Schlagwort: Woke

Drei Tage in Wien

Das linke Milieu liebt die radikale Geste. Anstößig sein, wild und unangepasst, das ist das Banner, unter dem man sich zusammenfindet. Aber wenn es mal wirklich radikal wird, rennt man schreiend davon

Ich war drei Tage in Wien, um die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Der Regisseur Milo Rau hatte mich eingeladen, im Rahmen der Wiener Festwochen an einem seiner „Wiener Kongresse“ teilzunehmen. Der Kongress bestand aus einer Art Gerichtsverfahren, bei dem mehrere Fälle sogenannter Cancel-Culture zur Verhandlung kamen. Meine Rolle war es, als Mitglied einer vierköpfigen Jury die geladenen Zeugen zu vernehmen – eine Aufgabe, wie geschaffen für mich.

Schon der Auftakt endete im Eklat. Zunächst zerdepperte die Schauspielerin Mateja Meded in einem Eingangsstatement das Patriarchat, die katholische Kirche und den Kapitalismus gleich mit. Das fanden alle super. Diese Form der Radikalität ist in der linken Kulturwelt eingeübte Praxis.

Dann betrat der Autor und „Welt“-Herausgeber Ulf Poschardt die Bühne und setzte zu einer Verteidigung Israels und des israelischen Militärs an (Kernsatz: „Benjamin Netanjahu ist mir näher als Milo Rau“). Das fanden alle nicht mehr so super.

„Genozidales Schwein“, schrie eine Frau im Parkett. Andere pfiffen laut und buhten, bevor sie unter Protest den Saal verließen. Ich fand’s klasse. Ich hatte mich auf einen eher anstrengenden Abend eingestellt, und nun war gleich Leben in der Bude. Aber so konnte man das bei der Festivalleitung nicht sehen. Dort ließ man bedröppelt die Köpfe hängen, wie ich von meinem Platz auf der Bühne erkennen konnte.

Das ist das Lustige an der Theaterwelt: Man liebt die radikale Geste. Anstößig sein, wild und unangepasst, das ist das Banner, unter dem man sich zusammenfindet. Aber wenn es wirklich mal radikal wird, rennt man schreiend davon.

Wann ist die Linke so auf den Hund gekommen? Früher hätte man zur Widerrede angesetzt. Oder die Bühne gestürmt, um selbst wilde Parolen zu schmettern. Heute verzieht man sich durch den Nebeneingang, wenn’s brenzlig wird. Da ist jedes bürgerliche Premierenpublikum in Hamburg oder München härter im Nehmen. Dem kann man Bäche von Blut und Sperma vor die Füße kippen, und es verzieht nicht einmal die Mundwinkel.

Cancel-Culture ist in Wahrheit der verzweifelte Versuch, das Wenige zu retten, was noch zu retten ist. Wer nicht mehr auf die Kraft des eigenen Wortes vertrauen kann, greift zu Verboten und Ausschlüssen, um sich oben zu halten. Dann wird nicht diskutiert, sondern befohlen, was als richtig und was als falsch zu gelten hat.

Am Samstag stand der Fall Ulrike Guérot auf der Tagesordnung. Die ehemalige Professorin der Universität Bonn hat sich einen Namen als rabiate Verteidigerin der russischen Aggressionspolitik gemacht. Vorher war sie als Kritikerin der Corona-Politik aufgefallen.

Nach einem Fernsehauftritt kündigte ihr die Universität, allerdings nicht wegen des Auftritts, dazu war man zu feige. Stattdessen wurden Plagiatsvorwürfe ins Feld geführt. Sie habe abgeschrieben und damit die Uni getäuscht, machte die Hochschulleitung geltend.

Der Absturz macht etwas mit den Menschen. Cancel-Culture ist ja mehr als nur der Verlust von Auftrittsmöglichkeiten. Oft geht damit ein Reputationsschaden oder, wie im Fall Guérot, sogar der Verlust des Arbeitsplatzes einher. In jedem Fall markiert der Angriff einen tiefen Einschnitt, von dem sich manche nicht mehr erholen.

Frau Guérot macht es einem nicht leicht. Bevor sie mit ihrer Zeugenaussage dran war, stürmte sie auf mich zu, um mich mit ihren Thesen in Beschlag zu nehmen. Ich zog mich mit der Ausrede aus der Affäre, dass es den Mitgliedern der Jury verboten sei, vor der Verhandlung mit den Zeugen zu sprechen.

Sie ist jetzt die Ikone einer Bewegung, die davon überzeugt ist, dass die Regierung die Menschen hinters Licht führt und jeden mundtot macht, der die Wahrheit sagt. Wichtige Gespräche führt sie im Wald, damit sie nicht abgehört werden kann. So scheint die weitere Entwicklung im Nachhinein allen recht zu geben, die sie loswerden wollten. Aber das ist post ante gedacht. Wer weiß, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn die Uni ihr nicht gekündigt hätte. Eine Festanstellung ist immer auch ein Halteseil in die normale Welt. Wenn man es kappt, führen die Gravitationskräfte Menschen an den Rand.

Im Zuge der Zeugenvernehmungen trat auch der Anführer des Studentenparlaments auf, der mit seiner Resolution das Kündigungsverfahren in Gang gesetzt hatte. Auf meine Nachfrage, was sich Frau Guérot denn aus
seiner Sicht habe zu Schulden kommen lassen, antwortete er, sie habe mit ihren Auftritten den Boden der Wissenschaft verlassen. Ein Studentenparlament, das darüber befindet, ob eine Politikwissenschaftlerin sich mit öffentlichen Äußerungen im Rahmen ihrer Expertise bewegt: Früher hätte man das als Anmaßung verlacht – heute ist das Uni-Alltag.

Es ist die Feigheit der Institutionen, die der Cancel-Culture die Türen öffnet. Irgendwo taucht eine Anschuldigung auf, bei Guérot war es ein Artikel in der „FAZ“, sie habe sich zu freizügig bei Zitaten bedient. Dann machen irgendwelche Studenten mobil. Am Ende heißt es, die Professorin sei untragbar. Ob jemand von der Universitätsleitung vor der Kündigung mal das Gespräch mit ihr gesucht habe, lautete eine Frage an sie. Nicht einmal, antwortete Guérot. Das ist die Spitze der Feigheit.

Handelt es sich um einen Einzelfall? Eher nicht. Zu den eindrucksvollsten Stellungnahmen des dreitägigen Kongresses in Wien gehörte die von Heike Egner, einer Professorin für Humangeografie. Egner hat systematisch Fälle von Professoren zusammengetragen, die entlassen oder degradiert wurden. „Wer stört, muss weg!“ lautet der Titel des Buchs, in dem sie ihre Erkenntnisse versammelt hat.

Ich ging bislang davon aus, dass Professoren besonders geschützt seien. Aber dem scheint nicht so zu sein. Neben angeblichem Fehlverhalten gegenüber Studenten sind es vor allem ideologische Unbotmäßigkeiten, die zum Ausschluss führen. Dass ein Professor heute aufgrund einer Meinungsäußerung mit dem Verlust seines Amtes sanktioniert werden könne, sei eine wirklich besorgniserregende Entwicklung, stellte Egner nüchtern fest. Und sie wies darauf hin, dass es Professoren rechts wie links gleichermaßen treffen kann.

Auch das wird oft übersehen: Cancel-Culture mag in der modernen Form des Ausschlusses eine Erfindung der Linken sein. Aber die andere Seite erweist sich als durchaus lernfähig.

Hinter allem steht als treibende Kraft die Angst. Die Angst, anzuecken oder in dem Milieu, in dem man sich bewegt, scheel angesehen zu werden. Deshalb sah sich auch der Regisseur Milo Rau veranlasst, Poschardt mit 14 Stunden Verspätung in die Schranken zu weisen.

Bevor es am Samstag endlich mit der Verhandlung losgehen konnte, verlas er ein außerplanmäßiges Statement, in dem er das Publikum um Entschuldigung bat. „Gestern hat einer unserer Redner Dinge gesagt, für die wir uns bei Ihnen entschuldigen wollen. Wir haben diesen Menschen nicht unterbrochen oder des Saales verwiesen, weil er in jenem Moment offensichtlich verwirrt war.“

Das ist vielleicht das Traurigste an der Cancel-Culture: Sie macht auch Leute, von denen man ein wenig Größe erwarten sollte, ganz klein.

© Michael Szyszka

Schwul, behindert und schwarz

Der Kampf ums Gendern scheint entschieden: Eine Reihe führender Presseorgane bläst aus Angst vor der Rache der Abonnenten zum Rückzug. Geht dem linken Wokismus etwa die Luft aus?

Vor ein paar Wochen tauchten im Netz Szenenfotos der neuen Amazon-Serie „My Lady Jane“ auf. Die Serie spielt in der Tudorzeit. Im Mittelpunkt steht die Kurzzeitregentin Lady Jane Grey, die im Alter von 15 Jahren für neun Tage auf dem englischen Königsthron landete, bis sie dann, des Hochverrats angeklagt, den Kopf durch das Schwert des Henkers verlor.

Auf einem der Bilder sah man König Edward VI. in einem Gefährt, das man als Prototyp eines Rollstuhls bezeichnen kann. Wie sich dem Begleittext entnehmen ließ, leidet Edward in der Serie an einer Lungenkrankheit, die ihm das Gehen zur Qual macht. Dargestellt wird der König von dem schwarzen Schauspieler Jordan Peters. Die Macher der Serie haben sich zudem entschieden, ihn als homosexuellen Charakter anzulegen.

Schwul, behindert und schwarz: Mehr geht eigentlich nicht. Okay, wenn der König auch noch Flüchtling wäre und heimlich muslimischen Glaubens, das wäre der ultimative Kick. Anderseits: Irgendwas muss man sich ja für die zweite Staffel aufheben.

Den Trend, auch historische Rollen mit schwarzen Schauspielern zu besetzen, gibt es schon länger. Eine der ersten Serien, die das Ensemble kräftig durcheinanderwirbelten, war die Erfolgsserie „Bridgerton“, in der die halbe Londoner Oberschicht der aristokratischen Blässe abgeschworen hatte.

Aufmerksame Leser werden jetzt einwenden: Ist das nicht kulturelle Aneignung? Die Besetzung von Rollen mit Schauspielern, die aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder sexuellen Orientierung dafür nicht in Frage kommen, gilt in der Branche als No-Go.

Nach den neuen Regeln der Kunst darf Kleopatra nur mit einer ägyptischen Aktrice besetzt werden, ein Behinderter nur mit einem Behinderten und ein Transsexueller nur mit einem Transsexuellen. Aber ich kann Sie beruhigen: Mit der kulturellen Aneignung verhält es sich wie mit dem Rassismus. Den gibt es auch nur in eine Richtung.

Dass sich Serienschöpfer die Wirklichkeit so zurechtbiegen, wie es ihren dramatischen Bedürfnissen entspricht, gehört zum Handwerk. Aber der Änderungswille der kreativen Köpfe hinter Serien wie „Bridgerton“ oder „My Lady Jane“ ist politisch motiviert, entsprechend groß fiel das Lob aus: Endlich Vielfalt auch retrograd im 16. Jahrhundert!

Die nachträgliche Überwindung der Klassen- und Rassengrenzen bleibt allerdings nicht ohne Tücken. Eine Bekannte brachte mich darauf: Wenn die Kinder mit Serien aufwachsen, in denen auch Lord und Lady Danbury wie selbstverständlich schwarz sind, muss man ihnen mit Rassismus nicht mehr kommen, sagte sie. „Was, die Schwarzen wurden systematisch unterdrückt? Nein, Mama, sie hatten selber Dienstboten und konnten in England sogar König werden!“ Das ist der unbeabsichtigte Erziehungseffekt der neuen Vielfalt: Er macht den Rassismus auf elegante Weise unsichtbar, bis niemand mehr weiß, dass es ihn überhaupt gab.

Ich mag mich täuschen, aber ich glaube, wir befinden uns an einem Kipppunkt. Geht es nach den Anwälten des Fortschritts, dann stehen wir erst am Anfang einer neuen, aufregenden Entwicklung, die uns in eine noch inklusivere, gerechtere und sozialere Gesellschaft führen wird.

Schon das Wort „woke“ ist ja inzwischen verpönt, weil es aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung stammt und seine Verwendung ebenfalls eine Form der kulturellen Aneignung bedeutet.

Glaubt man den Advokaten der neuen Achtsamkeit, ist der Tag nicht mehr fern, an dem alle Yoga-Studios ihre Pforten schließen müssen, weil Yoga bekanntermaßen nicht aus Bottrop, sondern aus Poona stammt. Dafür können wir dann zum Speerwerfen zurückkehren. Das soll auch sehr gesund sein. Und: alter germanischer Brauch. Da kann der Inder nix sagen.

Wobei: Der sagt ja ohnehin nix. Ich habe noch nie einen Indianer sich darüber beklagen hören, dass sie in Bad Segeberg jedes Jahr die Karl-May-Spiele abhalten. Oder einen Mexikaner, dass die Tanzgruppe der Arbeiterwohlfahrt bei der Bundesgartenschau auf ihrer musikalischen Weltreise Sombreros trägt.

Sie erinnern sich vielleicht an das Sommertheater: 17 Rentnerinnen, bei denen man froh ist, wenn sie nach ihrer Darbietung unbeschadet den Weg von der Bühne finden. Trotzdem: Der Sombrero muss weg. Der Hut würde die Maßstäbe der Bundesgartenschau hinsichtlich „interkultureller Sensibilität“ untergraben, hieß es in einer Erklärung der Messeleitung.

Man kann jede Schraube immer fester anziehen. Irgendwann dreht sie durch. Oder der Kopf bricht ab. Rechts der Mitte lebt man in der Angst, dass eines nicht zu fernen Tages kein Witz mehr erzählt und kein loses Wort mehr geäußert werden kann, weil alles Lose und Schlüpfrige unter Strafe gestellt ist. Aber vieles spricht dafür, dass die Bewegung ihren Scheitelpunkt überschritten hat.

Man kann das beim Gendern sehen. Kaum ein Projekt haben Medien- und Kulturleute mit solcher Inbrunst verfolgt wie die Förderung der Geschlechtergerechtigkeit durch eine Sprache, die alle und jeden einschließt, auch diejenigen, die gar nicht eingeschlossen werden wollen. Und nun? Nun streichen selbst führende linke Presseorgane die Segel.

Der „Tagesspiegel“, der zwar nicht über die größte Auflage, dafür aber eine der fortschrittlichsten Redaktionen des Landes verfügt, hat Ende letzten Jahres eine neue Direktive herausgegeben, nach der die Redakteure gehalten sind, auf Pünktchen, Sternchen und andere Attribute der neuen Geschlechtersprache zu verzichten.

Auch die „Süddeutsche“ und der „Spiegel“ haben ihre Versuche, mit Genderzeichen die Welt zu verbessern, weitgehend eingestellt. Weshalb der Rückzug? Die neuen Sprachregeln sind unfassbar unpopulär. Normalerweise ist Journalisten die Meinung ihrer Leser herzlich egal. Aber in dem Fall sind die erwarteten Auswirkungen auf die Abonnentenzahl so desaströs, dass die Verlagsleitungen nicht umhinkonnten, die Sache abzublasen. Es heißt ja nicht von ungefähr: Go woke, go broke.

Wie viele linke Ideen hat auch das Gendern nie wirklich über den Kreis der Überzeugten hinausgefunden. An diese Art der Sprachmagie können nur Menschen glauben, die ihren Lebensunterhalt mit dem Hin- und Herschieben von Wörtern verdienen. Wer jeden Tag Kisten schleppt oder Kissen aufschüttelt, weiß ziemlich genau, dass seine Wirklichkeit sich nicht ändert, nur weil man jetzt anders über sie spricht.

Man kann den geordneten Rückzug auch beim sogenannten Selbstbestimmungsgesetz beobachten. Was als „Glutkern“ der Fortschrittskoalition angekündigt war, gilt inzwischen als Altlast, über die man besser nicht allzu viele Worte verliert. Das Projekt ganz aufzuhalten, das hat sich bei den Grünen niemand getraut. Dazu sind die Lobbygruppen zu stark. Aber niemand im Führungskreis ist wirklich stolz auf das Erreichte. Selbst treuen Grünen-Anhängern ist nur schwer zu vermitteln, weshalb es ein Zugewinn an Liberalität bedeutet, wenn künftig jeder, der sagt, dass Erika früher mal Erich hieß, mit einer Ordnungsstrafe bedroht ist.

Wird der Wokismus ganz verschwinden? So weit wird es nun auch nicht kommen. Als Erkennungszeichen werden seine Insignien in einem bestimmten Milieu immer ihre Berechtigung haben. So wie sich in rechten Kreisen bestimmte Zahlen- und Buchstabenkombinationen großer Beliebtheit erfreuen, sind unter Grünen-Anhängern eben der Knacklaut und der Genderstern en vogue.

Es wird auch immer Leute geben, die das Erreichte noch für viel zu feige halten. In einer Besprechung von „My Lady Jane“ auf der Online-Plattform „Freilich“ heißt es: „Lady Jane ist seit Juni auf Amazon Prime verfügbar. Obwohl die Serie viele woke Elemente enthält, geht sie manchen nicht weit genug. Sie kritisieren zum Beispiel, dass, obwohl König Edward ein schwarzer, homosexueller König im England der Tudor-Zeit ist, Intersektionalität, also die Überschneidung und Wechselwirkung verschiedener Diskriminierungsformen, in der Serie nicht wirklich zum Tragen kommt.“ Das ist das Schicksal vieler Glaubensbewegungen: Es findet sich immer jemand, der noch frömmer ist als man selbst.

Amazon hat jetzt bekannt gegeben, dass es die Serie trotz sehr positiver Besprechungen nach nur einer Staffel einstellen wird. Der Kreis der Fans war einfach zu klein.

© Sören Kunz