Die Grünen in Berlin können es nicht fassen: Die Sozialdemokraten haben sie verlassen – für einen 50-jährigen Versicherungsmakler mit Glatze und einem Hund, der Casper heißt. Was sagt der Therapeut?
Trennungen sind schmerzhaft. Erst recht, wenn man der Verlassene ist. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe ein ganzes Buch darüber geschrieben. Es heißt „Alles ist besser als noch ein Tag mit dir“ – das ist der Satz, mit dem sich meine erste Frau von mir verabschiedete.
Ich habe überlegt, ob ich den Grünen in Berlin ein paar Exemplare schicken soll. Vielleicht hilft es ihnen, über den ersten Schock hinwegzufinden. Es ist immer die gleiche Geschichte: Bis eben noch schien alles in Ordnung. Und dann, bäm, liegt die Beziehung in Scherben. Statt, wie vereinbart, die sogenannte Fortschrittskoalition fortzusetzen, hat die SPD plötzlich alle Gespräche abgebrochen, um sich der CDU an den Hals zu werfen. Das tut schrecklich weh.
Ich gehe auf den Twitteraccount von Renate Künast, und ich sehe die Verzweiflung über die Zurückweisung. Die Fassungslosigkeit, vor vollendete Tatsachen gestellt worden zu sein. Auch das Unverständnis, wie es überhaupt so weit kommen konnte.
„Abstoßend“ sei das Verhalten der SPD, schreibt die grüne Bundestagsabgeordnete aus Berlin. Kurzes Atemholen, dann der nächste Ausbruch: Die Sozialdemokraten erdreisten sich, den Grünen in einer Trennungserklärung die Schuld zuzuschieben? Ha! „Eine SPD, die in 34 Jahren in Berlin nichts hingekriegt hat, alles versemmelt von BER bis Schule, selbst hochzerstritten, schreibt so ein Papier der Niedertracht.“ SHAME ON YOU!
So geht es über Tage. Dazu immer wieder Retweets von Unterstützern („Es gibt keine rationale Erklärung für das Verhalten der SPD Berlin.“ „Ich habe selten mehr Heuchelei von einer Politker*in gehört. Ein Neuanfang hätte bedeutet, dass Franziska Giffey ihren Hut nimmt und komplett zurücktritt – und nichts anderes.“). Ich habe über meine Ex-Frau nicht anders geredet. Was habe ich sie verflucht! Allerdings war ich damit nicht auf Twitter.
So ist es meist: Den Zurückgewiesenen trifft der Trennungsentschluss aus heiterem Himmel. Als mir meine Frau eröffnete, dass sie sich von mir scheiden lassen wolle, war ich wie vom Donner gerührt. Sicher, wir hatten unsere Streitigkeiten gehabt. Aber nichts hatte mich auf das vorbereitet, was kommen würde.
Die erste Reaktion ist Unglaube. Dann kommt die Wut. Dann die Hoffnung, alles könnte sich als großes Missverständnis erweisen. Dann Resignation. Ganz am Ende steht so etwas wie Akzeptanz. Bei den Grünen schwanken sie noch zwischenUnglaube und Wut. Was die Traumabewältigung angeht, stehen sie ganz am Anfang.
Wäre ich Grüner, würde ich mir ebenfalls den Kopf zerbrechen, was in die SPD gefahren ist. Die SPD steigt mit dem Wechsel zur CDU ja nicht nur aus dem Fortschrittsprojekt aus, das sie eben noch selbst gefeiert hat. Sie muss auch aus dem Roten Rathaus ausziehen. Der Verlust einer geliebten Immobilie ist leider bei vielen Paaren eine unabwendbare Folge der Trennung.
Sich freiwillig in die Arme einer anderen Partei begeben, wenn man die Macht behalten könnte: Wie verrückt ist denn das?, fragen sie in der Grünen-Spitze. Und die Mehrheit im Bundesrat hat man auch noch für immer gegen sich. Ja, sind sie denn bei der SPD von allen guten Geistern verlassen!
Aber so ist das, wenn einer sich entschieden hat zu gehen: Dann kann ihn nichts mehr aufhalten. Wenn der Ärger über den Partner so groß ist, dass man seinen Anblick keinen Tag länger erträgt, dann will man nur noch weg, egal was es kostet.
Ich glaube, der Beschluss der SPD-Führung, die Koalition mit den Grünen aufzukündigen, ist in seiner Tragweite noch nicht wirklich erfasst. Es geht ja um mehr als einen Wechsel des Koalitionspartners. Der Entschluss markiert das Ende einer Ära.
Bis gestern galt Rot-Grün als natürliches Bündnis. Wo immer sich die Möglichkeit bot, eine sogenannte Zukunftsallianz zu schmieden, reichten die Sozialdemokraten den Grünen die Hand. Dass man aus einer Koalition mit den Freunden von der Ökopartei aussteigt, obwohl man hätte weiterregieren können, das hat es in 40 Jahren nicht gegeben.
Und die Alternative ist ja auch nicht so, dass jeder sagen würde: Klar, da muss man seinem Herzen folgen. Meine Frau hat mich damals für einen 15 Jahre jüngeren Mann verlassen, erfolgreicher Jurist, Kulturmensch durch und durch (man hatte sich über das Abonnement fürs Deutsche Theater in Berlin kennengelernt). Das habe ich verstanden. Nicht gebilligt, aber verstanden.
Aber der Abbruch einer langjährigen politischen Beziehung wegen eines 50-jährigen Versicherungsmaklers aus Spandau, der Heinrich Lummer zu seinen Vorbildern zählt und dessen Hund Casper heißt? Man fragt sich unwillkürlich: Was ist denn da vorgefallen?
Der Therapeut hätte gewusst, dass es auf Dauer nicht gut gehen kann. Wenn einer der beiden Partner den Eindruck hat, dass er in der Beziehung nur draufzahlt, wächst der Frust. Bei der Wiederholungswahl vor vier Wochen haben alle Parteien links der Mitte verloren. Aber für die SPD war es ein Desaster. Gerade mal 18,4 Prozent der abgegebenen Stimmen, so tief sind die Sozialdemokraten in Berlin in 70 Jahren nicht gefallen.
Es war immer ein Missverständnis, dass der sozialdemokratische Wähler für grüne Botschaften empfänglich sei. Das Bioprogramm mit Lastenfahrrad, Genderstern und Antirassismusanschluss mag in der Altbauetage in Charlottenburg der Hit sein. Aber das Publikum, das dort wohnt, hat ohnehin schon vor Jahren zu den Grünen rübergemacht. Außer ein paar Jusos, die sich das WG-Leben von ihren Eltern in Stuttgart finanzieren lassen, ist da nichts mehr zu holen.
Wer heute noch sozialdemokratisch wählt, lebt in der Regel in Gegenden, die Grüne nur aus der Sozialreportage kennen. Oder im Vorort, also dem Albtraum des aufgeklärten Großbürgers aus Schottergarten, Nachbarschaftsterror und rassistischem Dünkel.
Der Sozialdemokrat im Außenbezirk fährt nicht Fahrrad, jedenfalls nicht, wenn er zur Arbeit muss. Er wird auch nie verstehen, warum man Clan-Kriminalität jetzt nicht mehr „Clan-Kriminalität“, sondern „familienbasierte Kriminalität“ nennt. Wenn er den Eindruck gewinnt, dass das wichtigste Projekt des Senats statt der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit von Schulen und Behörden die Stilllegung einer Einkaufsstraße in Berlin-Mitte ist, dann sagt er sich: Macht mal, aber ohne mich.
Man kann diese Verweigerungshaltung sehr schön am Farbwechsel in den Wahlkreisen sehen. Die Innenstadtbezirke sind auch nach der Wahl am 12. Februar mit wenigen Ausnahmen grün. Aber außerhalb des S-Bahn-Rings, also da, wo sich Innenstadt und Vorort trennen, ist alles, was vorher noch rot war, nun schwarz gefärbt.
Am stärksten war die SPD immer dann, wenn sie Leute an der Spitze hatte, in denen sich die Wähler wiedererkannten. Gerhard Schröder war so jemand, der mühelos den Kontakt nach unten wie oben herstellen konnte. Auch die Grünen verfügen durchaus über volkstümliche Charaktere. Tarek Al-Wazir in Hessen ist so jemand, Winfried Kretschmann und Boris Palmer in Baden-Württemberg. Aber gerade in den Großstädten dominiert oft noch der grüne Urtyp, dessen Selbstbewusstsein nur vom Sendungsbewusstsein übertroffen wird.
Dummerweise hat die SPD an der Seite der Grünen alles zu verachten gelernt, was sie einmal groß gemacht hat. Die SPD war ursprünglich nicht gegen Technik, sie war auch nicht gegen Atomstrom oder Wachstum. Dass Atomkraft des Teufels sei, Wachstum gefährlich und erst ein ökologisch vorbildliches Leben ein erstrebenswertes Leben, das haben sie sich bei den Grünen abgeschaut. Leider sind ihnen bei diesem Bewusstseinswandel die eigenen Wähler abhandengekommen.
Was sagt nun der Therapeut, warum die Sozialdemokraten in Berlin mit den Grünen Schluss gemacht haben? Wie heißt es so schön: Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht. Sie ertragen bei der SPD einfach die Besserwisserei der grünen Apostel nicht mehr, diese unendliche Arroganz und Hochnäsigkeit. Sie sagen sich: besser vier Jahre an der Seite eines etwas mediokren CDU-Bürgermeisters als eine weitere Wahlperiode Belehrung und Zurechtweisung.
So sehr mein Herz mit den Verlassenen schlägt: Ich kann es Franziska Giffey und ihren Leuten nicht verdenken.
© Sören Kunz