Der Fortschritt ist unerbittlich. Heute bezeichnet sich selbst Olaf Scholz als Feminist. Morgen wird „Feminismus“ zu den Worten gehören, die man wie „Mohrenkopf“ oder „Zigeuner“ nur noch mit Stirnrunzeln vernimmt
Lady Bitch Ray berät jetzt die SPD, habe ich das schon erwähnt? Wenn Sie nicht auf Anhieb vor Augen haben, von wem die Rede ist: Lady Bitch Ray ist eine deutsche Pornorapperin, die erstmals überregionale Bekanntheit erlangte, als sie dem TV-Moderator Oliver Pocher während einer Fernsehsendung eine Dose mit Vaginalsekret überreichte.
Anfang des Monats konnte der Parteivorstand erste Ergebnisse der Zusammenarbeit vorlegen. „Zu Feminismus gehört es auch, sich von den binären Geschlechterkonstruktionen zu trennen“, zitierte das höchste Gremium der Sozialdemokraten die Rapperin.
Sich von binären Geschlechterkonstruktionen trennen, wird jetzt der eine oder andere vielleicht fragen: Ist damit gemeint, dass man nicht mehr in Mann und Frau unterscheidet? Ja, so ist es. Gehört ebenso der Vergangenheit an wie männliche Kanzlerkandidaten.
Die Rapperin hat sich deshalb auch gleich Olaf Scholz vorgenommen. Mit jedem seiner Ämter habe er einer Frau den Job weggenommen, warf sie ihm vor, worauf Scholz tapfer erwiderte, er sei begeistert von der These. Olaf Scholz sieht sich jetzt als intersektioneller Feminist, wie er bei der Gelegenheit zu Protokoll gab. Oder war es intersexueller Feminist? Egal, jedenfalls irgendwas mit Feminismus.
August Bebel, Willy Brandt, Peter Glotz – nun als Vordenkerin also Lady Bitch Ray: Auch so kann Fortschritt aussehen. Statt sich immer nur um sterbenslangweilige Themen wie Mütterrente oder Mindestlohn zu kümmern, endlich mal eine Sache, die auch bei den Leuten Eindruck macht, die im Leben nicht auf die Idee kommen würden, SPD zu wählen.
Manchmal frage ich mich, ob allen klar ist, welche Revolution sie mit dem Ende der Geschlechtergrenze auf den Weg bringen. Ich prophezeie: Schon das Wort Feminismus wird man in wenigen Jahren nicht mehr unbekümmert aussprechen. So wie „Mohrenkopf“ oder „Zigeuner“ wird es zu den Worten gehören, die man mit Stirnrunzeln vernimmt. Feministinnen? Sind das nicht die Leute, die glaubten, es gäbe vor allem zwei Geschlechter? Wie rückschrittlich ist denn das!
Auch im Praktischen sind die Konsequenzen weitreichend. Die Quote, die heute noch als Grundbedingung der Gleichberechtigung gilt, kann man vergessen. Wenn etwas auf der binären Ordnung aufbaut, dann die Vorstellung, dass Männer und Frauen gleichermaßen berücksichtigt werden müssten.
Davon abgesehen: Wie will man einen Mann daran hindern, auf dem Frauenplatz zu kandidieren oder umgekehrt eine Frau auf dem Männerticket? Er oder sie müssen nur sagen, dass sie sich nicht mehr eindeutig zuordnen wollen, und schon laufen sie außerhalb der Konkurrenz. Klingt wie ein Witz, könnte aber schon bald Wirklichkeit sein.
Bei der diesjährigen Berlinale haben sie die neue Ordnung bereits umgesetzt. Statt Preise für die beste Darstellerin und den besten Darsteller zu vergeben, gab es nur noch eine Auszeichnung für die beste Leistung in einer Haupt- und Nebenrolle. Die Auszeichnungen im Schauspielfach nicht mehr nach Geschlechtern zu trennen sei ein Signal für ein gendergerechteres Bewusstsein in der Filmbranche, erklärten die beiden Festivalleiter, Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian. Große Überraschung beim Verein „Pro Quote Film“, der sich seit Jahren für eine angemessene Würdigung weiblicher Schauspieler einsetzt. So war das mit der gendergerechten Zukunft selbstverständlich nicht gemeint.
Viele FeministInnen ziehen es vor, die Zeichen der Zeit zu ignorieren. Sie denken, der Sturm werde an ihnen vorbeiziehen. Aber da kann ich aus Erfahrung sagen: Den Geschlechterfortschritt in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.
Erinnern Sie sich noch an das Paritätsgesetz, das Grüne und Sozialdemokraten in Brandenburg eingebracht haben? Endlich sichtbare Gleichberechtigung auch im Parlament, so hatten es sich die Befürworter der Gesetzesinitiative gedacht. Dann erhob sich die Frage, wo denn das dritte Geschlecht bleibe.
Na, das könne ja entweder auf der Frauen- oder der Männerseite kandidieren, hieß es zur Antwort. Das ist etwa so, als würde man einer Transperson sagen, sie solle sich nicht so anstellen: Sie könne doch einfach als Mann oder als Frau durchs Leben gehen. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich die Reaktionen in der Trans-Community vorzustellen.
Es gibt sogar schon ein Schimpfwort für Frauen, die stur an der Vorstellung festhalten, man müsse jetzt erst mal den Frauen zu ihrem Platz verhelfen. Man spricht von Terfs. Das ist die Abkürzung für Trans-Exclusionary Radical Feminism, also: Trans-ausschließender Feminismus. Um sich als Terf zu qualifizieren, reicht es, dass man Menstruation für eine Sache hält, die Frauen exklusiv haben.
Wie weit die Sache gediehen ist, sieht man bei der Diskussion ums Gendern. Selbst die Dudenredaktion ist jetzt dafür. Ein Argument lautet, man müsse das weibliche Geschlecht sichtbarer machen. Aber wenn es darum ginge, würde es ja reichen, konsequent weibliche Formen zu benutzen. Oder das Binnen-I aus der Mottenkiste zu holen. Zur Auswahl steht inzwischen aber der Genderstern beziehungsweise der Genderdoppelpunkt, um denjenigen zu Sichtbarkeit zu verhelfen, die sich der heteronormativen Ordnung verweigern.
Wir stehen auch grammatikalisch vor einer neuen, aufregenden Entwicklung. Im „Süddeutsche Zeitung Magazin“ fand sich neulich ein langes Porträt der Autorin Hengameh Yaghoobifarah. Die Redaktion hatte durchgehend die Personalpronomen mit einem weiteren Sternchen versehen. Statt „sie“ stand dort „sie*“, statt „ihre“ immer „ihre*“. Eine Fuß – note klärte darüber auf, dass sich die Autorin „als non-binär identifiziert“. Sie hatte die korrekte Schreibweise zur Bedingung für ihre Kooperation gemacht.
Viele haben darüber gespottet. Auch in der Redaktion der „Süddeutschen“ gab es eine heftige Diskussion. Wo kommen wir hin, wenn jeder verlangen kann, welche grammatische Form wir in Porträts über ihn benutzen, empörten sich einige Redakteure.
Ich begrüße die Entwicklung, ich sehe da großes Potenzial. Ich zum Beispiel werde mich künftig nicht nur als nicht binär, sondern auch als nicht weiß identifizieren. Wenn das Geschlecht kein Gefängnis mehr sein soll, dann darf es doch die Hautfarbe erst recht nicht sein.
Biologen können einem schnell erklären, dass es so etwas wie Rasse nicht gibt. Zwischen zwei Menschen unterschiedlicher Hautfarbe besteht genetisch kein größerer Unterschied als, sagen wir, zwischen einem Schweden und einem Finnen. Solche Unauffälligkeit kann man beim biologischen Geschlecht nicht behaupten.
Ich werde mein Twitter-Profil und meinen Instagram- Account entsprechend ändern. Wenn mich das nächste Mal eine Redaktion anfragt, werde ich darauf bestehen, dass man mich korrekt als Autor vorstellt, der sich der Einteilung in Hautfarben verweigert. Wo ich darüber nachdenke: Was ist mit dem Alter? Warum soll der Geburtstag, ein nun wirklich völlig willkürliches Datum, darüber entscheiden, wie man jemanden sieht und einordnet?
Es braucht, zugegebenermaßen, hier und da noch etwas Überzeugungsarbeit. Nicht jeder weiß auf Anhieb, wie man Menschen, die sich gängigen Zuschreibungen verweigern, korrekt anspricht. Vor allem ältere Menschen zeigen sich schnell überfordert. Wie man lesen konnte, hatte die intersektionelle SPD gerade einen peinlichen Vorfall mit der Chefin ihrer Grundwertekommission, der ehemaligen Bundespräsidentenkandidatin Gesine Schwan, aufzuarbeiten.
Frau Schwan hatte auf einem Online-Forum die Schauspieler:in Heinrich Horwitz, die sich als nicht binär versteht, als Mann angesprochen. Sie hatte vom Vornamen auf das Geschlecht geschlossen, ein Fauxpas, der in Teilen der Community helle Empörung hervorrief. Die Empörung war so groß, dass sich die Parteivorsitzende Saskia Esken gezwungen sah, sich bei den Betroffenen für diesen Vorgang zu entschuldigen. „Die mangelnde Sensibilität im Umgang mit den Gäst*innen aus Euren Reihen beschämt uns zutiefst“, schrieb sie.
#ErsteSein lautet der Hashtag, unter dem die Kampagne für den Aufbruch in eine gendergerechte Zukunft steht. Ich bin dabei. Sind Sie es auch?