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Die Verachtung der Wirklichkeit

Ortskenntnisse, eigene Anschauung? Das war früher. Heute reichen ein Computer und ein Datenanschluss, um über die politische Kultur ganzer Länder zu urteilen. Kein Wunder, dass die Thesen immer wilder werden

Muss man das Haus verlassen, um zu sehen, wie die Welt ist? Oder lässt sich im Prinzip alles vom Schreibtisch aus erledigen, auch die Inaugenscheinnahme der Wirklichkeit? Eine Frage, die gerade in Zeiten des Klimawandels neue Dringlichkeit erfährt.

Immanuel Kant ist bekanntermaßen nie über Königsberg hinausgekommen. Dennoch hat er ein Werk hinterlassen, an dem kein Philosophiestudent vorbeikommt. Karl May blieb ebenfalls ungewöhnlich ortsverbunden. Amerika, das Land seiner Romane, hat er zuvor nie gesehen. Im Fall von May reagierte das Publikum allerdings weniger nachsichtig. Als herauskam, dass er die wilden Länder, über die er schrieb, nur vom Schreibtisch aus bereist hatte, war die Enttäuschung groß.

Ich habe vergangene Woche zum Verhältnis von Anschauung und Wirklichkeit einen heftigen Streit vom Zaun gebrochen. Im Übermut habe ich im Netz einen Kommentar hinterlassen, in dem ich die Autorin Annika Brockschmidt in die Nähe von Karl May rückte, sie also gewissermaßen zu einer Karoline May erklärte. Ich Narr wusste ja nicht, worauf ich mich einließ.

Für alle, die noch nie von der Frau gehört haben: Annika Brockschmidt hat Geschichte und Germanistik studiert und im Herbst ein Buch vorgelegt, das sich mit der religiösen Rechten in Amerika beschäftigt. Die Zukunft Amerikas liege in der Hand der Fundamentalisten, so lautet die These, mit der sie seitdem auf Tournee ist.

Düstere Voraussagen zur Zukunft Amerikas sind im Buchgeschäft nichts ganz Neues. Die Vereinigten Staaten sind genau besehen im Untergang begriffen, seit es sie gibt. Schon der französische Amerikareisende Alexis de Tocqueville wusste 1835 nach Hause zu berichten, dass die Sache nicht gut ausgehen werde.

Auch das Timing war für ein Buch, das sich mit dem Trumpismus und seinen Wurzeln beschäftigt, nicht ideal. Dummerweise hat im Januar 2021, einige Monate bevor „Amerikas Gotteskrieger“ in die Buchläden kam, der Demokrat Joe Biden die Amtsgeschäfte im Weißen Haus übernommen.

Beide Nachteile macht Frau Brockschmidt allerdings spielend wett – durch besonders düstere Vorhersagen. Schon nächstes Jahr könnten die USA in den Faschismus umkippen, die Vorbereitungen für den Staatsstreich seien in vollem Gange. Spätestens 2024 würden dann die letzten freien Wahlen stattfinden, so ihre Prophezeiung.

Wer das anders sieht, weil er sich zum Beispiel als Washington-Korrespondent seit Jahren mit der amerikanischen Politik beschäftigt, hat entweder nichts von den USA verstanden oder will das Offensichtliche nicht wahrhaben. Die Phalanx der Ahnungslosen, die der Autorin durch ihre Unkenntnis den Blutdruck hochtreiben, wie sie sagt, reicht von den Vertreterinnen der „Zeit“ und des „Tagesspiegel“ bis zum Mann vom „Spiegel“.

Auf Twitter entdeckte ich nun einen Hinweis, dass die Autorin nie in den USA gelebt hat. Ja dass sie überhaupt nur einmal, vor zehn Jahren, drüben war und seitdem nie wieder. Eigenartig, dachte ich, so wenig Ortskenntnisse und so fest im Urteil. So schrieb ich es auch: „Wie nennt man das: Jemand schreibt ein Buch über die neue Rechte in den USA, wird als Experte in Talkshows eingeladen und im ,Spiegel‘ groß rausgebracht – und dann stellt sich raus, er hat nie mit den Leuten geredet, über die er schreibt? Fernexpertentum?“

Mann, Mann, Mann, hätte ich bloß meine Klappe gehalten. Was wurde nicht alles gegen mich ins Feld geführt: der Mond, die alten Römer, der Atomkern – lauter Dinge, die man auch nicht hat besuchen können, bevor man darüber zu schreiben sich entschloss. „Mit welchen empirischen Methoden hast du eigentlich deine Masterarbeit über Gespenstertheorien der Aufklärung untersetzt?“, fragte mich Thomas Dudzak aus Berlin stellvertretend für Tausende, die sich mit der Autorin solidarisierten.

Ich würde immer noch entgegnen, dass es einen Unterschied macht, ob man sich in Altertumswissenschaften hervortut oder ob man über die politische Kultur eines Landes schreibt. Aber das Argument wurde sofort vom Platz gefegt. Mehr noch: Je länger die Diskussion andauerte, desto mehr wurde aus dem scheinbaren Nachteil ein Vorteil.

Gerade weil Frau Brockschmidt die Trump-Anhänger nicht getroffen habe, sei ihr Buch besonders glaubwürdig, hieß es in einer Erwiderung. Wer Trump wähle, würde ohnehin nur lügen. Und welcher gewissenhafte Autor will mit seinem Buch schon Lügen verbreiten?

Über eine Million Menschen haben der Auseinandersetzung beigewohnt. 40000 Leute haben meinen Tweet markiert, weitergeleitet oder kommentiert – erstaunlich viel für eine Debatte über die Methodik politischer Sachbücher. Man redet in dem Fall wohl von dem sprichwörtlichen Wespennest, in das man aus Versehen gestochen hat.

Jede Erkenntnis beruht auf einer Vorannahme. Wer keine Idee hat, was er herausfinden will, steht staunend vor der Welt, ohne dass er am Ende zu einer These gelangt. Die Kunst besteht darin, gleichzeitig bereit zu sein, sich von der Wirklichkeit überraschen zu lassen. Das ist manchmal schmerzhaft. Wenn man Pech hat, gerät eine ganze Theorie unter die Räder. Dennoch hat man sich bislang in Wissenschaft und Journalismus darauf verständigt, dass es ohne Wirklichkeitsbezug nicht geht.

Auch hier verspricht das Netz eine radikale Demokratisierung, um nicht zu sagen: Emanzipation. Vorbei die Zeit, als es Verlagshäuser mit teuren Auslandsbüros brauchte, um sich ein Bild von der Welt zu machen. Alles, was man heute dazu benötigt, sind ein Laptop und ein Datenanschluss. Es schreibt sich auch gleich viel schneller und befreiter, wenn man auf eigene Anschauung und Feldforschung verzichten kann. Einfach den Computer aufgeklappt – und zu jeder These findet man ein Zitat, für jeden Irrsinn einen Beleg.

Es erweist sich, dass Trump 2020 bei der Basis der Demokraten zulegen konnte, bei Arbeitern, Schwarzen und Latinos? Ein Strohmann-Argument, um dem Extremismus mitten in der Gesellschaft nicht ins Auge sehen zu müssen! Wahlanalysen ergeben, dass Biden nur deshalb siegte, weil sich gebildete Männer in den Vorstädten von Trump abwendeten? Davon lässt sich nur jemand blenden, der die harmlos wirkende bürgerliche Fassade für bare Münze nimmt!

Nicht nur rechts, auch links der Mitte gibt es die Verachtung der Mainstreampresse, die angeblich zu bequem oder zu verblendet ist, um die Wahrheit zu berichten. Man findet auch in beiden Lagern eine seltsame Obsession mit fixen Ideen. Was den Rechten die Umvolkungstheorie, also der Glaube, dass die Regierung heimlich auf einen Austausch der Bevölkerung hinarbeite, ist bei Experten wie Brockschmidt die Faschismusthese.

Faschismus ist dabei weit gefasst. Im Grunde beginnt er schon bei Leuten, die ein etwas veraltetes Familienbild haben und Grenzen für ein notwendiges Übel halten. „Radikaler Konservatismus“ heißt das bei Natascha Strobl, einer in linken Kreisen ebenfalls hochgeschätzten Autorin, mit der Brockschmidt einmal im Monat zusammen auftritt.

Die Figur des Weltenbummlers hat definitiv ausgedient. Schon aus CO2-Gründen ist das Leben am Schreibtisch dem Streifen in die Ferne vorzuziehen. Wer zu wenig an die frische Luft kommt, wird schnell missmutig, das ist natürlich ein Nachteil. Leider schlägt sich das Verstockte und Verhockte auch auf die Textproduktion nieder. Dass die wahren Abenteuer im Kopf seien, wie es Andre Heller besang, trifft ja nur in Maßen zu.

In der „Süddeutschen Zeitung“ las ich dieser Tage ein Interview mit dem Reporter und Weltreisenden Helge Timmerberg. Timmerberg hat gerade ein Erinnerungsbuch vorgelegt, mit dem bezeichnenden Titel „Lecko Mio“, wie ich bei der Gelegenheit erfuhr.

Timmerberg ist ein leuchtendes Beispiel, wohin einen Yoga, Kiffen und Abenteuerlust verbunden mit Schreibtalent führen können. Jeder seiner Texte lehrt einen mehr über die Welt als alle Wikipedia-Artikel zusammen. „Korrekte Sätze sind halt immer auch langweilige Sätze“, sagt Timmerberg an einer Stelle. Das lässt sich mühelos auf unseren Fall übertragen: Wer immer nur in die Wirklichkeit hineinliest, was er vermutet, kommt nie über das hinaus, was er schon weiß.

 

©Michael Szyszka