Monat: Juli 2020

Her mit den Vorurteilen!

Seit Wochen kann man lesen, dass wir ein Polizeiproblem haben. Polizisten gelten als zu schießwütig, zu rechts oder schlicht als nicht höflich genug. Wie wäre es, wir würden die Polizei einfach abschaffen?

Der Krimiautor Till Raether hat sich Gedanken gemacht, wie sich das Ansehen der Polizei verschlechtern ließe. Die Deutschen hätten ein zu positives Bild von den Ermittlerinnen und Ermittlern, schrieb er in einem Beitrag für das „Süddeutsche Zeitung Magazin“. Das verstelle den Blick auf die dunklen Seiten der Polizeiarbeit. Raether führt das gute Image auf den übermäßigen Konsum von Krimiserien zurück. Ohne dass es ihnen bewusst sei, würden die Zuschauer beim Fernsehen den Blickwinkel der Polizei einnehmen. Sie würden lernen zu denken, zu schauen und vor allem so zu fühlen wie Polizisten. Kein Wunder also, so seine Schlussfolgerung, dass sie am Ende völlig unkritisch sind, trotz aller Diskussionen über Polizeigewalt und Rassismus.

Es nützt auch nichts, dass man die Polizisten als Bad Cops darstellt, die das Gesetz in die eigene Hand nehmen. „Die Polizei ist der Lebenswirklichkeit des Publikums näher, als Mörder und Drogendealer es sind“, schreibt Raether. Er sieht das offenbar als Problem. Ich würde sagen: Lasst uns dem Herrgott dafür danken, dass sich der normale Deutsche eher mit dem Ordnungshüter als mit dem Gesetzesbrecher identifiziert. Wäre es nicht so, sähe es auf unseren Straßen ganz anders aus. Aber ich habe in meinem Leben vermutlich einfach zu viele Serien geschaut.

Seit Wochen kann man l esen, dass wir ein Polizeiproblem haben. Entweder sind Polizisten zu schießwütig oder zu rechts oder einfach nicht höflich genug, in jedem Fall aber im Prinzip ungeeignet für den Dienst. Natürlich sind sie auch tief von Vorurteilen gegen Minderheiten durchdrungen, wovon sie aber nichts wissen wollen, was zeigt, dass sie nicht nur rassistisch sind, sondern auch noch uneinsichtig. Kurz: Man kann ihnen nicht über den Weg trauen, weshalb darüber nachgesonnen wird, wie man die Polizei grundlegend reformiert.

Wenn ich Polizisten im Einsatz sehe, bin ich jedes Mal erstaunt, wie ruhig und beherrscht sie auch in schwierigen Situationen bleiben. Ich hätte nicht die Geduld, einer kreischenden Autofahrerin fünfmal in für sie verständlichen Worten zu erklären, warum das Einbahnstraßenschild für alle gilt. Ich höre schon den aufgeregten Einwand, ich hätte als privilegierter weißer Mann leicht reden. Aber auch die Statistik gibt nicht her, dass die Zahl der Rassisten oder Rechtsradikalen in der Polizei deutlich höher ist als in der Gesamtbevölkerung. Unter den 49 000 Bundespolizisten gab es seit 2012 nur 25 Verdachtsfälle mit rassistischem Hintergrund, wie ich der „FAZ“ entnommen habe.

Was verdient ein Polizist? In Bayern 2310 Euro netto als einfacher Streifenbeamter, 3770 als Polizeihauptkommissar nach 15 Jahren im Dienst. Dafür wird von ihm erwartet, dass er sich mutig der Gefahr in d en Weg stellt. Selbstverständlich soll er sofort zur Stelle sein, wenn ein Notfall besteht, wozu schon ein zugeparktes Auto zählt. Bei jedem Ärgernis drückt der Bürger mittlerweile die Notruftaste: Wenn der Nachbar zu laut grillt oder sich ein paar Betrunkene nicht über den Weg nach Hause einigen können.

Ob sich von den Kritikern mal jemand gefragt hat, wie es in einem jungen Polizeibeamten aussieht, wenn ständig über ihn und seine Berufsgruppe hergezogen wird? Jede gesellschaftliche Minderheit liegt uns am Herzen, bei jeder gruppenbezogenen Beleidigung bemühen wir den Diskriminierungsbeauftragten. Nur die Polizei darf ohne wirklichen Widerspruch als „Dumpfbackenhaufen“ und „ressentimentgesteuertes, bewaffnetes Sicherheitsrisiko“ geschmäht werden.

Wenn Sie jetzt denken, echt nicht schön, was so in den linken Krawallblättern steht: Nein, die Zitate stammen von der Onlineseite der „Zeit“, dem Blatt des linksliberalen Bürgertums. Das hessische Innenministerium hat im Februar eine Umfrage unter Beamten veröffentlicht, was sie besonders belaste. Fast die Hälfte antwortete: Wenn wir unseren Dienst tun und dann als Rassisten oder Nazis beschimpft werden.

Die meisten Menschen vertrauen der Polizei, das ist die gute Nachricht. Sie haben auch nicht den Eindruck, dass hier vor allem Nazis beschäftigt seien. Aber leider hört man sie nicht. Die schweigende Mehrheit hat den Nachteil, dass sie eben das ist: schweigend. Stattdessen hört man die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, die so laut über „latenten Rassismus“ lamentiert, dass ihr die eigenen Innenminister in die Parade fahren müssen. Oder man erfährt von irgendwelchen aufgescheuchten Hühnern in den Onlineredaktionen, wie viel Angst man vor Menschen in Uniform haben müsse.

Die Linke hatte immer schon ein Problem mit der Ordnungsmacht. Früher redete man von „Bullen“, heute eben von „Rassisten“. Was eigenartig ist, wenn man darüber nachdenkt, da links der Mitte das Staatsvertrauen ansonsten grenzenlos ist. Alles, was man selber erledigen könnte, würden Linke am liebsten in staatliche Hände legen. Aber ausgerechnet das, was man nicht privat organisieren kann, nämlich die Garantie von Sicherheit und Ordnung, kommt angeblich auch mit sehr viel weniger Personal aus.

Einige Träumer gehen so weit, sich eine Welt ohne Polizei vorzustellen. „Defund the Police“ lautet einer der Schlachtrufe der Antirassismusbewegung, die auch in Deutschland eine beachtliche Anhängerschaft gefunden hat. Noch ist das eine Minderheitenmeinung, aber die Grundannahme, dass weniger Polizisten besser seien als mehr, die wird über die Aktivistenszene hinaus geteilt – jedenfalls bis zu dem Moment, wo „Defund the Police“ das eigene Stadtviertel erreicht.

Es heißt jetzt, man wolle den Rassismus in der Polizei ja nur wissenschaftlich untersuchen. Das sei im Zweifel im Sinne der Beamten, da so auch der Beweis erbracht werden könnte, dass kein verfestigter Rassismus existiere. Ich möchte mal die Mitarbeiter bei Siemens hören, wenn das Wirtschaftsministerium eine Studie in Auftrag gäbe, wie verbreitet unter Siemens Mitarbeitern die Korruption ist. Oder wenn der Presserat eine Untersuchung bei der „taz“ anregen würde, wie viele „taz“ Redakteure heimlich mit Terroristen sympathisieren. Die Beleidigung liegt in der Fragestellung. Wer das nicht sehen will, ist dumm oder er stellt sich so.

Bei den Krawallen in Frankfurt und Stuttgart kam vor allem eines zum Vorschein: die totale Respektlosigkeit gegenüber den Ordnungskräften. Wer Bierflaschen auf Polizeibeamte schleudert, handelt im festen Gefühl, ihm könne nichts passieren. Man kann es den jungen Leuten noch nicht mal verdenken: Es passiert ihnen ja auch nichts. Von den 39 Festgenommenen in Frankfurt waren schon 31 anderntags wieder auf freiem Fuß, die verbliebenen acht dann am Montag. Es ließe sich nicht nachweisen, dass die Bierflaschen auch tatsächlich einen Polizeibeamten getroffen hätten, erklärte die Staatsanwaltschaft.

Ich nehme es sofort wieder zurück, aber wenn ich die Bilder aus Frankfurt sehe, denke ich im Stillen: Vielleicht haben wir es mit der Deeskalation übertrieben. Wenn mich als Polizist ein gewalttätiger Mob attackieren würde, könnte ich nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass ich nicht die Waffe zöge, um die Randalebrüder in Schach zu halten. Zum Glück lassen sie mich nicht in die Nähe einer Waffe.

Wir können das immer weiter treiben. Wir können es zulassen, dass über die Leute, von denen wir erwarten, dass sie für uns den Kopf hinhalten, schlecht geredet wird. Wir können den Bundesinnenminister dafür schelten, dass er sich vor seine Beamten stellt und es ablehnt, eine Untersuchung auf den Weg zu bringen, deren Fragestellung ehrenrührig ist. Aber dann dürfen wir uns nicht wundern, dass wir in Zukunft mehr Polizisten brauchen und weniger haben werden, wie der Journalist Andreas Hallaschka letzte Woche zu Recht schrieb.

Der Krimiautor Till Raether hat sich übrigens vorgenommen, in seinen Krimis mehr von der „Lebensrealität der Marginalisierten“ zu erzählen. Vielleicht ist das die Lösung: Die Krimiserien lehren uns, stärker wie Drogenhändler und Mörder zu denken, schauen und fühlen.

Empathieverbot

Darf man sich als Schauspieler oder Schriftsteller in andere Menschen hineinversetzen? Die neue Theorie sagt: nein, wenn es sich um Angehörige von Randgruppen oder fernen Kulturen handelt, auf keinen Fall. Das wäre das Ende der Kunst

Die Schauspielerin Halle Berry musste sich entschuldigen. Sie hatte in einem Interview angekündigt, dass sie demnächst eine Frau spielen werde, die sich in einen Mann verwandelt. Große Aufregung in der Transgender- Community. Halle Berry könne die Erfahrungen eines Transsexuellen gar nicht nachvollziehen, lautete der Vorwurf. Außerdem würde sie einem echten Transgender-Schauspieler die Rolle stehlen.

Es täte ihr furchtbar leid, erklärte Frau Berry daraufhin. Sie hätte als eine „Cisgender-Frau“ niemals die Rolle in Betracht ziehen dürfen, das sei ihr jetzt klar geworden. „Die Transgender-Gemeinschaft sollte unangefochten die Chance haben, selbst ihre Geschichten zu erzählen.“ Für Uneingeweihte: „Cisgender-Frau“ ist der Begriff für Frauen, die glauben, dass sie Frauen sind und nichts anderes.

Frau Berry hätte gewarnt sein können. Das Gleiche ist vor zwei Jahren schon Scarlett Johansson passiert. In dem Fall ging es um die Rolle einer Frau, die als Mafiosi lebt und Massagesalons als Tarnung für Bordelle nutzt. „Rub & Tug“ hieß das Projekt, es beruhte auf der Lebensgeschichte des Zuhälters Dante „Tex“ Gill. Mit dem Geld aus der Prostitution bezahlte er später seine Geschlechtsumwandlung. Ein Stoff wie gemacht fürs Kino.

Scarlett Johansson hat in ihrem Leben schon alles Mögliche gespielt: eine einfältige Journalistin, die Schwester der englischen Königin Anne Boleyn, ein Computerprogramm, eine Außerirdische, eine Superheldin. Aber Scarlett Johansson als eine Frau, die eigentlich ein Mann ist? Undenkbar. Die Schauspielerin gab aufgrund der Proteste umgehend ihre Rolle zurück. Unnötig zu sagen, dass man nie wieder etwas von dem Film gehört hat, weil die Finanzierung nach ihrem Rückzug auseinanderfiel.

So wie vermutlich auch aus dem Projekt mit Halle Berry nichts werden wird. Aber immer noch besser kein Film über eine Frau, die als Mann lebt, als eine mit den falschen Stars.

Vermutlich gingen Sie bislang davon aus, dass es die Aufgabe eines Schauspielers sei, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Wer will es Ihnen verdenken? Es gibt in Hollywood Tausende von Experten, die mit künstlichen Haaren, Maske und Kostüm Schauspielern dabei helfen, möglichst glaubwürdig jemand zu verkörpern, der sie nicht sind: alte Menschen, junge Menschen, Dicke, Dünne, Zombies, Aliens. Einmal im Jahr wird sogar ein Preis dafür vergeben, wem es am besten gelang, in eine fremde Haut zu schlüpfen. Der Preis heißt Oscar.

Sorry, aber das ist die Welt von gestern. Wenn meine Freundin Maskenbildnerin wäre, würde ich ihr raten, sich schleunigst nach einem neuen Job umzusehen. Demnächst spielen nur noch Frauen Frauen, nur noch Alte Alte, und Dicke werden nur noch von Dicken dargestellt. Gut, Außerirdische und Zombies bleiben als Rolle, die haben noch keine Community, die ihre Interessen vertritt. Aber die Marktlücke ist halt sehr klein.

Das Konzept, das Halle Berry und Scarlett Johansson zum Verhängnis wurde, heißt „Cultural Appropriation“ oder zu Deutsch: „kulturelle Aneignung“. Es kommt wie alles, was derzeit als neu und fortschrittlich gilt, von den amerikanischen Hochschulen und besagt in Kürze, dass man Mitglieder von Minderheiten entrechtet, wenn man so tut, als wäre man sie. Der Begriff der Entrechtung ist dabei sehr weit gefasst. Um sich der kulturellen Aneignung schuldig zu machen, reicht es schon, dass man einen Tanz imitiert, der einem gefällt, oder sich so kleidet wie jemand aus einer anderen sozialen Gruppe oder bestimmte Worte benutzt, die in einer bestimmten Szene oder Subkultur gerade angesagt sind.

Ich würde Sie nicht behelligen, wenn die ersten Ausläufer dieser Theorie nicht bereits Deutschland erreicht hätten. Vergangenes Jahr ging ein Hamburger Kindergarten durch die Zeitungen, weil die Erzieher den Eltern empfohlen hatten, auf Indianerkostüme zu verzichten. Stattdessen sollten die Kinder weiße T-Shirts mitbringen, die sie dann bunt bemalten.

Nach meiner Erfahrung wird es nicht mehr lange dauern, bis die ersten Broschüren der Amadeu Antonio Stiftung aus Berlin über die richtige Kostümierung zu Fasching erscheinen. Keine Kindergärtnerin will in Verdacht geraten, die Gefühle anderer Menschen zu verletzen, schon gar nicht die von toten Indianern. Auch für Hexen, Piraten und arabische Prinzen sehe ich, was die Zukunft angeht, schwarz.

Am besten spielt man nur sich, das ist ungefährlich. Und schreibt auch nur noch über sich selbst. Vor ein paar Monaten ist in den USA ein Roman mit dem Titel „American Dirt“ erschienen, in dem die Autorin das Schicksal mexikanischer Migranten schildert. Das Interesse war schon vor Erscheinen riesengroß. Die Verlage überboten sich gegenseitig bei den Abdruckrechten, die Schauspielerin Salma Hayek posierte mit dem Buchcover auf Instagram.

Dann meldeten sich hispanische Autoren zu Wort und fragten, wie es denn sein könne, dass eine weiße Frau aus der Mittelschicht das Elend migrantischer Arbeiter beschreibe. Salma Hayek erklärte, sie habe das Buch gar nicht richtig gelesen, was man ihr sofort abnahm. Auch an Frau Hayek geht das Alter nicht spurlos vorbei. Sie sieht fantastisch aus für ihre 53 Jahre, aber in dem Alter ist Lesen für eine Schauspielerin nicht mehr ungefährlich. Diese endlosen Reihen winziger Buchstaben: Da kneift man schnell mal die Augen zusammen, was sich fatal auf die Faltenbildung auswirkt.

„American Dirt“ gilt jedenfalls als Sündenfall. Ich bin gespannt, wann wir anfangen, rückwärts zu denken. „Madame Bovary“ von Gustave Flaubert: ein Mann, der sich in eine von ihrem Gatten gelangweilte Arztgattin in der französischen Provinz hineinversetzt? Oder „Oliver Twist“ von Charles Dickens: ein Mann, der die Sicht eines armes Waisenkinds in London einnimmt? Oder „Die Blechtrommel“ von Günter Grass: ein Mann, der die Welt aus der Perspektive eines wachstumsgestörten Kindes beschreibt? Machen Sie schon mal Platz im Bücherregal, wäre mein Tipp.

Cultural Appropriation hat auch seine komischen Seiten. Als eifriger Twitter-Leser stieß ich vor zwei Wochen auf die Frage einer jungen Frau, wie es sich denn mit Rastazöpfen verhalte. Sie frage sich, ob sie zu „weiß“ dafür sei, obwohl ein Elternteil von ihr aus Afrika stamme. Die Antwort fiel nuanciert aus. Wenn ihr Vater Schwarzafrikaner sei, gehe das mit den Rastazöpfen in Ordnung. Sei sie hingegen eine weiße Afrikanerin, wäre das wirklich problematisch. „Bist du schwarz oder of color? Haben deine Eltern und Großeltern historisch diese Frisuren getragen?“, das sei die entscheidende Frage. Twitter hat einen schlechten Ruf, aber wie man sieht, ist auch praktische Lebenshilfe möglich.

Ich fürchte, es kommen harte Zeiten auf die Tattooszene zu. Viele Motive sind anderen Kulturen entlehnt, angefangen bei den Tribalmustern ferner Südseestämme. Auch die bei der Jugend beliebten Ohrtunnel stammen, soweit ich das beurteilen kann, nicht aus dem germanischen Kulturraum. Die Regermanisierung beim Körperschmuck hielte ich für eine begrüßenswerte Entwicklung. Mich hat es immer schon irritiert, wenn der Kellner in seinen Ohrläppchen Löcher hat, durch die man ein Matchbox-Auto fahren könnte.

Die Pointe des Denkens in kulturellen Sonderzonen ist, dass es zum Verwechseln dem bei den radikalen Rechten ähnelt. Wenn es etwas gibt, was Rechte nicht ausstehen können, dann die Idee des Universalismus, diese erstaunliche Gabe, sich in fremde Menschen hineinversetzen zu können, in ihr Glück, ihr Unglück, auch das Unrecht, das ihnen möglicherweise widerfährt. In der identitären Vorstellung sind die Kulturen streng getrennt und sollten das auch bleiben. Empathie ist in dieser Welt kein Wert, sondern ein Schimpfwort.

Irgendein Witzbold hat dem Tweet der Frau mit den Rastazöpfen ein Bild von Martin Sellner, einem der Anführer der identitären Bewegung von rechts, gegenübergestellt. Überschrift: „Ethnopluralisten unter sich“. Die Zahl der Likes hielt sich hier in Grenzen.

Das Phänomen der relativen Größe

Glaubt man einer neuen, nachrückenden Generation von Journalisten, dann denkt die Jugend von heute queer, grün und gendergerecht. Wie sich zeigt, ist das ein großer Irrtum – mit ernsten Folgen für Politik und Medien

Ein Freund rief an, um mich auf einen Text bei „Bento“ aufmerksam zu machen. Für alle Leser, die nicht auf Anhieb wissen, wovon die Rede ist: „Bento“ ist die junge, digitale Ausgabe des „Spiegel“. Eine Art Online-„Bravo“ für die Generation Y. Oder sind wir inzwischen bei der Generation Z angelangt? Ich glaube, ich habe bei der Generationenbenennung den Überblick verloren. Egal, in jedem Fall richtet sich der „Spiegel“ mit „Bento“ an die politisch bewusste Jugend, von der es heißt, dass wir mehr auf sie hören sollten.

Der Freund ist verheiratet und hat drei Kinder im Schulalter. Er ist also eindeutig über das „Bento“-Alter hinaus. Aber ich habe den Eindruck, er liest alles, was dort steht. Es ist wie eine Sucht. Manche Menschen begeistern sich für Zierfische. Andere wollen so viel wie möglich über das geheime Leben der Bäume wissen. Sein Hobby sind die Zwangsideen der sogenannten Millennials.

Ich kann ihn in gewisser Weise verstehen. Wenn es „Bento“ nicht gäbe, müsste man es erfinden. Wo sonst bekommt man einen so tiefen Einblick in die Lebens- und Vorstellungswelt junger, politisch nachhaltig sozialisierter Menschen? Ich finde schon den Titel genial. Klingt wie eine dieser Sushi-Boxen, die sie am Flughafen anbieten. Total gesund und trotzdem hip.

Eine typische Woche auf „Bento“ geht so: Am Montag berichtet eine Autorin über die Angst, auf die Straße zu gehen, weil sie am Tag zuvor beim Coffee-Shop den Kaffee aus Nachlässigkeit in einen Pappbecher hat füllen lassen, statt wie sonst in einen ihrer eigenen Mehrweg-Coffee-togo- Cups, von denen sie im Übrigen drei besitzt, wie sie die Leser wissen lässt, damit ihr genau ein solches Missgeschick nicht passiert. Jetzt fürchtet sie, dass eine riesige Empörungswelle über ihr zusammenschlägt, weil jemand sie mit dem Pappbecher gesehen hat, was wiederum auf „Bento“ zu 200 Zeilen über „Meine Angst vor dem Shitstorm“ führt.

Tags darauf geht ein Redakteur der Frage nach, was es über ihn aussagt, wenn er noch nie eine schwarze Freundin hatte (oder war das die „Zeit“?). Dann macht sich eine Redakteurin Vorwürfe, dass sie auf Partys manchmal einfach ein Glas Wein trinkt, statt die Umstehenden mit Fragen zu löchern, warum sie nicht die Hälfte ihres Gehalts zur Linderung des Elends in Afrika spenden. Der Artikel endet mit dem Versprechen, sich keine Pause mehr zu gönnen, auch nicht auf Partys. Nie wieder Wein statt Armutstalk, nie wieder belangloses Geplänkel: „Ich weiß, dass ich damit aufhören muss. Weil es das absolut Mindeste ist, was ich tun kann.“

Was das politische Bewusstsein angeht, ist der „Bento“- Redakteur kaum zu toppen. In der Hinsicht macht ihm so schnell keiner was vor. Leider korrespondiert die Bewusstseinsstufe nicht mit der ökonomischen Anerkennung. Vor ein paar Wochen hat der „Spiegel“ verkündet, die Seite einstellen zu wollen, wegen Erfolglosigkeit. Im Herbst ist Schluss, dann müssen sich die Redakteure nach einem neuen Job umsehen.

Auch ein paar Straßen weiter, am Hamburger Speersort bei der erfolgsverwöhnten „Zeit“, hat man sich entschlossen, den Jugendableger stillzulegen. „Ze.tt“ heißt das Angebot dort. Es ist im Prinzip das Gleiche wie „Bento“, nur noch ökobewusster und veganer. Auch hier heißt es, dass man für das hoffnungsvoll gestartete Programm leider keine wirtschaftliche Perspektive sehe.

Die Einstellungsankündigungen wurden in den Branchendiensten vermerkt, aber darüber hinaus haben sie kaum Beachtung gefunden. Ich halte das für einen Fehler. Ich glaube, dass sich aus dem Ende für die politisch korrekten Jugendmagazine etwas Grundsätzliches ableiten lässt. Das Aus für „Bento“ und „Ze.tt“ ist aus meiner Sicht nicht nur eine Niederlage für eine bestimmte Form des journalistischen Aktivismus: Es lässt ganz prinzipiell Rückschlüsse zu auf die Attraktivität von politischen Angeboten, denen angeblich die Zukunft gehört.

Wenn man die Grüne Jugend ein Magazin erstellen ließe, sähe es ziemlich genau so aus wie die von „Spiegel“ und „Zeit“ ersonnenen Millennial-Ausgaben. In anderen Redaktionen heißen die Ressorts „Wirtschaft“, „Politik“ oder „Leben“. Hier nennen sie sich „Gerechtigkeit“, „Inklusion“ und „Gefühl“. „Was willst du später mal werden, wenn du mit dem Studium fertig bist?“ „Ressortleiter Gefühl.“ Wenn das kein Lebenstraum ist! Natürlich wird auch gegendert, bis es kracht, und jeder Minderheit gehuldigt, sei sie noch so klein.

Von außen betrachtet mag das eine oder andere etwas überspannt wirken. Aber man sollte sich nicht täuschen: Was bei den Jugendausgaben in exaltierter Form hervortritt, ist für eine ganze Generation von Journalisten inzwischen Leitlinie. Die 30- bis 35-Jährigen, die jetzt in die Redaktionen drängen, beherrschen all e das Vokabular d es akademischen Milieus, dem sie entstammen, eine Mischung aus Politsoziologendeutsch und Befindlichkeitssprache, die stets ein wenig geschwollen klingt, aber eben auch sehr bedeutend und vor allem wahnsinnig einfühlsam.

Auf der Suche nach einer Erklärung für das Scheitern heißt es jetzt, die Corona-Krise habe die ökonomischen Aussichten verdüstert. Aber das ist Unsinn. Corona ist nur der Anlass, die Einstellung zu verkünden. In Wahrheit haben die Jugendplattformen nie die Quoten gehabt, die es brauchte, um einigermaßen kostendeckend zu arbeiten. „Bento“ und „Ze.tt“ lebten von der Behauptung, eine Generation zu vertreten, die queer, grün und gendergerecht denkt. Wie sich zeigt, ist diese Generation nicht viel größer als der Studiengang, dem seine Protagonisten entstammen.

Das Internet kann brutal sein. Solange man keine verlässlichen Zahlen hat, darf jeder an seine eigene Wahrheit und auch Wichtigkeit glauben. Ich habe noch nie einen Leitartikel- Schreiber getroffen, der nicht selbstverständlich davon ausging, dass der geneigte Leser als Erstes den Blick auf seinen donnernden Kommentar richten würde, wie die Kanzlerin den Konflikt im Südchinesischen Meer lösen müsse. In der Online-Welt weiß man bis auf den letzten Klick, wie viele Leser wirklich interessiert, was die Kanzlerin jetzt im Südchinesischen Meer tun sollte.

Die Desillusionierung durch die Zahlen ist altersunabhängig. Sie trifft die junge migrantisch bewegte Feministin, die denkt, dass die ganze Welt Anteil an ihrem Schicksal nimmt, ebenso wie den von ihr verachteten alten weißen Mann. Man kann sich auch nicht mehr damit herausreden, dass einen das Old-Boys-Netzwerk davon abgehalten hätte, groß herauszukommen. Alles, was es heute braucht, um berühmt zu werden, ist ein Podigee-Abo oder ein WordPress-Account.

Dass man aus dem Stand heraus zum Netzphänomen werden kann, hat gerade die Stand-up-Komödiantin Sarah Cooper mit ihren Trump-Imitationen bewiesen. Jedes ihrer über TikTok verbreiteten Videos erreicht ein paar Millionen Menschen. Wenn das Genderprogramm eine solche Granate wäre, wie immer behauptet, dann müssten die Zahlen auch hier durch die Decke gehen. In Wahrheit schaffen es die Betreiber netzfeministischer Blogs kaum, ihre Serverkosten zu decken. Es braucht eben etwas mehr als Gesinnung, um sich durchzusetzen. Witz und Sprachtalent wären, zum Beispiel, ganz hilfreich.

Das Phänomen der relativen Größe lässt sich auch im politischen Raum beobachten. Nur weil ein Thema auf dem Strategiekongress der Jusos ein Riesenhit ist, heißt nicht, dass es auch die Wähler begeistert. Oft verhält es sich sogar genau umgekehrt. Wie viele Leute mögen vergangene Woche beim Großskandal um Sigmar Gabriel mitgefiebert haben? Oder davor bei der medialen Riesenaufregung um Philipp Amthor? Ich kenne das aus Redaktionskonferenzen, wo sich Leute die Köpfe über ein Thema heißreden, das außerhalb des Konferenzraums nur mäßig interessiert. Wurde lange genug gestritten, fällt unweigerlich der Satz, dass die Diskussion zeige, wie wichtig das Thema sei.

Man nennt das einen Zirkelschluss. Er kann bei Leuten, die auf das Interesse des Publikums angewiesen sind, kreuzgefährlich sein.

Die neue Rassenlehre

Seit 1945 galt der Abstammungsnachweis in Deutschland als geschichtlicher Irrweg. Mit der Anti-Rassismus-Bewegung ist er zurück

Vor zwei Jahren kam man im Stadtrat für Berlin-Wedding auf die Idee, eine Straße nach einer Königin aus dem 17. Jahrhundert zu benennen. Ana Nzinga, so ihr Name, hatte über Ndongo und Matamba geherrscht, das heutige Angola. Sie hatte erfolgreich die Portugiesen in Schach gehalten, dann die Holländer. Eine starke, schwarze Frau, die sich zu dem mutig den Kolonialisten in den Weg gestellt hatte? Das Straßenschild war praktisch schon angeschraubt.

Dann tauchten Fragen auf. Dass Nzinga offenbar eine herrschsüchtige, paranoide Persönlichkeit gewesen war, die ihren eigenen Bruder hatte vergiften lassen, um auf den Thron zu gelangen: Das ließ sich noch verschmerzen. So sind halt Herrscher, befanden in diesem Fall selbst die Grünen. Ein größeres Problem war, dass die Königin Macht und Reichtum offenbar ihrer Beteiligung am Sklavenhandel verdankte.

Nzinga hatte im großen Stil Landsleute einfangen lassen, um sie bei den Holländern abzuliefern, die dann die Elenden auf ihren Plantagen sich zu Tode schuften ließen. 12 000 bis 13 000 Sklaven lieferte sie im Jahr an ihre Geschäftspartner, wie Abrechnungen zeigen. Ohne Mithilfe von Stammesfürsten wie Ana Nzinga wäre der europäische Sklavenhandel im 17. Jahrhundert nicht wirklich in Schwung gekommen. Die Europäer trauten sich selten ins Landesinnere, wo sie Fieber, feindliche Stämme und der Wahnsinn der Tropen erwarteten.

Auch die Geschichte des Sklavenhandels ist komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Die Geburtsstätte ist nicht Europa, sondern das alte Mesopotamien. Und es waren auch nicht Deutsche, Holländer oder Briten, die das System des gewerbsmäßigen Handels etablierten, sondern die Araber.

Fast zehn Jahrhunderte besaßen muslimische Sklavenhändler das Monopol in Afrika. 17 Millionen Menschen sollen sie in die Gefangenschaft geführt haben. Der Anthropologe Tidiane N’Diaye kommt in seinem Buch „Der verschleierte Völkermord” zu dem Fazit, „dass der von den arabomuslimischen Räubern betriebene Sklavenhandel weitaus verheerender für Schwarzafrika war als der transatlantische”.

Geschichte holt uns immer wieder ein, auch die Geschichte des Kolonialismus. Wenn man den Wortführern der neueren Theorie glauben darf, ist dies die Ursünde, aus der alles Weitere folgt: das Elend Afrikas, der weiße Blick auf d en schwarzen Menschen, die Erniedrigung und Entrechtung großer Teile der Menschheit, die bis heute anhält. Die Deutschen mögen mit Verspätung zum Kreis der Kolonialmächte gestoßen sein, aber auch sie haben sich schuldig gemacht, weshalb das Thema bei uns ebenfalls an Fahrt gewinnt.

Was Rassismus sei beziehungsweise den Rassisten aus – mache, ist dabei einer radikalen Neudefinition unterworfen. Nach landläufiger Meinung ist ein Rassist jemand, der sich anderen aufgrund seiner Hautfarbe oder Herkunft überlegen fühlt. Es ist ein individueller Akt der Verblendung, dem man am besten mit Aufklärung und Erziehung beikommt. Die neue Theorie geht über diese Definition hinaus. Rassismus in seiner modernen Lesart ist keine psychologische oder ideologische Angelegenheit mehr, es ist ein theologisches Konzept, das man ohne die Zuhilfenahme religiöser Kategorien auch nicht wirklich verstehen kann.

Der weiße Mensch wird mit dem Makel des Rassismus geboren, an seiner Wiege steht die Ursünde des Kolonialismus. Niemand kann sich von dieser Schuld frei machen oder freisprechen. Es gibt kein Entrinnen. Wir sind Nachfahren der Sklavenhändler und daher Kinder des Sündenfalls. Wer wie der grüne Parteivorsitzende Robert Habeck dazu auffordert, den Rassismus aktiv zu verlernen, ist bestenfalls naiv. Wer seine Verstrickung leugnet, beweist nur, wie virulent der rassistische Gedanke in ihm ist.

Am Anfang der Besserung steht deshalb die Schuldanerkenntnis. Es ist ein bisschen wie im Bußgottesdienst: Der Weg zur Erlösung führt über die Beichte und die Bitte um Vergebung der Sünden. Wer hartnäckig darauf besteht, bei ihm sei nichts zu finden, riskiert Zurechtweisung – oder die Exkommunikation.

Vergangene Woche kündigte der Sportkonzern Adidas seiner Personalchefin Karen Parkin, der einzigen Frau im Vorstand. Parkin hatte vor einem Jahr auf einer Firmenveranstaltung gesagt, dass sie glaube, dass Rassismus bei Adidas kein großes Problem darstelle. Sie hatte sich weder abwertend über andere geäußert noch Anlass zur Vermutung gegeben, dass sie gegenüber Menschen dunkler Hautfarbe Vorurteile hege. Sie hatte unbedacht das Dogma infrage gestellt, dass eine von Weißen geführte Firma selbstverständlich ein Platz des Rassismus sein muss, wenn jeder weiße Mensch ein Rassist ist. In der Theologie des neuen Rassismus ist das ein Fehler, der entsprechend bestraft gehört.

Wenn die Hautfarbe darüber bestimmt, ob man Rassist ist, dann hängt der Grad der Schuld von der Schattierung ab. Der gängige Begriff für alle nichtweißen Menschen ist People of Color oder, in der Kurzform, PoC. Ich vermute, man entscheidet sich auch deshalb in Deutschland für die englische Variante, weil die Übersetzung „Personen von Farbe” etwas merkwürdig klingt.

People of Color scheint als Begriff eindeutig. Aber wer dazugehört und wer nicht, ist eine diffizile Angelegenheit. Schwarze sind dabei, das ist klar. Auch Inder oder Malaien. Manche Asiaten sind dunkelhäutiger, als es ein Sudanese je sein könnte.

Aber schon beim Nordafrikaner entstehen Abgrenzungsprobleme. Viele Marokkaner sind optisch kaum von einem Spanier oder Portugiesen zu unterscheiden. Und was ist mit den Türken? Niemand wird bestreiten können, dass türkisch stämmige Menschen aufgrund ihrer Herkunft Abwertung erfahren.

Trotzdem gibt es Vorbehalte, sie unter den People of Color zu summieren. Die schleswig-holsteinische Grünen-Politikerin Aminata Touré, Tochter malischer Eltern, wurde kürzlich gefragt, was sie von dem Satz halte, Deutschlands Schwarze seien die Türken. Gar nichts, sagte sie, die Schwarzen seien die Schwarzen. Was man so verstehen kann, dass bei aller Solidarität nicht vergessen werden sollte, wer aufgrund seiner Hautfarbe schlimmerer Diskriminierung ausgesetzt ist.

Denkt man die Dinge weiter, öffnet sich die Tür zu einer Ahnenforschung, wie man sie seit 1945 in Deutschland für überwunden hielt. Eine Bekannte von mir entdeckte im Alter von 42 Jahren, dass sie eine schwarze Großmutter hatte. Nach der Farbenlehre der neuen Rassismustheorie macht sie das zu einer Viertel-Schwarzen. Ist sie damit ein PoC, wie sie selbst glaubt, obwohl sie in ihrem Leben nie Diskriminierung aufgrund ihrer Hautfarbe erfahren hat?

Die Grünen haben jetzt die Einrichtung einer „vielfaltspolitische*n Sprecher*in” beschlossen, aber das kann selbstverständlich nur der Anfang sein. So wie es Frauenbeauftragte gibt, wird es bald Anti-Rassismus-Beauftrage geben, erst im Bund und dann in den Ländern. Man wird in den Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Fernsehräte installieren, die dafür Sorge tragen, dass im Fernsehen keine Klischees über schwarze Menschen verbreitetet werden.

Natürlich wird es auch einer neuen Gesetzgebung bedürfen, die neben offensichtlichen Formen des Rassismus Mikroaggressionen und andere weniger eindeutige Formen der Herabwürdigung unter Strafe stellt. Zum Schluss wird man zur Forderung einer Quote kommen, weil nur durch die Repräsentation in Wirtschaft und Politik das öffentliche Bild der People of Color geändert werden kann.

So wird auch diese Emanzipationsbewegung in dem Aufbau einer neuen Bürokratie enden. Wo der Einzelne nichts ausrichten kann, muss eine Struktur her, die an seiner Stelle die als notwendig erachteten Veränderungen in die Wege leitet. Nichts anderes meint die Rede vom strukturellen Rassismus.