Immer mehr Schüler haben Abitur, die Zahl der Einser-Abiturienten steigt und steigt. Was nach einem großen Erfolg der Bildungspolitik aussieht, ist in Wahrheit das Ergebnis eines kleinen, aber entscheidenden Tricks
Sind Menschen in Ländern, die von der SPD regiert werden, dümmer als anderswo und wählen daher SPD? Oder werden sie dümmer, weil die SPD regiert, und schneiden deshalb bei Bildungstests schlechter ab?
Seltsame Frage, werden Sie jetzt vielleicht sagen: Wie kommt Fleischhauer denn darauf? Ganz einfach, wäre meine Antwort: Ich habe mir die Ergebnisse der Studien angesehen, in denen der Kenntnisstand von Schülern ab der vierten Klasse erhoben wird. Überall, wo die SPD regiert, hängen die Kinder hinterher. Es gibt also, so muss man daraus schließen, einen Zusammenhang zwischen Parteipräferenz und Bildungsniveau.
Man kann es auch konkret machen: In Bayern und Sachsen schneiden Schüler mit weitem Abstand am besten ab. In Schleswig-Holstein, Hessen und dem Saarland sind die Ergebnisse immer noch sehr manierlich. Weit hinten liegen regelmäßig Berlin, Bremen oder das schöne Rheinland-Pfalz, egal, ob man nun nach den Rechenkünsten oder dem Lesen fragt.
In Bremen hinken die Schüler ihren Altersgenossen im Süden leistungsmäßig ein Jahr hinterher. Was umgekehrt bedeutet: Wer in Bayern lebt, kann sein Kind jede Woche einen Tag zu Hause lassen, ohne dass es auffallen würde, wenn er nach der Grundschule in den Norden zöge. Vielleicht sollte man die Teilnahme an „Fridays for Future“ vom Wohnort abhängig machen: Demo-Verbot für alle SPD-regierten Länder. Dann haben sie dort möglicherweise endlich eine Chance, zu Bayern und Sachsen aufzuschließen.
Bildungspolitik ist ein vernachlässigtes Feld. Dabei ist das, was an den Schulen geschieht (oder vielmehr: nicht geschieht), für die Zukunft des Landes mindestens so bedeutsam wie die Frage, wie viele Kohlekraftwerke das Land verträgt. Was wir heute nicht in die Köpfe der Kinder bekommen, werden wir auch in 20 Jahren dort nicht vorfinden.
Hin und wieder steigen aus dem Schulalltag beunruhigende Nachrichten auf. Vergangene Woche machte das Ergebnis der neuesten Pisa-Untersuchung die Runde, wonach jeder fünfte Jugendliche im Alter von 15 Jahren schon bei einfachen Satzkonstruktionen an seine Grenzen stößt. Aber das beschäftigt die Medien gerade mal einen Tag, dann sind sie wieder beim Klimagipfel in Madrid oder dem Wunschzettel der SPD für die große Koalition.
Manchmal gibt es Streit. Bayern und Baden-Württemberg haben ankündigt, den Nationalen Bildungsrat zu verlassen. Ich habe nicht ganz verstanden, worum es geht. Offenbar fürchten die Bayern, dass es an bayerischen Schulen bald so zugehen könnte wie im Rest der Republik, wenn sie einem zentral ausgehandelten Abitur zustimmen.
Mich macht schon mal misstrauisch, wenn ausgerechnet der Berliner Bürgermeister Michael Müller von einem Affront spricht. Ich habe zehn Jahre lang in Berlin gelebt, ich kenne die Berliner Schullandschaft aus eigener Anschauung. Lassen Sie es mich so sagen: Man kann auch in Berlin für seine Kinder eine gute Schule finden. Man muss allerdings sehr lange Fahrwege in Kauf nehmen.
Ich glaube, Bildung ist deshalb kein großes Thema, weil im Prinzip alles zu laufen scheint. Immer mehr Schüler haben Abitur. Inzwischen verlässt fast jeder zweite Jugendliche die Schule mit dem Ausweis der Hochschulreife. Die Schüler werden auch immer besser. Die Zahl der Einser-Abiturienten ist binnen zehn Jahren von 20 auf 25 Prozent gestiegen. Was zwei Deutungen zulässt: Wir haben es heute mit der klügsten Generation zu tun, die jemals in Deutschland zur Schule gegangen ist. Oder jemand hilft nach, und damit meine ich nicht den Nachhilfelehrer. Die Lebenserfahrung spricht für die zweite Annahme.
Ich habe mich darüber lange mit dem Frankfurter Didaktikprofessor Hans Peter Klein unterhalten. Klein ist Biologe. Zur Bildungspolitik kam er, weil er jedes Jahr in seinen Vorlesungen mit den Absolventen der deutschen Bildungsanstalten zu tun hat. Vielen Erstsemestern fehlen heute selbst Grundkenntnisse, die noch vor wenigen Jahren selbstverständlich waren. Die Durchfallquoten im Grundstudium nähern sich in einigen Fachbereichen dem Wert von 70 Prozent. Also begann Klein sich für die Frage zu interessieren, was im Abitur eigentlich geprüft wird.
Die erste Erkenntnis war: Die Kultusminister sind dazu übergegangen, den Schwerpunkt von der Vermittlung von Wissen auf die Vermittlung von Kompetenz zu verlagern. Im Abitur wird folgerichtig nicht mehr geprüft, was jemand an Wissen erworben hat, sondern ob der Prüfling in der Lage ist, Wissen anzuwenden. Das ist weit mehr als eine semantische Nuance, es ist eine fundamentale Änderung des Bildungsauftrags.
Wenn nicht der Erwerb von Wissen, sondern die Anwendung von Wissen entscheidend ist, müssen sich die Fragestellungen ändern. Klein hat eine Reihe von Abituraufgaben zusammengetragen, an denen man sehen kann, dass in der Frage bereits alle für die Antwort wichtigen Informationen enthalten sind. Es reicht also, die Aufgabe aufmerksam zu lesen, um zum richtigen Ergebnis zu kommen.
Weil ihm niemand so richtig glauben wollte, dass man heute auch ohne Kenntnisse in der Sache durch eine Prüfung kommt, hat Klein in einer Art Guerilla-Experiment die Abituraufgabe im Fach Biologie in Nordrhein-Westfalen einer neunten Klasse vorgelegt. Das Ergebnis: vier Fünfer, 14 Vierer, fünf Dreier, drei Zweier und eine Eins. Womit bewiesen wäre, dass in NRW jeder, der Lesen und Schreiben kann, theoretisch in der Lage ist, die Hochschulreife zu erwerben.
Den Kultusministern ist es natürlich unangenehm, wenn die Bildungsillusion auffliegt, deshalb machen sie ein großes Geheimnis ums Abitur. Wie groß die Bildungsunterschiede in Deutschland sind, fällt nur dann wirklich auf, wenn ausnahmsweise einmal ungestützt gefragt wird, was ein Kind weiß. Eines der Bundesländer, die sich der Bildungsschummelei verweigert haben, ist Bayern. Auch in Sachsen und Baden-Württemberg hält man das Pauken von Zahlen und Fakten nicht per se für einen Zopf, der eingemottet gehört.
Viele Reformer klagen seit Langem darüber, dass die Bildungspolitik Ländersache ist. Kaum ein Reformaufruf kommt ohne die Forderung aus, endlich die Kleinstaaterei in der Bildung zu beenden. Ich bin da entschieden anderer Meinung. Dass in einigen Bundesländern die Kinder noch etwas lernen, das über den Erwerb von „Kompetenz“ hinausgeht, haben wir allein dem Föderalismus zu verdanken.
Wir hätten heute überall Berliner Verhältnisse, wenn die Bundesregierung auch in der Schulpolitik entscheiden dürfte. Oder glaubt jemand ernsthaft, die Sozialdemokratisierung der Gesellschaft hätte ausgerechnet vor dem Gymnasium halt gemacht?
Der eigentliche Skandal guter Bildung ist, dass sie Unterschiede besonders sichtbar macht und gerade nicht nivelliert. Das mittelbegabte Kind wird mit der richtigen Förderung besser, das überdurchschnittlich intelligente wird seinen Klassenkameraden weit enteilen. Schule kann immer nur das fördern, was bereits da ist.
Deshalb steht die Gemeinschaftsschule links der Mitte ja auch so hoch im Kurs: Lieber alle gleich schlecht als die einen schlecht und die anderen sehr gut.