Wir sind in der Lage, Massentests für Reiserückkehrer anzuordnen, aber die Politik sieht sich außerstande, die Besucher von Altenheimen auf Corona untersuchen zu lassen. Das ist die Lage im Covid-Winter 2020
Am Mittwoch vor einer Woche war ich in Köln bei „Maischberger“. Talkshows sind gottlob noch erlaubt, trotz Corona, obwohl sie streng genommen auch ins Unterhaltungsfach fallen, also irgendwo zwischen Kabarett und Vaudeville-Theater. Die Redaktion hatte sogar ein Hotel aufgetan, wo man nach der Sendung an der Bar einen Wein bekam.
Eingeladen war unter anderem Wolfgang Kubicki von der FDP. Kubicki lebt in Kiel, dort liegt die Inzidenz bei 90. Es gibt in Schleswig-Holstein Landkreise, in denen sich binnen sieben Tagen von 100 000 Einwohnern nicht mehr als 20 infizieren.
Er könne nicht verstehen, warum in seiner Heimat die gleichen Beschränkungen gelten sollen wie in Bayern, sagte Kubicki. Weshalb müssen in Plön die Restaurants zu sein, weil in Passau die Zahlen durch die Decke gehen? Gute Frage, dachte ich. In der Zeitung steht, wir bräuchten ein einheitliches Vorgehen, landesspezifische Regelungen brächten nichts. Aber mein Verdacht ist: Die Leute, die so reden, wollen nur verhindern, dass den Bürgern auffällt, dass einige Bundesländer die Krise besser bewältigen als andere.
Wenn Menschen das Gefühl haben, einer Schicksalsgemeinschaft anzugehören, ertragen sie Einschränkungen leichter. Das ist wie im Krieg. Es ist aus meiner Sicht kein Zufall, dass die Regierung Videos drehen ließ, in denen Veteranen erzählen, wie sie den Covid-Winter mit Dosenravioli und Videospielen überstanden. Wenn die Deutschen an Stalingrad erinnert werden, rücken sie zusammen.
Oberflächlich betrachtet sieht es so aus, als ob das Virus ganz Deutschland im Griff hielte. Der bayerische Ministerpräsident sprach vom „Schlendrian“, der Einzug gehalten habe, als er Anfang der Woche den Katastrophenfall ausrief. Das klang so, als ob sich das Virus weiter ungebremst ausbreiten würde, weil die Bürger zu leichtsinnig wären.
Aber das stimmt nicht. Die Infektionszahlen sind in den meisten Altersgruppen seit drei Wochen weitgehend stabil oder weisen nach unten. Es gibt nur eine Ausnahme, das ist die Altersgruppe ab 75. Dort steigen die Infektionen gegen den Trend weiter, ab 85 Jahren dramatisch. Bei den über 85-Jährigen liegt die Inzidenz mittlerweile bei 287, bei den über 90-Jährigen bei 494. Es sind die Alten, die jetzt die Statistik verderben, nicht die Jungen.
Ein ähnliches, noch düsteres Bild zeigt sich bei den Toten.
In den Medien wird der Eindruck erweckt, als würde das Virus nicht nach Alter oder Gesundheit diskriminieren. Covid als der große Gleichmacher, das klingt schrecklich und beruhigend zugleich. In der „Süddeutschen Zeitung“ fand sich dieser Tage ein Kommentar, in dem es hieß, dass jetzt auch täglich Kinder, Sportler, Kerngesunde sterben würden.
Täglich tote Kinder? Wer will da untätig bleiben! Gut, die Autorin ist für ihren emotionalen Zugang zur Wirklichkeit bekannt. In Wahrheit sind 87 Prozent der Covid-Toten älter als 70 Jahre alt, das Durchschnittsalter liegt bei 83 Jahren. Sicher, es gibt auch den Leistungssportler, der dem Virus zum Opfer fällt. So wie es Kinder gibt, die an Krebs erkranken. Wenn die Fallzahl groß genug ist, findet sich für alles ein Beispiel. Aber die Wahrscheinlichkeit, als junger Mensch an Covid zu sterben, ist nach wie vor verschwindend gering.
Der Hotspot ist nicht die Schule, es ist das Altenheim.
Wenn man wie Söder vom Schlendrian sprechen will, dann müsste man sich die Heimbetreiber vornehmen.
Oder die Landesregierung, die es versäumt hat, für einen ausreichenden Schutz der alten Menschen zu sorgen. Aber so ist das mit dem Schlendrian selbstverständlich nicht gemeint.
Schuld sind immer die anderen. Das Spiel beherrscht auch der bayerische Ministerpräsident.
Wir sind erstaunlich unvorbereitet in die zweite Welle gegangen. Weder hat die Politik Anstrengungen unternommen, genauer aufzuklären, wo oder wie sich die Deutschen anstecken.
Noch wurden Vorkehrungen getroffen, um die sogenannten Risikogruppen wirksam zu schützen.
Die Regierung hat die Kostenübernahme für Schnelltests zugesagt, um die Einschleppung in Heime zu verhindern.
Jeder Heimbewohner hat Anspruch auf 20 Tests pro Monat. Aber niemand scheint sich dafür verantwortlich zu fühlen, dass die Tests auch in den Pflegeeinrichtungen ankommen.
Ich habe das Dokumentations-Ressort gebeten, mir Artikel zur Lage vor Ort herauszusuchen. Nahezu überall zeigt sich demnach das gleiche Bild: Die Betreiber sagen, dass sie nicht die Zeit hätten, um alle Besucher zu testen, und auch nicht das Personal. Also werden Angehörige ungetestet in die Heime gelassen – oder die Einrichtungen wie im Frühjahr zugesperrt.
Wir sind in der Lage, Massentests für Reiserückkehrer anzuordnen, aber wir sehen uns außerstande, Besucher von Altenheimen auf Corona zu untersuchen. Das ist die Lage im Covid-Winter 2020.
Ich habe zunehmend den Eindruck, dass die Politik im Nebel stochert und ihr das im Grunde völlig egal ist. Vergangene Woche waren es die Glühweinstände, von denen angeblich die größte Gefahr ausgeht. Morgen ist es der Einzelhandel, obwohl niemand Zahlen hat, die eine besondere Ansteckungsgefahr beim Shoppen belegen.
Der „Welt“-Redakteur Olaf Gersemann machte mich darauf aufmerksam, dass die Gesundheitsämter noch nicht einmal sagen können, in welchen Verhältnissen jemand lebt, der positiv getestet wurde. Ist er alleinstehend, hat er Familie oder befindet er sich in einem Pflegeheim? Die Angabe dazu ist freiwillig, sie wird nicht abgefragt. Aber warum auch? Wer die Fiktion aufrechterhalten möchte, dass das Virus alle gleichermaßen trifft, den bringen genauere Erhebungen nur in Erklärungsnot.
Gersemann hat im Februar angefangen, Zahlen zum Verlauf der Pandemie zusammenzutragen. Jeden Tag versucht er, aus den spärlichen Informationen, die das Robert Koch-Institut veröffentlicht, ein Bild des Infektionsgeschehens zu gewinnen. Inzwischen folgen ihm Tausende auf Twitter. Man sollte eigentlich erwarten, dass es die Aufgabe des RKI sei, den Bürgern ein Bild vom Virusgeschehen zu vermitteln.
Aber das Institut liefert bis heute lediglich einen Datenhaufen, aus dem kein normaler Mensch schlau wird. Daten sind nicht gleich Informationen, wie jeder Journalist weiß. Deshalb ist Gersemanns Dienst so gefragt.
Als Vergleichsmaßstab gelten der Bundesregierung jetzt Italien, Spanien, Frankreich. Aber das ist eine, sagen wir, eurozentristische Sicht. Die wahre Maßstab wären für mich die asiatischen Länder, die die Pandemie unter Kontrolle gebracht haben.
Bei „Maischberger“ war auch Karl Lauterbach zu Gast.
Lauterbach ist das Gesicht der Krise, niemand sonst vertritt die Politik der Bundesregierung so vernehmbar nach außen wie er. Auf meine Frage, weshalb wir uns nicht ein Beispiel an Südkorea oder Japan nehmen, die bei dem Kampf gegen das Virus auf digitale Hilfe setzten, erhielt ich zur Antwort, dass der Erfolg nicht der Digitalisierung zu verdanken sei, sondern einem harten Lockdown. Japan und Südkorea hätten das Land sehr lange komplett heruntergefahren, sagte Lauterbach wörtlich, viel härter als Deutschland.
Politiker lieben den Lockdown, er beweist Entscheidungsfreude und erspart Differenzierungen. Einen harten Lockdown hat es allerdings weder in Südkorea noch in Japan gegeben. Entweder weiß Lauterbach das nicht, oder er will es nicht wissen. In jedem Fall offenbart seine Antwort ein bestürzendes Maß an Unkenntnis, das für den Diskussionsstand in der Regierung das Schlimmste vermuten lässt.
Anfang der Woche war in der „Welt“ ein Bericht aus Tübingen zu lesen. Tübingen hat neun Altenheime mit insgesamt 1000 Bewohnern.
Seit Mai hat es dort keinen einzigen Corona-Toten gegeben. Die Stadt setzt auf kostenlose FFP2-Masken, regelmäßige PCR Tests in den Heimen, Schnelltests für alle, die ein Heim betreten wollen. Günstige Taxis für alle ab sechzig gibt es noch dazu.
Ich sage es ungern, aber vielleicht sollte man sich in der Pandemie das grün regierte Tübingen zum Vorbild nehmen und nicht das schwarze Bayern.