Seit 1945 galt der Abstammungsnachweis in Deutschland als geschichtlicher Irrweg. Mit der Anti-Rassismus-Bewegung ist er zurück
Vor zwei Jahren kam man im Stadtrat für Berlin-Wedding auf die Idee, eine Straße nach einer Königin aus dem 17. Jahrhundert zu benennen. Ana Nzinga, so ihr Name, hatte über Ndongo und Matamba geherrscht, das heutige Angola. Sie hatte erfolgreich die Portugiesen in Schach gehalten, dann die Holländer. Eine starke, schwarze Frau, die sich zu dem mutig den Kolonialisten in den Weg gestellt hatte? Das Straßenschild war praktisch schon angeschraubt.
Dann tauchten Fragen auf. Dass Nzinga offenbar eine herrschsüchtige, paranoide Persönlichkeit gewesen war, die ihren eigenen Bruder hatte vergiften lassen, um auf den Thron zu gelangen: Das ließ sich noch verschmerzen. So sind halt Herrscher, befanden in diesem Fall selbst die Grünen. Ein größeres Problem war, dass die Königin Macht und Reichtum offenbar ihrer Beteiligung am Sklavenhandel verdankte.
Nzinga hatte im großen Stil Landsleute einfangen lassen, um sie bei den Holländern abzuliefern, die dann die Elenden auf ihren Plantagen sich zu Tode schuften ließen. 12 000 bis 13 000 Sklaven lieferte sie im Jahr an ihre Geschäftspartner, wie Abrechnungen zeigen. Ohne Mithilfe von Stammesfürsten wie Ana Nzinga wäre der europäische Sklavenhandel im 17. Jahrhundert nicht wirklich in Schwung gekommen. Die Europäer trauten sich selten ins Landesinnere, wo sie Fieber, feindliche Stämme und der Wahnsinn der Tropen erwarteten.
Auch die Geschichte des Sklavenhandels ist komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Die Geburtsstätte ist nicht Europa, sondern das alte Mesopotamien. Und es waren auch nicht Deutsche, Holländer oder Briten, die das System des gewerbsmäßigen Handels etablierten, sondern die Araber.
Fast zehn Jahrhunderte besaßen muslimische Sklavenhändler das Monopol in Afrika. 17 Millionen Menschen sollen sie in die Gefangenschaft geführt haben. Der Anthropologe Tidiane N’Diaye kommt in seinem Buch „Der verschleierte Völkermord” zu dem Fazit, „dass der von den arabomuslimischen Räubern betriebene Sklavenhandel weitaus verheerender für Schwarzafrika war als der transatlantische”.
Geschichte holt uns immer wieder ein, auch die Geschichte des Kolonialismus. Wenn man den Wortführern der neueren Theorie glauben darf, ist dies die Ursünde, aus der alles Weitere folgt: das Elend Afrikas, der weiße Blick auf d en schwarzen Menschen, die Erniedrigung und Entrechtung großer Teile der Menschheit, die bis heute anhält. Die Deutschen mögen mit Verspätung zum Kreis der Kolonialmächte gestoßen sein, aber auch sie haben sich schuldig gemacht, weshalb das Thema bei uns ebenfalls an Fahrt gewinnt.
Was Rassismus sei beziehungsweise den Rassisten aus – mache, ist dabei einer radikalen Neudefinition unterworfen. Nach landläufiger Meinung ist ein Rassist jemand, der sich anderen aufgrund seiner Hautfarbe oder Herkunft überlegen fühlt. Es ist ein individueller Akt der Verblendung, dem man am besten mit Aufklärung und Erziehung beikommt. Die neue Theorie geht über diese Definition hinaus. Rassismus in seiner modernen Lesart ist keine psychologische oder ideologische Angelegenheit mehr, es ist ein theologisches Konzept, das man ohne die Zuhilfenahme religiöser Kategorien auch nicht wirklich verstehen kann.
Der weiße Mensch wird mit dem Makel des Rassismus geboren, an seiner Wiege steht die Ursünde des Kolonialismus. Niemand kann sich von dieser Schuld frei machen oder freisprechen. Es gibt kein Entrinnen. Wir sind Nachfahren der Sklavenhändler und daher Kinder des Sündenfalls. Wer wie der grüne Parteivorsitzende Robert Habeck dazu auffordert, den Rassismus aktiv zu verlernen, ist bestenfalls naiv. Wer seine Verstrickung leugnet, beweist nur, wie virulent der rassistische Gedanke in ihm ist.
Am Anfang der Besserung steht deshalb die Schuldanerkenntnis. Es ist ein bisschen wie im Bußgottesdienst: Der Weg zur Erlösung führt über die Beichte und die Bitte um Vergebung der Sünden. Wer hartnäckig darauf besteht, bei ihm sei nichts zu finden, riskiert Zurechtweisung – oder die Exkommunikation.
Vergangene Woche kündigte der Sportkonzern Adidas seiner Personalchefin Karen Parkin, der einzigen Frau im Vorstand. Parkin hatte vor einem Jahr auf einer Firmenveranstaltung gesagt, dass sie glaube, dass Rassismus bei Adidas kein großes Problem darstelle. Sie hatte sich weder abwertend über andere geäußert noch Anlass zur Vermutung gegeben, dass sie gegenüber Menschen dunkler Hautfarbe Vorurteile hege. Sie hatte unbedacht das Dogma infrage gestellt, dass eine von Weißen geführte Firma selbstverständlich ein Platz des Rassismus sein muss, wenn jeder weiße Mensch ein Rassist ist. In der Theologie des neuen Rassismus ist das ein Fehler, der entsprechend bestraft gehört.
Wenn die Hautfarbe darüber bestimmt, ob man Rassist ist, dann hängt der Grad der Schuld von der Schattierung ab. Der gängige Begriff für alle nichtweißen Menschen ist People of Color oder, in der Kurzform, PoC. Ich vermute, man entscheidet sich auch deshalb in Deutschland für die englische Variante, weil die Übersetzung „Personen von Farbe” etwas merkwürdig klingt.
People of Color scheint als Begriff eindeutig. Aber wer dazugehört und wer nicht, ist eine diffizile Angelegenheit. Schwarze sind dabei, das ist klar. Auch Inder oder Malaien. Manche Asiaten sind dunkelhäutiger, als es ein Sudanese je sein könnte.
Aber schon beim Nordafrikaner entstehen Abgrenzungsprobleme. Viele Marokkaner sind optisch kaum von einem Spanier oder Portugiesen zu unterscheiden. Und was ist mit den Türken? Niemand wird bestreiten können, dass türkisch stämmige Menschen aufgrund ihrer Herkunft Abwertung erfahren.
Trotzdem gibt es Vorbehalte, sie unter den People of Color zu summieren. Die schleswig-holsteinische Grünen-Politikerin Aminata Touré, Tochter malischer Eltern, wurde kürzlich gefragt, was sie von dem Satz halte, Deutschlands Schwarze seien die Türken. Gar nichts, sagte sie, die Schwarzen seien die Schwarzen. Was man so verstehen kann, dass bei aller Solidarität nicht vergessen werden sollte, wer aufgrund seiner Hautfarbe schlimmerer Diskriminierung ausgesetzt ist.
Denkt man die Dinge weiter, öffnet sich die Tür zu einer Ahnenforschung, wie man sie seit 1945 in Deutschland für überwunden hielt. Eine Bekannte von mir entdeckte im Alter von 42 Jahren, dass sie eine schwarze Großmutter hatte. Nach der Farbenlehre der neuen Rassismustheorie macht sie das zu einer Viertel-Schwarzen. Ist sie damit ein PoC, wie sie selbst glaubt, obwohl sie in ihrem Leben nie Diskriminierung aufgrund ihrer Hautfarbe erfahren hat?
Die Grünen haben jetzt die Einrichtung einer „vielfaltspolitische*n Sprecher*in” beschlossen, aber das kann selbstverständlich nur der Anfang sein. So wie es Frauenbeauftragte gibt, wird es bald Anti-Rassismus-Beauftrage geben, erst im Bund und dann in den Ländern. Man wird in den Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Fernsehräte installieren, die dafür Sorge tragen, dass im Fernsehen keine Klischees über schwarze Menschen verbreitetet werden.
Natürlich wird es auch einer neuen Gesetzgebung bedürfen, die neben offensichtlichen Formen des Rassismus Mikroaggressionen und andere weniger eindeutige Formen der Herabwürdigung unter Strafe stellt. Zum Schluss wird man zur Forderung einer Quote kommen, weil nur durch die Repräsentation in Wirtschaft und Politik das öffentliche Bild der People of Color geändert werden kann.
So wird auch diese Emanzipationsbewegung in dem Aufbau einer neuen Bürokratie enden. Wo der Einzelne nichts ausrichten kann, muss eine Struktur her, die an seiner Stelle die als notwendig erachteten Veränderungen in die Wege leitet. Nichts anderes meint die Rede vom strukturellen Rassismus.