Sie finden den Lockdown zu hart? Manchen gehen die Maßnahmen längst nicht weit genug. Sie träumen von Irland: keine Treffen mehr zu Hause, Spaziergänge nur fünf Kilometer um die eigene Wohnung herum und die Arbeit eingestellt
Die Volksgemeinschaft ist zurück. Das Ideal einer Gesellschaft, in der Egoismus und Eigensinn keinen Platz mehr haben und alle sich einem großen Ziel verpflichtet fühlen, war etwas aus der Mode geraten. Die Pandemie hat auch das verändert. Die Volksgemeinschaft ist jetzt das Virus-Kollektiv.
Es braucht nicht viel, um sich außerhalb zu stellen. Es reicht, dass man schnell noch ein Weihnachtsgeschenk besorgt hat. Oder jemanden mit einem romantischen Essen überraschen will. Schon der unüberlegte Genuss eines Glühweins kann einen zum Volksschädling machen. Was heißt Volksschädling? Zum potenziellen Mörder!
„Wie viele Tote ist uns denn ein Shoppingerlebnis wert? Wie viele Tote wollen wir denn in Kauf nehmen für ein Candle-Light-Dinner?“, donnerte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, in Richtung der armen Menschen, die gerade noch darüber nachdachten, wie sie am besten ihre Lieben beschenken. Derselbe Mann übrigens, der lange so agierte, als würde Corona um die Hauptstadt einen großen Bogen machen.
Dass man sich bereits schuldig macht, wenn man aus dem Haus geht, ist eine weitreichende Idee. Wenn bereits die bloße Möglichkeit, dass das eigene Verhalten unerwünschte Folgen haben könnte, bedeutet, dass man sich sozialschädlich verhält, wird man künftig vieles nicht mehr tun dürfen.
Wer kann ausschließen, dass er mit seinem Auto einen Unfall verursacht? Mehr als 3000 Menschen kommen jedes Jahr im Straßenverkehr ums Leben, 380 000 werden verletzt. Da hilft auch der Umstieg auf ein Elektroauto nichts. Nach Corona gehen wir nur noch zu Fuß.
Die Maßstäbe, was akzeptabel ist und was nicht, schwanken. Das macht die Sache nicht leichter. Anfang Dezember galt der Weihnachtseinkauf noch als patriotische Tat, jetzt ist er also als asozial geächtet. Es gibt zwar keinen Beleg, dass sich Menschen in nennenswerter Zahl beim Einkaufen anstecken. Man liest von Pflegekräften, die dem Virus erliegen, aber nichts Vergleichbares über Verkäufer und Verkäuferinnen. Kann sein, dass die Ansteckung im Verborgenen geschieht. Aber dass sogar die Gewerkschaften schweigen, wenn Tausende an der Registrierkasse verheizt werden? Ich kann es mir nicht vorstellen.
Es gibt eine eigenartige Lust am Lockdown. Dass man ihn zähneknirschend als Notwendigkeit akzeptiert, um Menschen zu schützen, die sich selbst nicht schützen können – das leuchtet ein. Aber dass man das Unabänderliche begrüßt, ja geradezu herbeifleht? Das ist mir doch fremd.
Der Ton schwankt zwischen Kanzel und Kasernenhof beziehungsweise zwischen Predigt und Anschiss. „Macht den Laden zu, ihr Deppen“, rief Jan Böhmermann Anfang des Monats, wobei ich mich unwillkürlich fragte, wer denn die Deppen sind. Vermutlich Politiker, die nicht gleich spuren, wenn ein ZDF-Moderator, den sie in den Feuilleton-Etagen auf Händen tragen, die Sofort-Stilllegung des Landes verlangt. Selbst besonnene Zeitgenossen geraten plötzlich in Rage. „Lockdown jetzt“, schrie der sanfte Kollege von der „Zeit“ auf Twitter, um dann Verwünschungen gegen die „Egoisten“ folgen zu lassen, die das Gemeinwohl gefährden.
Ich werde störrisch, wenn man mich anschreit. Oder der Renitenz bezichtigt. Zu viel „Leugnung, Egoismus und Renitenz“ hätten den Lockdown unausweichlich gemacht, erklärte der ZDF-Chefredakteur Peter Frey im „heute journal“. Ich bin noch antiautoritär erzogen. Ich stamme aus einer Generation, die eine gewisse Aufsässigkeit und Widerspenstigkeit nicht als Makel, sondern als Vorzug sah und die es bis heute eigenartig findet, wenn Journalisten wie Erziehungsbevollmächtigte auftreten. Aber ich bin ja auch schon ein wenig älter.
Am vergangenen Wochenende hatten die Deppen endlich ein Einsehen und machten den Laden dicht. Aber wie das so ist, manchen gehen die Einschränkungen noch nicht weit genug. Das Lockdown-Paradies ist jetzt Irland: keine Treffen mehr zu Hause, Spaziergänge nur fünf Kilometer um die eigene Wohnung herum und die Arbeit weitgehend eingestellt.
Auch nach Lateinamerika und der in diversen Militärdiktaturen eingeübten Ausgangssperre richtet sich sehnsuchtsvoll der Blick. „Eine Peruanerin, die noch nicht lange in Deutschland wohnt, sagt: ‚Ich kann immer raus, wenn ich will? Dann ist das kein Lockdown‘“, schrieb eine ZDF-Korrespondentin an ihre Follower.
Keine Ahnung, was beim ZDF los ist. Vielleicht bleibt es nicht aus, dass man sich wünscht, andere würden das gleiche Schicksal teilen, wenn man in einer Anstalt lebt. Oder sie sind dort alle heimlich Mitglied einer Art Fernseh-Opus-Dei, bei dem nur diejenigen weiterkommen, die besonderen Glaubenseifer zeigen und sich noch mehr geißeln.
Viele Lockdown-Fetischisten sind erstaunlich unbekümmert, was die wirtschaftlichen Folgen angeht. Bei jemandem, der beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk beschäftigt ist, mag das verständlich sein. Eher tut sich der Boden unter Deutschland auf, als dass man als öffentlich-rechtlicher Mitarbeiter um seine Pension fürchten muss.
Aber wenn man bei einem Verlag arbeitet, dessen Wohlergehen von der Wirtschaftslage abhängt? Möglicherweise zeigt sich hier der viel beschworene Gemeinschaftsgeist. Ich tippe allerdings eher auf Kurzsichtigkeit. Auch in meinem Berufsstand halten erstaunlich viele Menschen Wirtschaft für etwas, das man mal eben ein- und ausschalten kann.
In der „Süddeutschen Zeitung“ las ich den Aufruf, den Lockdown als Gelegenheit zu sehen, endlich Abschied von „toxischen Traditionen“ zu nehmen. Unter toxischen Gewohnheiten listete die Autorin den Weihnachtseinkauf auf. Eine toxische Tradition von mir ist die Morgenlektüre der „Süddeutschen Zeitung“. Aber ich kenne mich, ich halte gute Vorsätze nur bedingt durch. Also lasse ich es mit den guten Vorsätzen lieber.
Ich habe auch nichts gegen Konsum. Die Verteufelung des Materiellen ist eine Spielart der Kapitalismuskritik, die ich immer für ziemlich abgehoben hielt. Man muss sich Konsumverzicht im wahrsten Sinne leisten können. Entsagung ist das Vergnügen von Leuten, die ohnehin genug haben. Oder wie der Autor Suketu Mehta in seinem fabelhaften Buch über seine Heimatstadt Bombay schrieb: Der Wendepunkt zur Wohlstandsgesellschaft ist erreicht, wenn mehr Leute darüber nachdenken, wie sie Gewicht verlieren, als darüber, wie sie Gewicht zulegen.
Unter der Oberfläche der Verzichtspredigt lauert die Verachtung für den Plebs, der saufen und kaufen muss. Die innere Welt, in die sich der Freigeist zurückzieht, steht nicht jedem offen, das wird dabei gern übersehen. Die Freude an der Einkehr setzt einen Bildungsstand voraus, der nicht allen gegeben ist. Manche sind nach getaner Arbeit auch einfach zu erschöpft zur Selbstversenkung.
Online-Einkauf ist leider ebenfalls keine sozialverträgliche Variante, wie man jetzt weiß. Wer dachte, er könne das Weihnachtsfest retten, indem er schnell noch bei Amazon bestellt, dem redete der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet ins Gewissen. Nun heißt die Losung: nicht online bestellen, sondern Gutscheine schreiben, die man dann im Januar oder im Februar einlöst – oder wann immer die Geschäfte wieder öffnen, wie Laschet in bemerkenswerter Offenheit sagte.
Ich habe eigentlich nur eine bescheidene Bitte: dass die Leute, die jetzt den Lockdown feiern, nicht im kommenden Frühjahr die Ersten sind, die dann Beiträge absetzen, in denen die Verödung der Innenstädte beklagt wird. Aber ich habe wenig Hoffnung. Dazu kenne ich meine Branche zu gut.