Am Montag berichtet eine Autorin über die Angst, auf die Straße zu gehen, weil sie am Tag zuvor beim Coffee-Shop den Kaffee aus Nachlässigkeit in einen Pappbecher hat füllen lassen, statt wie sonst in einen ihrer eigenen Mehrweg-Coffee-togo- Cups, von denen sie im Übrigen drei besitzt, wie sie die Leser wissen lässt, damit ihr genau ein solches Missgeschick nicht passiert. Jetzt fürchtet sie, dass eine riesige Empörungswelle über ihr zusammenschlägt, weil jemand sie mit dem Pappbecher gesehen hat, was wiederum auf „Bento“ zu 200 Zeilen über „Meine Angst vor dem Shitstorm“ führt.
Tags darauf geht ein Redakteur der Frage nach, was es über ihn aussagt, wenn er noch nie eine schwarze Freundin hatte (oder war das die „Zeit“?). Dann macht sich eine Redakteurin Vorwürfe, dass sie auf Partys manchmal einfach ein Glas Wein trinkt, statt die Umstehenden mit Fragen zu löchern, warum sie nicht die Hälfte ihres Gehalts zur Linderung des Elends in Afrika spenden. Der Artikel endet mit dem Versprechen, sich keine Pause mehr zu gönnen, auch nicht auf Partys. Nie wieder Wein statt Armutstalk, nie wieder belangloses Geplänkel: „Ich weiß, dass ich damit aufhören muss. Weil es das absolut Mindeste ist, was ich tun kann.“
Was das politische Bewusstsein angeht, ist der „Bento“- Redakteur kaum zu toppen. In der Hinsicht macht ihm so schnell keiner was vor. Leider korrespondiert die Bewusstseinsstufe nicht mit der ökonomischen Anerkennung. Vor ein paar Wochen hat der „Spiegel“ verkündet, die Seite einstellen zu wollen, wegen Erfolglosigkeit. Im Herbst ist Schluss, dann müssen sich die Redakteure nach einem neuen Job umsehen.
Auch ein paar Straßen weiter, am Hamburger Speersort bei der erfolgsverwöhnten „Zeit“, hat man sich entschlossen, den Jugendableger stillzulegen. „Ze.tt“ heißt das Angebot dort. Es ist im Prinzip das Gleiche wie „Bento“, nur noch ökobewusster und veganer. Auch hier heißt es, dass man für das hoffnungsvoll gestartete Programm leider keine wirtschaftliche Perspektive sehe.
Die Einstellungsankündigungen wurden in den Branchendiensten vermerkt, aber darüber hinaus haben sie kaum Beachtung gefunden. Ich halte das für einen Fehler. Ich glaube, dass sich aus dem Ende für die politisch korrekten Jugendmagazine etwas Grundsätzliches ableiten lässt. Das Aus für „Bento“ und „Ze.tt“ ist aus meiner Sicht nicht nur eine Niederlage für eine bestimmte Form des journalistischen Aktivismus: Es lässt ganz prinzipiell Rückschlüsse zu auf die Attraktivität von politischen Angeboten, denen angeblich die Zukunft gehört.
Wenn man die Grüne Jugend ein Magazin erstellen ließe, sähe es ziemlich genau so aus wie die von „Spiegel“ und „Zeit“ ersonnenen Millennial-Ausgaben. In anderen Redaktionen heißen die Ressorts „Wirtschaft“, „Politik“ oder „Leben“. Hier nennen sie sich „Gerechtigkeit“, „Inklusion“ und „Gefühl“. „Was willst du später mal werden, wenn du mit dem Studium fertig bist?“ „Ressortleiter Gefühl.“ Wenn das kein Lebenstraum ist! Natürlich wird auch gegendert, bis es kracht, und jeder Minderheit gehuldigt, sei sie noch so klein.
Von außen betrachtet mag das eine oder andere etwas überspannt wirken. Aber man sollte sich nicht täuschen: Was bei den Jugendausgaben in exaltierter Form hervortritt, ist für eine ganze Generation von Journalisten inzwischen Leitlinie. Die 30- bis 35-Jährigen, die jetzt in die Redaktionen drängen, beherrschen all e das Vokabular d es akademischen Milieus, dem sie entstammen, eine Mischung aus Politsoziologendeutsch und Befindlichkeitssprache, die stets ein wenig geschwollen klingt, aber eben auch sehr bedeutend und vor allem wahnsinnig einfühlsam.
Auf der Suche nach einer Erklärung für das Scheitern heißt es jetzt, die Corona-Krise habe die ökonomischen Aussichten verdüstert. Aber das ist Unsinn. Corona ist nur der Anlass, die Einstellung zu verkünden. In Wahrheit haben die Jugendplattformen nie die Quoten gehabt, die es brauchte, um einigermaßen kostendeckend zu arbeiten. „Bento“ und „Ze.tt“ lebten von der Behauptung, eine Generation zu vertreten, die queer, grün und gendergerecht denkt. Wie sich zeigt, ist diese Generation nicht viel größer als der Studiengang, dem seine Protagonisten entstammen.
Das Internet kann brutal sein. Solange man keine verlässlichen Zahlen hat, darf jeder an seine eigene Wahrheit und auch Wichtigkeit glauben. Ich habe noch nie einen Leitartikel- Schreiber getroffen, der nicht selbstverständlich davon ausging, dass der geneigte Leser als Erstes den Blick auf seinen donnernden Kommentar richten würde, wie die Kanzlerin den Konflikt im Südchinesischen Meer lösen müsse. In der Online-Welt weiß man bis auf den letzten Klick, wie viele Leser wirklich interessiert, was die Kanzlerin jetzt im Südchinesischen Meer tun sollte.
Die Desillusionierung durch die Zahlen ist altersunabhängig. Sie trifft die junge migrantisch bewegte Feministin, die denkt, dass die ganze Welt Anteil an ihrem Schicksal nimmt, ebenso wie den von ihr verachteten alten weißen Mann. Man kann sich auch nicht mehr damit herausreden, dass einen das Old-Boys-Netzwerk davon abgehalten hätte, groß herauszukommen. Alles, was es heute braucht, um berühmt zu werden, ist ein Podigee-Abo oder ein WordPress-Account.
Dass man aus dem Stand heraus zum Netzphänomen werden kann, hat gerade die Stand-up-Komödiantin Sarah Cooper mit ihren Trump-Imitationen bewiesen. Jedes ihrer über TikTok verbreiteten Videos erreicht ein paar Millionen Menschen. Wenn das Genderprogramm eine solche Granate wäre, wie immer behauptet, dann müssten die Zahlen auch hier durch die Decke gehen. In Wahrheit schaffen es die Betreiber netzfeministischer Blogs kaum, ihre Serverkosten zu decken. Es braucht eben etwas mehr als Gesinnung, um sich durchzusetzen. Witz und Sprachtalent wären, zum Beispiel, ganz hilfreich.
Das Phänomen der relativen Größe lässt sich auch im politischen Raum beobachten. Nur weil ein Thema auf dem Strategiekongress der Jusos ein Riesenhit ist, heißt nicht, dass es auch die Wähler begeistert. Oft verhält es sich sogar genau umgekehrt. Wie viele Leute mögen vergangene Woche beim Großskandal um Sigmar Gabriel mitgefiebert haben? Oder davor bei der medialen Riesenaufregung um Philipp Amthor? Ich kenne das aus Redaktionskonferenzen, wo sich Leute die Köpfe über ein Thema heißreden, das außerhalb des Konferenzraums nur mäßig interessiert. Wurde lange genug gestritten, fällt unweigerlich der Satz, dass die Diskussion zeige, wie wichtig das Thema sei.
Man nennt das einen Zirkelschluss. Er kann bei Leuten, die auf das Interesse des Publikums angewiesen sind, kreuzgefährlich sein.