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Die Selbstverstümmelung

»Wie soll man einem Medium vertrauen, dessen eigene Angestellte glauben, dass man gewisse Sichtweisen lieber nicht äußert?« Diese Frage stellte »Zeit«-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo. Tja

Anlässlich des 75. Geburtstags der „Zeit“ verfasste der Chefredakteur Giovanni di Lorenzo im Februar 2021 ein leidenschaftliches Plädoyer für die Meinungsfreiheit. Der Text stand unter der Überschrift „Wofür stehen wir?“ und entfaltete auch deshalb Wirkung, weil di Lorenzo, anders als viele erwartet hatten, die Feinde der Freiheit vor allem links der Mitte ausmachte.

Er erinnerte an den Fall einer Food-Kolumnistin, die ihren Job verlor, weil sie als Weiße zwei Frauen mit asiatischen Wurzeln kritisiert hatte. Er nannte den Fall von Donald McNeil, einem allseits anerkannten Wissenschaftsjournalisten, der in einer Diskussion das sogenannte N-Wort benutzt hatte, nicht in böser Absicht, sondern als Zitat, was seine Verfolger aber nicht davon abhielt, ihn so lange zu jagen, bis sie seine Kündigung erreicht hatten. Er zitierte einen Bericht, wonach die Hälfte der bei der „New York Times“ tätigen Journalisten Angst hätten zu schreiben, was sie denken

Der Leitartikel endete mit dem Appell, auch abweichenden Meinungen Platz zu geben. „Wie soll man einem Medium vertrauen, dessen eigene Angestellte glauben, dass man gewisse Sichtweisen lieber nicht äußert?“

In Teilen der „Zeit“-Redaktion rief der Kommentar Bestürzung hervor. Das helle Deutschland vereint im Kampf gegen rechts – und dann schert ausgerechnet der eigene Chefredakteur aus und erklärt die übertriebene Political Correctness zur eigentlichen Gefahr? Das kann ja wohl nicht wahr sein!

Di Lorenzo hatte recht. Und es ist sein eigenes Blatt, das dieser Tage Anschauungsmaterial liefert, wie recht er doch hatte.

Es gibt viele gruselige Wörter. „Depublikation“ steht ganz oben. Am Donnerstagabend vergangener Woche gab die Redaktion bekannt, dass sie eine Kolumne ihres Autors Maxim Biller „depubliziert“ habe. Der Beitrag habe mehrere Formulierungen enthalten, die nicht den Standards der „Zeit“ entsprochen hätten, hieß es in einer knappen Erklärung. „Unsere aufwändige redaktionelle Qualitätssicherung hat leider nicht gegriffen.“

Ich bin seit Langem Abonnent der „Zeit“. Ich gehöre zu denen, die auf das Privileg bestehen, sie am Donnerstag im Briefkasten vorzufinden. Ich habe mir also sofort das Feuilleton gegriffen, und siehe da, da stand der depublizierte Text, 124 Zeilen in schönstem Biller-Deutsch über die merkwürdige Obsession der Deutschen mit Israel. Was bedeutete, dass jeder sein Fett abbekam, angefangen bei Markus Lanz, von dem es hieß, er rolle beim Thema Nahost die Augen wie Elon Musk auf Ketamin.

Die Löschung ist auf vielen Ebenen ein beispielloser Vorgang, auch beispiellos bescheuert. In ihrer Werbung stellt die „Zeit“ gerne die wachsende Auflage heraus. 600 000 Käufer findet die Wochenzeitung jede Woche. Aber offenbar hält das Blatt seine Print-Käufer für altersschwache Zausel, die ohnehin nicht mehr begreifen, was man ihnen vorsetzt. Anders ist es nicht zu verstehen, dass man meint, einen Text erledigt zu haben, wenn man ihn aus der Online-Ausgabe im Netz entfernt.

Auch menschlich ist der Vorgang bodenlos. Biller ist der „Zeit“ seit Jahrzehnten verbunden, sein erster Text erschien 1985. Aber wenn die Verantwortlichen meinen, ihre „aufwändigen Qualitätssicherungen“ seien unterlaufen worden, zählt das nicht. Dann setzt man den Autor in knappen Worten in Kenntnis, dass man einen seiner Texte entfernt hat. Jedes Einwohnermeldeamt verhält sich da rücksichtsvoller.

Wenn man sich unter den Redakteuren umhört, wie es zu diesem Akt der Selbstverstümmelung kommen konnte, verweisen sie auf die Unruhe in Teilen der Redaktion. Es ist wie so oft in solchen Fällen: In den Kommentarspalten versammeln sich die Leute, die umgehend Konsequenzen verlangen. Aber die eigentlichen Heckenschützen sitzen im eigenen Haus.

Die „Zeit“ ist in der Frage, wie viel Meinungsfreiheit sie zulassen soll, tief gespalten. Die Linie verläuft ziemlich genau entlang der neuen und der alten Welt. Die Vertreter einer robusten Meinungsfreiheit, die im Zweifel auch Texte einschließt, die übers Ziel hinausschießen, finden sich vor allem in der Printredaktion. Die eher aktivistisch gesinnte Fraktion, die bei jedem Artikel zuerst die Frage stellt, wem er nutzt, trifft man hingegen mehrheitlich bei den Onlinern. So gesehen handelt es sich bei der Biller-Abstrafung auch um eine Machtdemonstration des zum Co-Chefredakteur aufgestiegenen Online-Chefs Jochen Wegner.

Die Trennlinie geht durch viele Redaktionen. Ich erinnere mich gut an eine der ersten Konferenzen beim „Spiegel“ nach der Zusammenlegung von Print und Online. Greta Thunberg stand damals noch am Anfang ihrer Karriere, ihr Talent war aber schon ersichtlich.

„Haben wir etwas zu Thunberg im Heft?“, fragte einer der Ressortleiter in die Runde. „Ich glaube, Fleischhauer macht etwas dazu in seiner Kolumne“, antwortete der Chefredakteur. Worauf
jemand in einer der hinteren Reihen, wo die Online-Kollegen Platz genommen hatten, Würgegeräusche imitierte. Diesen Umgangston kannte man bislang beim „Spiegel“ nicht. Auf seine hanseatische Contenance war man an der Ericusspitze immer stolz gewesen, auf die hanseatische Liberalität auch.

Wenn man einmal auf dem Weg nach unten ist, rutscht man irgendwann immer schneller. Auf die Depublikationsnotiz folgte die Erklärung einer Verlagssprecherin, man halte einige Formulierungen in der Biller-Kolumne für „nicht vertretbar“. Man hätte zu gern gewusst, über welche Expertise die Sprecherin verfügt, um sagen zu können, wo die sprachliche Zurechnungsfähigkeit bei einem der bedeutendsten deutschen Gegenwartsautoren endet.

Wäre ich bei der „Zeit“, ich würde vor Scham ins Grab sinken. Die Tantenhaftigkeit, die behördenhafte Eilfertigkeit und die grandiose Selbstüberschätzung sind jede für sich genommen schlimm – in der Kombination rechtfertigen sie die sofortige Abo-Kündigung. Oder muss man sagen: Abo-Depublikation?

Billers Text sei durchgerutscht, heißt es jetzt aus der Redaktion. Der diensthabende Feuilletonchef habe nicht richtig draufgesehen, was so nie hätte passieren dürfen. Warum eigentlich nicht? Weil es über die Hungerblockade von Gaza heißt, sie sei unmenschlich, aber strategisch richtig? Oder weil in der Form eines Witzes auf das Dilemma des Soldaten hingewiesen wird, der jeden Tag Menschen erschießen muss, da es keinen Staat Israel mehr gäbe, wenn er die Waffe niederlegte?

Es ist nicht die KI oder die Macht der amerikanischen Monopole, die meiner Profession den Garaus macht. Es ist die Angst anzuecken. Wenn man nach einem Grund sucht, warum
immer mehr Leute das Gefühl haben, sie kämen auch ohne Zeitungsabonnement aus, dann liegt er hier.

Man kann es den Lesern nicht verdenken. Was sollen sie von Journalisten halten, die behaupten, sie hätten keine Angst vor den Mächtigen, aber schon wegen eines scharfen Absatzes von den Socken sind? Lasst die Kritiker doch meckern, würde ich sagen. Wenn sie sich aufregen, umso besser. Im Zweifel steht im nächsten Heft eine deftige Replik.

Aber das traut man sich nicht. Dann müsste man ja beweisen, dass man besser und schärfer schreiben kann als der Angegriffene. Dazu sind die meisten nicht in der Lage. Wer jeden Tag mit dem Gedanken aufwacht, was er alles nicht sagen und schreiben darf, ist dann leider ziemlich hilflos, wenn er mal richtig hinlangen soll. Deshalb bleibt als letzter Ausweg nur die Löschung.

Die Kirche des Bernd

Die kommenden Monate werden hart. Sogar die Schokokekse drohen wegen der Gaskrise knapp zu werden. Sind die Anhänger der Grünen mental am besten auf den Mangel vorbereitet?

Ich wollte immer eine Kolumne über Bernd Ulrich, den stellvertretenden Chefredakteur der „Zeit“, schreiben. Den Titel hatte ich schon: „Die Kirche des Bernd“. Es sollte um den Versuch gehen, allem abzuschwören, was sich nachteilig auf Umwelt und Klima auswirken kann.

Ulrich ist vor fünf Jahren zum Veganismus übergetreten. Er hat darüber in einem mehrseitigen Essay im „Zeit Magazin“ Zeugnis abgelegt. Mir ist eine Passage in besonderer Erinnerung geblieben, in der er den Genuss von geschrotetem Getreide („nachts eingeweicht“) nebst zwei Datteln und einem Schluck Leinöl am Morgen lobte. Ich dachte bis dahin, ein Champagnerfrühstück sei in Hamburger Chefredaktionen das Maß aller Dinge. Was verstehe ich schon von verfeinertem Genuss! So etwas Altmodisches wie Champagner zum Frühstück kennt man nur noch in den Leitungsetagen der ARD.

Vor drei Wochen hat Ulrich erneut Bekenntnis abgelegt, diesmal über seine fortschreitende Abkehr von der Normalität. Angesichts der Multiplikation von Krisen erscheine ihm vieles, was eben noch Erholung versprach, hohl und schal.

„Fußball hat es da schwerer als früher“, schrieb er, „Skatbruderschaft geht, Familie ganz bestimmt, Freunde meistens doch, Kino na ja.“ Aber bevor jemand auf falsche Gedanken kommt: Natürlich sei das neue Leben ohne Fleisch und eigenes Auto viel lustvoller, ja einfach herrlich. So steht es am Ende: „Ich kann den Tieren in die Augen sehen, es stimmt mich immer wieder euphorisch, es ist rundum herrlich.“

Es gibt viele Wege, seinem Leben im fortgeschrittenen Alter eine neue Wendung zu geben. Manche kaufen sich ein Boot. Andere beginnen eine Affäre. Die Dritten treten einer neuen Glaubensrichtung bei. Das meiste geschieht im Stillen, ohne dass ein größeres Publikum davon erfährt. Vegan lebende Menschen hingegen sind so stolz auf die Wende, zu der sie sich durchgerungen haben, dass sie nicht an sich halten können und alle Welt darüber in Kenntnis setzen müssen.

Ich vermute, dass es eben doch nicht so leicht ist, dem Fleisch abzuschwören, wie behauptet wird. Seien wir ehrlich: Das Lob von Getreideschrot als Himmelsspeise ist so, als würde jemand die Wonnen des Nagelbrettes preisen, auf dem er sich jeden Morgen niederlässt. In japanischen Klöstern schwören sie auf den Lotussitz als Demutsübung. Dagegen ist morgendliches Weizenschrot mit Leinöl genossen eine vergleichsweise menschenfreundliche Andachtsform.

Bei allem Spott: Heute sehe ich die Sache in einem anderen Licht. Wenn eintrifft, was Experten für den Winter an Entbehrungen voraussagen, sind uns Menschen wie Bernd Ulrich weit voraus. Kein Schnitzel, kein Auto, keine Fernreise – was für viele eine arge Umstellung bedeutet, ist bei ihnen längst Gewohnheit.

Die kommenden Monate werden hart. Sogar die Schokokekse drohen wegen der Gaskrise knapp zu werden. Die Süßwarenindustrie schlägt vorsorglich Alarm. Keksherstellern käme eine herausragende Bedeutung für die Versorgung der Bevölkerung gerade in Notfall- und Engpasssituationen zu, erklärte ein Sprecher, deshalb sei eine Sonderbewirtschaftung mit Gas notwendig. Wenn nicht einmal Bahlsen mehr verlässlich liefern kann, stehen uns wirklich ernste Zeiten bevor.

Von allen Parteien sind vermutlich die Grünen am besten auf die Zeit des Mangels vorbereitet. Nicht, dass sie in den grünen Vierteln das gute Leben nicht zu schätzen wüssten. Die einzigartige Verbindung aus ökologischem Bewusstsein und demonstrativem Wohlstand ist ein unerschöpflicher Quell des Witzes („Kommt ein Grünenwähler mit dem Porsche beim Biobauern vorgefahren“).

Aber zu den Grundströmungen der Bewegung gehört eben auch der Pietismus, diese urdeutsche Geisteshaltung, bei der Genuss und schlechtes Gewissen Hand in Hand gehen. Konsum ohne Reue? Nicht bei einem Vertreter des deutschen Pfarrhauses, das bis heute das Rückgrat der Ökopartei bildet. Entsprechend verbreitet sind hier Ablasshandlungen. Dass man sich mit einem CO2-Papier von den Folgen einer Reise auf die Malediven freikaufen kann, glaubt nur ein Grüner.

Die Verzichtsethik steht spätestens seit dem Klimawandel in voller Blüte. Grundsätzlich ist alles verdächtig, was auf unbedachtes Verhalten schließen lässt. Flug- und Fleischscham sind bekannt, aber Rasenscham? Darauf wären Sie nicht auf Anhieb gekommen, wette ich. Aber so sieht’s aus: „Was die nächste Generation lernen wird: Grüne Wiese vor dem Haus bedeutet, hier lebt ein Wasserverschwender“, schrieb vergangene Woche ein engagierter Vertreter der neuen Klimamoral.

Bei der Klimaikone Maja Göpel geht der Verzicht so weit, dass sie sogar darauf verzichtet hat, das Buch selbst zu schreiben, für das sie berühmt wurde. Weite Teile von „Unsere Welt neu denken“ stammen aus der Feder eines Ghostwriters. Göpel hat das Genre der Klimadomina begründet. Unvergessen, wie sie den RBB-Moderator Jörg Thadeusz in den Senkel stellte, als der ihr gestand, dass er mit Rücksicht auf seinen Rücken lieber in einen SUV einsteigt als in einen Kleinwagen.

Der Kreis von Leuten, die darauf stehen, dass man ihnen die Leviten liest, ist überraschend groß. Anderseits gibt es ja auch Menschen, die nicht genug davon bekommen können, dass man ihnen sagt, was für schlimme Rassisten sie sind. Aber so groß, dass man darauf eine mehrheitsfähige Bewegung begründen könnte, ist die Zahl dann wiederum doch nicht.

Ich bin überhaupt nicht gegen Verzicht. Ich glaube keinen Augenblick daran, dass ein Mehr an Konsum automatisch glücklicher macht. Ich habe nur Zweifel, dass die Verzichts-Bewegung die politische Kraft entfalten wird, die man ihr zutraut. So sehr ich ein Anhänger des Prinzips Selbstverantwortung bin, so skeptisch bin ich, bei gesellschaftlichen Problemen auf die Einsichtsfähigkeit des Einzelnen zu setzen. Von der Individualisierung der Lösung politischer Fragen kann ich nur abraten.

Den meisten Menschen fehlt schlicht die Zeit, um sich so tief in die Materie einzuarbeiten, wie das erforderlich ist, wenn man es richtig machen will. Umweltbewusstsein war auch immer eine Klassenfrage.

Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal in einem dieser Läden einkaufen waren, die stolz darauf sind, dass es in ihnen keine Verpackung mehr gibt. Bei mir in München-Schwabing war einer gleich um die Ecke: Rasend umweltbewusst, aber es braucht wirklich Vorbereitung, wenn man nicht mit leeren Händen wieder herausgehen will. Kaufen Sie dort mal auf die Schnelle zwei Liter Milch und Cornflakes. Da endet der Kauf mit einer Enttäuschung.

Es ist ohnehin die Frage, wie weit der Appell, sich einzuschränken, trägt. Aus der Forschung ist das Phänomen des Moral Licensing bekannt. Wer sich an einer Stelle vorbildlich verhält, leitet daraus häufig das Recht ab, dann an anderer Stelle über die Stränge zu schlagen. Man kann auch sagen: Kaum etwas ist für das Klima so schädlich wie ein gutes Gewissen.

Es hilft nichts, wer wirkliche Veränderungen erreichen will, kommt um Verbote nicht herum. Wenn man der Meinung ist, dass das Kotelett nicht mehr in die Zeit passt, muss man den Verkauf untersagen.

Ich freue mich schon auf die Diskussion. Sie ist wenigstens ehrlich.

©Silke Werzinger