Ausgerechnet Robert Habeck, der Kandidat der Herzen, verklagt jeden, der sich über ihn lustig macht. Aber so ist das, wenn nur die eigene Betroffenheit zählt, dann rückt alles andere in den Hintergrund, auch die Meinungsfreiheit
Von allen Auftritten zum vorzeitigen Ende der Regierung war der von Robert Habeck der schönste. Um einen Kommentar zum Aus gebeten, legte er den Kopf zur Seite, lauschte in sich hinein und sagte dann, „dass sich das nicht richtig anfühlt.“ Kein Wort des Vorwurfs, kein Nachkarten. Stattdessen: Betroffenheit.
Nicht alle bei den Grünen haben das durchgehalten. Auf dem Parteitag am Wochenende brach es aus der Fraktionschefin Britta Haßelmann heraus, was für eine üble Truppe die FDP doch sei. Man sah die Enttäuschung und Wut darüber, dass nun schon am 23. Februar gewählt wird und nicht erst am 28. September. So viele schöne Projekte, die man nicht mehr zu Ende bringen kann, so viel Geld, das man noch gerne unter die Leute gebracht hätte! Eigentlich gilt bei Scheidungen das Zerrüttungsprinzip, aber in diesem Fall kehren selbst Linke zum Schuldprinzip zurück.
Habeck ist in Lübeck geboren. Auch Björn Engholm kommt von dort. Nicht allen wird der Name Engholm noch etwas sagen, was schade ist, schließlich darf Engholm als Pionier des politischen Emotionalienhandels gelten, gewissermaßen ein Früh-Habeck der Sozialdemokratie. Es war Engholm, der sich als erster auf die „sensiblen Potenziale“ des Landes berief, die es zu heben gelte. Den Fontane entlehnten Satz, man solle mit dem Kopfe fühlen, verstand er nicht als Selbstbezichtigung, sondern als Kompliment.
Keine Ahnung, weshalb gerade die Nordlichter zu vermehrtem Gefühlsausstoß neigen. Auch Daniel Günther von der CDU empfiehlt sich ja als die sanfte Variante seiner Partei. Ist es der lange Blick übers Watt, die Ereignislosigkeit der Landschaft, die Geducktheit der Reetkate? Den Wikingertyp sucht man unter den Talenten im Land zwischen den Meeren jedenfalls vergeblich, der scheint vor Langem ausgestorben.
Habeck verzichtet auf Fontane, aber sensibel geht es auch bei ihm zu. „Ich bin hier bei Freunden in der Küche“, begann das Video, in dem er seine Bewerbung für das Amt des Kanzlers vortrug. Der Küchentisch sei der Ort, an dem man zusammenkomme und die Nachrichten des Tages höre, wie zum Beispiel die von der Wiederwahl Trumps. Treuer Augenaufschlag: „Ich auch.”
Im Wahlkampf muss man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Aber dass der Wirtschaftsminister der drittgrößten Industrienation der Welt Nachrichten von der Tragweite einer US-Wahl am Küchentisch von Freunden erfährt, lässt einen dann doch an der Informationsbeschaffung der Regierung zweifeln. Anderseits erklärt das möglicherweise die Entrücktheit mancher Ideen.
Das Angebot des grünen Kanzlerkandidaten ist weniger ein inhaltliches, sondern vielmehr ein stilistisches. Wenn einer die Feminisierung der Politik zur Vollendung gebracht hat, dann der Mann aus dem hohen Norden. Gegen die Mischung aus verwuschelter Nachdenklichkeit und einfühlsamen Therapeutenton kommt nicht mal Annalena Baerbock an. Wenn Habeck den Kopf leicht zur Seite legt (Vorsicht: Signaturemove!), schmilzt das eisigste Frauenherz. Ich glaube, sogar Anna Schneider, die tapfere Freiheitskämpferin von der „Welt“, wird dann für einen Moment schwach.
Man ahnt, dass der sanfte Robert nicht nur sanft ist. Wäre es anders, wäre er am Sonntag nicht zum Spitzenkandidaten seiner Partei nominiert worden. Wobei, auch das hat er jetzt den Bedürfnissen seiner Wähler angepasst: Wir Journalisten sollen lieber vom „Kandidaten für die Menschen“ reden. Oder war es vom „Kandidaten der Herzen“? Egal, jedenfalls irgendwas mit viel Nähe und viel Gefühl.
Habeck ist der perfekte Kandidat für Leute, die von Selbstwirksamkeit sprechen, wenn sich das Kind auf den Boden wirft, weil man ihm den Schnuller wegnimmt. Vor 30 Jahren hieß Selbstwirksamkeit noch Selbstverwirklichung, gemeint ist dasselbe.
Das eigene Empfinden zum Maßstab der Weltbeurteilung zu machen, radikale Subjektivität als Mittel der Wirklichkeitsbetrachtung, das ist die eigentliche Errungenschaft der Linken. Umgekehrt ist alles, was rational und damit kalt und herzlos wirkt, verdächtig. Deshalb hatten Leute, die mit der schnöden ökonomischen Wirklichkeit argumentieren, immer schon einen schweren Stand.
Ich weiß, wovon ich rede. Ich war 16 Jahre alt, als ich zum ersten Mal auf dem Heißen Stuhl Platz nahm, um in die Grundregeln der Gruppentherapie eingeführt zu werden. An die Sitzungen im evangelischen Pfarrhaus schlossen sich während des Zivildiensts dann wöchentliche Supervisionsstunden an, in denen ich unter der kundigen Leitung eines Gestalttherapeuten meine Projektionen zu verstehen lernte.
Ich weiß seitdem, wie der Hase läuft. Mir muss man mit „Du- und Ich-Botschaften“ nicht mehr kommen. Ich formuliere bei Bedarf gerne jeden Vorwurf so perfekt als Ich-Botschaft, dass dem Gegenüber die Ohren glühen, wenn ich fertig bin.
„Was macht das mit Dir“ beziehungsweise „Wie geht es Dir damit“, sind die beiden Zentralsätze der neuen emotionalen Aufgeschlossenheit. Neben das „Problem“, das in unzähligen Varianten als „Beziehungsproblem“, „Umweltproblem“ oder „Sozialproblem“ die politische Sprache bereichert, tritt die „Angst“ als Gefühlswort allerersten Ranges. Es muss nur jemand in einer Diskussion sagen, dass er sich unwohl fühle, und schon erübrigt sich jede weitere Debatte.
Wenn Gefühle zu Fakten werden, werden umgekehrt auch Fakten zu einer Frage der Empfindung. Bis heute hält sich bei den Grünen die Gewissheit, dass die Atomkatastrophe in Fukushima Tausenden das Leben gekostet habe. In Wahrheit ist bei dem Reaktorbrand kein einziger Mensch ums Leben gekommen.
Ein Arbeiter erlag später einer Krebserkrankung aufgrund der Strahlung, der er bei Aufräumarbeiten ausgesetzt war. Alle anderen hat ein schnöder Tsunami ins Wasser gespült. Trotzdem kann man die Uhr danach stellen, dass zum Jahrestag wieder ein grüner Landesverband die Mahnung postet, ja nicht die 10000 Fukushima-Toten zu vergessen.
Unbedarfte werden einwenden, dass es sich schlecht mit der proklamierten Empfindsamkeit verträgt, wenn man Bürgern die Polizei auf den Hals hetzt, nur weil sie einen „Schwachkopf“ genannt haben. Kein Politiker hat mehr Beleidigungen zur Anzeige gebracht als der sensible Robert. 805 Mal wurde die Staatsanwaltschaft seit der Regierungsübernahme im September 2021 bemüht – damit führt er die Liste der Bundesminister mit weitem Abstand an.
Unter den Angezeigten ist auch Stefan Niehoff aus Unterfranken, 64 Jahre alt, Vater einer Tochter mit Downsyndrom. Ich habe mir das Video angesehen, in dem der Mann berichtet, wie er in aller Herrgottsfrühe von zwei Beamten aus dem Bett geklingelt wurde. Der Mann wirkte darin relativ vernünftig.
Habeck versucht jetzt den Eindruck zu erwecken, es sei bei dem Hausbesuch gar nicht um seine Anzeige gegangen. Auf Nachfrage im Fernsehen murmelte etwas von rassistischen und antisemitischen Hintergründen, womit er den bis dato unbescholtenen Rentner im Vorbeigehen auch noch zum Rechtsradikalen stempelte.
Der Durchsuchungsbeschluss ist allerdings eindeutig: In dem Schreiben wird allein auf ein Bild Bezug genommen, das einer Haarpflege-Anzeige nachempfunden ist und den Werbesatz „Schwarzkopf Professional“ zu „Schwachkopf Professional“ verballhornt. Wer weiß, wenn der Mann aus Bayern sich ökologisch korrekt das Shampoo von Dr. Hauschka zum Vorbild genommen hätte, gäbe es vielleicht mildernde Umstände. Aber so: kein Pardon.
Am Dienstag las ich von einer Frau, die mit der Ordnungsmacht in Konflikt geriet, weil sie Habecks berühmte Ausführungen zum Insolvenzrecht zitiert hatte. Dummerweise war ihr dabei ein Fehler unterlaufen. Statt Habecks Zitat („Und dann sind die nicht insolvent, automatisch, aber sie hören vielleicht auf zu verkaufen“) ganz korrekt wiederzugeben, verbreitete sie eine Zitattafel mit dem Satz: „Ein Laden, der aufhört zu verkaufen, ist doch nicht insolvent, er verdient nur kein Geld mehr.“
Zack, Strafantrag wegen übler Nachrede, Ermittlungsverfahren, Hausdurchsuchung.
Das sind nicht die Meldungen, die man sich als Kandidat für die Menschen wünscht, sollte man meinen. Aber das ist ja das Besondere an der neuen Sensibilität: Wo nur die eigene Betroffenheit zählt, tritt alles andere in den Hintergrund, auch die Meinungsfreiheit.
© Michael Szyszka