Schlagwort: Social Media

18 Stunden

Australien hat Social Media für Jugendliche unter 16 Jahren verboten. Auch in England denkt man über Altersbeschränkungen nach. Nur den Koalitionären in Berlin scheint die psychische Gesundheit von Kindern nicht so wichtig zu sein

Stellen Sie sich vor, Ihre zehn Jahre alte Tochter wurde von einem visionären Milliardär für ein Mars-Besiedlungsprogramm ausgewählt. Kinder kämen mit den ungewöhnlichen Lebensbedingungen, die auf dem Mars herrschen, besser zurecht als Erwachsene, heißt es. Nachdem sie die Pubertät durchlaufen haben, werde ihr Körper dauerhaft auf den neuen Lebensraum zugeschnitten sein. So beginnt Jonathan Haidts Buch „Generation Angst“.

Ihnen ist die Sache verständlicherweise nicht ganz geheuer. Da ist die Strahlung. Man versichert Ihnen, dass Astronauten kein signifikant höheres Krebsrisiko hätten als andere Menschen. Aber Studien über einen längeren Aufenthalt im All existieren verständlicherweise nicht. Man müsste es also darauf ankommen lassen.

Dazu kommt das Problem mit der Schwerkraft. Schon nach wenigen Wochen verändert sich der Körper in der Schwerelosigkeit. Die Knochendichte nimmt ab, Körperflüssigkeiten sammeln sich an Stellen, wo sie es besser nicht tun sollten, zum Beispiel im Kopf, was zu Druck auf die Augäpfel führt. Welche Fehlbildungen die geringere Marsgravitation bei Körpern, die sich noch im Wachstum befinden, zur Folge hätte, ist völlig unklar.

Würden Sie unter diesen Umständen Ihr Kind dem Mann anvertrauen, der den Mars besiedeln will? Die Antwort jedes verantwortlich handelnden Elternteils wäre: selbstverständlich nicht. Wa­rum lassen wir es dann zu, dass Unternehmen unsere Kinder in eine virtuelle Welt entführen, wo sie als Testkandi­daten für eine radikal neue Form des Heranwachsens dienen, die im Gegensatz zu 140 000 Jahren Evolution steht, fragt Haidt.

Durchschnittlich 18 Stunden pro Woche verbringen schon Zehnjäh­rige am Handy oder vor dem Computer. Was den schädlichen Einfluss angeht, ist man in diesem Fall nicht mehr auf Vermutungen angewiesen. Jugendliche, die sich weitgehend unkontrolliert auf Social Media bewegen, haben ein deutlich erhöhtes Risiko, an Angststörungen und Depressionen zu erkranken, sie zeigen häufiger Essstörungen wie Magersucht und Bulimie und entwickeln ein deutlich vermindertes Selbstvertrauen.

In besonders schlimmen Fällen werden sie suizidal, weil ihre Chatgruppe sich gegen sie wendet. Kinder an die Macht? Das kann nur jemand fordern, der keine Ahnung hat, zu welch destruktiver Energie Zwölfjährige fähig sind.

Seit die KI uns künstliche Gefährten zur Seite stellt, braucht es noch nicht einmal Klassenkameraden, damit sich das Leben verdüstert. Die „Spiegel“-Reporterin Frauke Hunfeld hat gerade in einem aufsehenerregenden Text den Fall eines 14-Jährigen aus Florida nachgezeichnet, der sich in einen Chatbot verliebte und sich dann das Leben nahm, als ihm die Maschine den Befehl gab, sich mit ihr zu vereinen. „Character.ai“ heißt die Plattform. Im August 2024 hat Google für 2,7 Milliarden Dollar die Lizenz erworben.

Den Eltern kann man keinen Vorwurf machen. Als sich ihr Kind immer mehr in sein Zimmer zurückzog, haben sie alles kontrolliert: TikTok, WhatsApp, Facebook. Sie fanden dort nichts Beunruhigendes. Woher hätten sie ahnen sollen, dass das Unheil in dem Fall über die Suchmaschine kam? Sorry, sagen die Anwälte von Google. Der tragische Tod täte ihnen leid, aber sie seien nicht haftbar zu machen.

Wir haben alles reguliert. Das Spielgerät ist TÜV-geprüft, Kindersitze gleichen Hightechgeräten. Der Kinderbrei ist selbstverständlich BPA-frei und in jeder Hinsicht 
als unbedenklich zertifiziert. Doch ausgerechnet bei 
den digitalen Medien, mit denen sich die Kinder den
lieben langen Tag beschäftigten, vertrauen wir auf 
die Zusicherung der amerikanischen Konzerne, dass alles 
schon seine Richtigkeit habe.

Es gibt erste Gegenwehr. Australien hat den Zugang zu sozialen Medien für Jugendliche unter 16 Jahren verboten. In Großbritannien wird diskutiert, ob man dem Beispiel folgen soll. Auslöser ist dort die Netflix-Serie „Adolescence“, in der ein 13-Jähriger seine Mitschülerin ersticht, weil er sich auf Instagram gemobbt fühlt. In Deutschland soll es jetzt in Hessen und Baden-Württemberg ein Handyverbot an Schulen geben. Aber das war es bei uns bislang.

Interessanterweise sieht man vor allem in linksliberalen Zeitungen strengere Regeln skeptisch. Die Gefahren würden weit übertrieben, heißt es. Minderjährige müssten halt lernen, verantwortlich mit den Neuen Medien umzugehen. Das erinnert an das Argument der Waffenindustrie: Es sind nicht die Waffen, die töten, sondern es sind die Menschen, die sie unsachgemäß benutzen.

Es ist wirklich verrückt. Viele Eltern lassen den Nachwuchs keinen Meter mehr aus den Augen. Mancherorts muss die Polizei morgens Sperrzonen errichten, weil die Zahl der Elterntaxis überhandnimmt. Aber sobald die Tür hinter den Kindern zufällt, überlässt man sie für Stunden der Obhut von Internetmilliardären, denen man schon von Weitem ansieht, dass sie sozial schwer gestört sind.

Welches Suchtpotenzial die digitalen Ablenkungswelten entwickeln, weiß jeder, der über ein Smartphone verfügt. Die Apps sind so programmiert, dass sie direkt das Belohnungszentrum im Hirn ansprechen. Wir erziehen die Kinder zu Junkies und wundern uns dann, wenn sie die Hände nicht vom Telefon lassen können.

Ein Argument, mit dem sich jedes Elternpaar herumschlagen muss: „Aber der Jonas darf das auch.“ Was übersetzt so viel heißt wie: Wollt ihr, dass ich zum Außenseiter werde, gehänselt und verlacht? Es ist ein sehr wirksames Argument. Ich habe fünf Kinder. Die beiden ältesten sind, Gott sei Dank, schon aus dem Gröbsten raus. Aber mit den Kleinen ist es jedes Mal wieder ein Kampf.

Auf eine Art freiwillige Selbstkontrolle der Konzerne zu setzen, scheint mir kein geeignetes Konzept. Das ist so, als ob man dem Schlachter die Kontrolle des Schlachthofs übertragen würde. Kann gut gehen, wenn der Schlachter das Herz einer Nonne hat. Doch in der Regel siegt die Profitgier.

Die staatlichen Kontrollinstanzen? Sind heillos überfordert. Jugendschutz ist ein hohes Gut, aber bei den Techkonzernen streckt man die Waffen. Da reicht ein Klick, mit dem man erklärt, dass man das 16. Lebensjahr erreicht hat, und schon steht einem alles offen. Niemand könne von ihnen verlangen, das Alter der Kunden genauer zu prüfen, heißt es zur Begründung.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr neige ich dazu, das australische Modell für nachahmenswert zu halten. Es wird immer Jugendliche geben, die ein Verbot umgehen. Aber das ist wie mit dem Alkohol. Auch der ist überall verfügbar. Dennoch käme niemand auf die Idee, die Altersbeschränkung beim Verkauf aufzuheben.

Ich habe in den Entwurf für den Koalitionsvertrag gesehen. An alles haben die Unterhändler gedacht: die Einführung einer obligatorischen Elementarversicherung für Hauseigentümer. Die Bekämpfung des illegalen Glücksspiels. Die gesundheitlichen Belange der queeren Community. Selbst die Regulierung des Ticketzweitmarkts für Sportveranstaltungen, um Verbraucher vor überhöhten Preisen zu schützen, ist ihnen eine Erwähnung wert.

Nur die psychische Gesundheit unserer Kinder scheint auch für die neue Regierung kein Thema zu sein. Das Einzige, was sich dazu findet, ist ein Wischiwaschi-Satz, wonach das Aufwachsen mit digitalen Medien Medienkompetenz brauche. Altersbeschränkungen für Minderjährige, Sicherheitsvorgaben an die Techkonzerne? Dazu kein Wort.

Aber das ließe sich ja noch ändern, nicht wahr? Weshalb nicht in den Koalitionsvertrag einen Passus aufnehmen, was man unter Jugendschutz im Zeitalter von Social Media versteht? Es gibt in Deutschland elf Millionen Kinder unter 14 Jahren. Da die meisten bei ihren Eltern leben, darf man davon ausgehen, dass es sich um eine nicht ganz unbedeutende Wählergruppe handelt – größer jedenfalls als die Anhänger des illegalen Glücksspiels oder die queere Community. ­Warum nicht mal zur Abwechslung etwas für die Mehrheit tun? Die wäre dafür dankbar.

© Michael Szyszka

Das süße Gift der Denunziation

Macht man gemeinsame Sache mit Rassisten und Antisemiten, wenn man den Verfassungsschutz zitiert? Die „Süddeutsche Zeitung“ scheint der Meinung zu sein. Anmerkungen zu einer Grenzüberschreitung

Darf man die Bundesinnenministerin dafür kritisieren, dass sie einem Verein Reputation verschafft, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird – oder stellt man sich damit außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses? Diese Frage steht seit einer Woche im Raum.

Am Freitag vergangener Woche veröffentlichte die „Süddeutsche Zeitung“ einen Leitartikel zu Grundlagen unserer Demokratie. Gleich der erste Satz machte deutlich, dass es um Großes ging: „Historische Fakten achten, Verbrechen nicht relativieren – das sind Grundregeln, die eine offene Gesellschaft beachten sollte, auch und gerade im geschriebenen Wort.“ Es folgten Auschwitz, der Kampf gegen den Antisemitismus, die Verantwortung aus der Geschichte. Gewaltiger kann man in einen Text nicht einsteigen.

An prominenter Stelle fand sich dabei der Name des Chefredakteurs der „Welt“, Ulf Poschardt. Wenn einer aus der Medienwelt in der jüdischen Community den Ruf hat, dass man sich auf ihn verlassen kann, dann er. Sie können sich also meine Verwunderung vorstellen, dass ausgerechnet der „Welt“-Chefredakteur als jemand benannt wurde, der gefährliches Gedankengut verbreitet.

Poschardt habe die neue Innenministerin Nancy Faeser dafür angegriffen, dass sie in einer Zeitschrift der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ einen Gastbeitrag veröffentlicht habe, hieß es im Leitartikel der „SZ“. Wer dabei eine Organisation als extremistisch verunglimpfe, die sich dem Engagement gegen rechts verschrieben habe, liefere Leuten die Stichworte, die gegen Minderheiten hetzten, und schwäche damit den Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus, lautete die Argumentation.

Tut man das? Schwächt man den Kampf gegen rechts, wenn man darauf hinweist, dass die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ schon vor Jahrzehnten von Leuten gekapert wurde, die mit unserer freiheitlichen Grundordnung nichts am Hut haben? Bis 1989 wurde der Verein von der SED finanziert. Es ist auch nicht der „Welt“-Chefredakteur, der ihn als extremistisch einstuft, es ist der Verfassungsschutz. Seit Jahren wird die Organisation von einer Reihe von Landesbehörden beobachtet.

Wir leben in aufregenden Zeiten. Wenn man als Journalist bereits unter Antisemitismus-Verdacht gerät, weil man sich auf den Verfassungsschutz beruft, dann steht uns einiges bevor.

Auch ich fand in dem Leitartikel Erwähnung. Der Vorwurf lautete, ich hätte die historischen Fakten verdreht, indem ich die tumbe These vertreten hätte, dass Nationalsozialisten ja eigentlich Sozialisten gewesen seien. Dass man meine Kolumnen für ahistorisch hält, für überdreht und überflüssig, meinetwegen auch für tumb – alles okay. Aber dass man mich an die Seite von Rassisten und Judenfeinden rückt, weil einem die These nicht passt: Das war ich bislang nur von der Antifa gewohnt.

Die Autorin versicherte mir per Mail, sie halte mich selbstverständlich nicht für einen Antisemiten. Ich habe darauf verzichtet, ihr zu antworten, dass ich vermutlich mehr Bezug zum Judentum habe als sie und all ihre linken BDS-Freunde zusammen. Man will ja nicht persönlich werden.

Was passiert hier gerade? Ich glaube, dass wir dem Versuch einer Diskursverschiebung beiwohnen. Oder sollte man besser sagen: einer politischen Flurbereinigung?

Die „Süddeutsche“ ist eine der führenden Tageszeitungen des Landes. Leitartikel sind auch keine Kommentare, die man als Einzelmeinung achselzuckend abtun könnte, sie geben so etwas wie die Blattlinie wieder. Deshalb sind sie nicht als Debattenbeitrag gekennzeichnet, sondern stehen an herausgehobener Stelle in direkter Verantwortung der Chefredaktion.

Wer bestimmt darüber, wer sich innerhalb des gesellschaftlichen Konsenses bewegt und wer außerhalb steht? Das ist die Grundsatzfrage, die der Text in der „Süddeutschen“ aufwirft. Folgt man der Zeitung und ihrer Leitartiklerin Meredith Haaf, liegt die Antwort auf der Hand: Im Konsens bewegen sich alle, die für eine progressive Politik eintreten.

Es ist kein Zufall, dass die Autorin zum Ende ihres Textes genau darauf zu sprechen kommt: auf den gesellschaftspolitischen Wandel, wie ihn das neue Regierungsbündnis verspricht, und die Kräfte, die darin eine Bedrohung sehen. Als Feinde, die außerhalb des Konsenses stehen, gelten mithin diejenigen, die sich gegen diesen Wandel stellen, worunter eben schon fällt, dass man es als kritikwürdig erachtet, wenn eine Innenministerin in einem linksradikalen Blättchen publiziert.

Man findet bei einem Journalisten immer etwas, das sich gegen ihn wenden lässt. Eine missverständliche Formulierung; der Verdacht, dass er mehr meinen könnte, als er geschrieben hat. Im Juni vergangenen Jahres geriet die Autorin Carolin Emcke in schweres Wasser, weil sie bei einem Gastauftritt bei den Grünen die Klimaforscher zu den neuen Juden erkoren hatte – jedenfalls hatte man das so verstehen können.

„Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden“, verkündete sie mit Blick auf den anstehenden Bundestagswahlkampf, „und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen und die Virologinnen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscherinnen.“

Die jüdische Verfolgungsgeschichte umstandslos auszuweiten – das müsste nach den Kriterien der „Süddeutschen Zeitung“ eigentlich eindeutig unter Verharmlosung fallen. Aber in dem Fall war kein kritisches Wort zu vernehmen, im Gegenteil. Frau Emcke wurde vehement verteidigt.

„100 Prozent Solidarität“ twitterten die gleichen Leute, die kein Pardon kennen, wenn jemand die Lauterkeit einer vom Verfassungsschutz beobachteten Organisation infrage stellt. Warum? Weil die Lebenspraxis Frau Emcke über jeden Zweifel erhaben sein lässt? Weil ihre diversen Preise und Auszeichnungen sagen, dass sie nicht gemeint haben kann, was sie sagte? Zählt der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels mehr als, sagen wir, die Tatsache, dass jemand im Kibbuz war? Oder einem Verlag angehört, der in seinen Unternehmensgrundsätzen die Solidarität mit Israel verankert hat?

Ich vermute, die Antwort ist so niederschmetternd wie naheliegend. Carolin Emcke gehört zu denen, die zum Konsens zählen. Wer dabei ist, genießt den Schutz der anderen im Kreis der Zugehörigen. Das ist wie bei der Mafia: 100 Prozent Solidarität. Dafür wird erwartet, dass man sich ebenfalls zu 100 Prozent in den Dienst der Sache stellt, wenn es nottut.

Ich habe mich damals vor Carolin Emcke gestellt. Ich habe geschrieben, dass ich es falsch finde, Leute an einem missverständlichen Satz aufknüpfen zu wollen. Man gerät damit auf gefährliches Terrain. Man erzielt kurzfristig einen Geländegewinn, aber am Ende bleiben nur Angst und Misstrauen.

Vor ein paar Monaten hat das Meinungsforschungsinstitut Allensbach eine Umfrage zur Meinungsfreiheit veröffentlicht. 45 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass man seine politische Meinung frei sagen könne. 44 Prozent antworteten, dass es besser sei, vorsichtig zu sein. Allensbach stellt die Frage in regelmäßigen Abständen, deshalb hat man einen Vergleichsmaßstab. 45 Prozent der Bürger, die die Meinungsfreiheit gewährleistet sehen: Das ist der niedrigste Wert, der je gemessen wurde.

Es kann immer weiter bergab gehen, auch das ist eine Lehre aus den letzten zwei Jahren. Wohin einen die Verdächtigungskultur führt, sieht man in den sozialen Netzwerken, wo es nur noch darum geht, andere zu erwischen und zu erledigen. Mancher weiß sich inzwischen keinen anderen Rat mehr, als sein Profil zu deaktivieren und sich zurückzuziehen. Gut, konnte man bislang sagen, Twitter! Aber das war gestern. Wie man sieht, hat die Logik der Denunziation inzwischen auch eine ehrwürdige Zeitung wie die „SZ“ erreicht.

Wäre man bei der „Süddeutschen“, würde man jetzt sagen: Was will man von einem Blatt erwarten, das Juden bei Gelegenheit als Krake oder gefräßigen Moloch darstellt und sich ihrer vorzugsweise dann bedient, wenn es nützlich erscheint? Aber weil ich nicht bei der „SZ“ bin, verkneife ich mir das.

Illustration von Sören Kunz