Monat: Juni 2024

Punk!

Die Grünen sind arg gebeutelt, überall Ärger und Rückschläge. Und nun noch das: Ausgerechnet in der Generation Z, auf der alle Hoffnungen ruhten, legt die AfD am stärksten zu. Was ist bloß mit der deutschen Jugend los?

Neulich saß ich neben Joschka Fischer. Ich war mit meinem Freund Jakob Augstein im Baba Angora in Berlin-Charlottenburg zum Mittagessen verabredet. Am Nebentisch: unser ehemaliger Außenminister. Er gab die folgenden 90 Minuten nicht zu erkennen, ob er uns wahrgenommen hatte, aber beim Herausgehen nickte er uns kurz zu. Schwer zu sagen, was sein Nicken bedeuten sollte: „Ach, Ihr Arschgeigen auch hier.“ Oder: „Die Zeit tilgt alle Sünden.“

Wir haben uns nichts geschenkt, so viel kann man sagen. Ich kann mich an keinen Minister erinnern, der Journalisten so unflätig behandelt hat wie Fischer. Dafür haben wir es ihm mit der Visa-Affäre heimgezahlt. Das kann sich heute keiner mehr vorstellen: Ein „Spiegel“-Titel plus Untersuchungsausschuss, weil an der Deutschen Botschaft in Kiew ein paar Tausend Visa zu leichthändig vergeben worden waren.

Aber auch das nahm Fischer sportlich. Er stellte sich vors Außenministerium und sagte mit der typischen Fischer- Arroganz: „Schreiben Sie einfach: Fischer ist schuld.” Was soll man da noch sagen? Manche Affären erledigen sich, indem man die Nerven behält – eine Lehre, die heute insbesondere bei Liberalen komplett in Vergessenheit geraten zu sein scheint.

Es tut mir weh, das konzedieren zu müssen: Aber Fischer hatte eine Coolness, die nach ihm kaum ein Politiker mehr erreicht hat. Er war ein Kotzbrocken und Egomane, der seine Herkunft als Frankfurter Straßenschläger nie ganz verheimlichen konnte (und auch nicht wollte). Wer einmal mit ihm zu Abend gegessen hat, wird diesen Abend schon wegen der verheerenden Manieren nie vergessen.

Aber besser Straßenschläger als Gouvernante, muss man im Nachhinein sagen. Den Unsinn, den seine Nachfolgerin vom Stapel lässt, wäre ihm nie über die Lippen gekommen.

Außerdem war auf ihn Verlass, wenn es ernst wurde. Fischer war schon gegen den Antisemitismus bei den Linken, als alle noch dachten, den gäbe es nur rechts. Als ein deutsches Terrorkommando im Juli 1976 bei dem Versuch, die palästinensischen Kameraden mit der Geiselnahme von Juden zu beeindrucken, erschossen wurde, lautete sein Kommentar: „Das geschieht denen recht”. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, was er als Außenminister dazu gesagt hätte, dass mit deutschem Steuergeld Terrorunterstützerorganisationen wie die UN querfinanziert werden.

Heute stehen an der Spitze der Grünen lauter wahnsinnig bemühte, unendlich brave Menschen, die selbstverständlich nie auf die Idee kämen, Journalisten als Fünf-Mark-Nutten zu beschimpfen oder einen Bundestagsvizepräsidenten als Arschloch. Aber vielleicht ist das ja genau das Problem.

Die Grünen sind der alte weiße Mann der Politik. Keine Partei hat bei den Europawahlen unter jungen Menschen einen solchen Absturz hingelegt. Minus 23 Prozent, das hat nicht mal die SPD hinbekommen. Und die hat sich nun wirklich alle Mühe gegeben, jeden Minusrekord zu brechen.

Ich glaube, der Absturz ist in seiner Bedeutung noch nicht richtig verstanden. Man kann kaum überschätzen, was es für eine Bewegung, die sich auf ihre Jugendlichkeit so enorm viel einbildet, heißt, wenn ihr die Jugend die kalte Schulter zeigt. Wenn es etwas gab, dass die Grünen allen anderen voraushatten, dann den Schulterschluss mit den Jungwählern. Wie oft saß ich in Talkshows neben Grünen-Vertretern, die unwidersprochen ihre Agenda herunterbeten durften, weil sie ja angeblich Stimme und Gewissen der Generation 16 plus waren.

Jeder soziologisch bewanderte Mensch wusste schon vor dem Wahlsonntag, dass das nicht stimmen konnte. Ein Besuch bei Lidl reicht aus, um zu erkennen, dass Fridays for Future nicht die deutsche Jugend repräsentiert. Franziska Zimmerer schreibt sich in der „Welt“ die Finger wund, weshalb die Generation Z nicht so einheitlich und schon gar nicht so politisch ist, wie sie es in den Redaktionen gerne hätten. Aber es passte halt so schön ins Narrativ, wie man dazu sagt. Da lässt man sich auch von einer 31-jährigen Journalistin, die schon altersmäßig besser Bescheid weiß als jeder klimabewegte „Zeit”-Großessayist, nichts sagen.

Deshalb jetzt: Entsetzen. Was ist bloß mit der Generation Z los? 16 Prozent für die AfD, fast gleichauf mit der Union. Das hat auch Yaël Meier, die „Erklärerin der Generation Z”, nicht vorausgesehen.

Eben noch galten die Gen-Zler als Vorbildgeneration, die die herkömmlichen Machtstrukturen in Frage stellt und für eine neue Work-Life-Balance streitet. Und nun wählen sie zu einem nicht unerheblichen Teil eine Partei, deren Spitzenkandidat an seine Wähler appelliert, den „echten Mann” in sich zu entdecken, statt „lieb, soft, schwach und links” zu sein.

Zu viel Internet und TikTok – so lautet die Erklärung. Weil sie die ganze Zeit am Handy hängen würden und ständig Videos schauten, seien sie halt leicht manipulierbar. Merke: Genau das, was eben noch Bewunderung hervorrief (Digital Natives), kann morgen schon ein Manko sein. Ach, was sage ich: Manko! Eine Charakterschwäche, die die Frage nahelegt, ob man das Wahlalter nicht sofort auf 21 Jahre hochsetzen sollte.

War es nicht immer das Privileg der Jugend, aufmüpfig zu sein, sich gegen die Autoritäten und das Autoritäre aufzulehnen? Auch so bricht man Jugendprotest das Genick: Indem man die Kinder zur Demo fährt und dann an der Straße steht und applaudiert, wenn Finn und Annika für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels demonstrieren.

Das Protestangebot von Leuten wie Katrin Göring-Eckardt und Ricarda Lang lautet: Seid einfach noch grüner als wir selbst. Also noch nachhaltiger, noch ökologischer und noch umsichtiger. Sicher, auch das grüne Engagement lässt sich so weit auf die Spitze treiben, dass es zur Provokation taugt. Das ist der Weg der Klimakleber, die so radikal auftreten, dass selbst Luisa Neubauer findet, sie sollten einen Gang runterschalten, um die gesellschaftliche Zustimmung nicht zu gefährden. Aber als Protestform für die breite Masse ist der Sekundenkleber doch eher ungeeignet. Dann lieber sein Kreuz an der Stelle machen, an der es die Eltern besonders schmerzt.

Für die AfD stimmen ist der Punk von heute. Früher hat man sich den Kopf kahl geschoren und Sicherheitsnadeln in die Backe gerammt, heute steckt man der Gesellschaft den Zeigefinger entgegen, in dem man rechts wählt. Ich weiß, ich weiß, die AfD steht für lauter schlimme Sachen. Aber Hand aufs Herz: Mit Sid Vicious als Kanzler wären wir nicht viel besser gefahren als mit Alice Weidel.

Dazu kommt: Wenn man jung ist, ist man näher dran, auch an den gesellschaftlichen Verwerfungen. Wer im Villenviertel wohnt, ist weit weg von der Härte der Straße. Wer hingegen jeden Tag mit der S-Bahn oder dem Bus zur Schule fährt, weiß, was es bedeutet, auf Gleichaltrige zu stoßen, die zu Hause ganz andere Konfliktlösungsstrategien gelernt haben als man selbst.

Niemand hat es gern, wenn ihm das Alter vor Augen geführt wird. Anderseits kann einem jeder Familientherapeut sagen, dass die Abnabelung vom Elternhaus Teil des Erwachsenwerdens ist. Wenn Eltern davon sprechen, dass sie die Freunde ihrer Kinder sein wollen, liegt etwas im Argen. Eltern sind alles Mögliche – Aufsichtspersonen, Kummerkasten, Gegenspieler – aber Freunde sind sie mit Sicherheit nicht. Und wenn sie es sind (oder zu sein glauben), haben sie etwas falsch gemacht.

Insofern ist es möglicherweise ganz heilsam, dass die Grünen endlich die Rolle im deutschen Parteiensystem annehmen, die sie ohnehin längst innehaben: die der Super-Nanny, die dafür sorgt, dass niemand zu sehr über die Stränge schlägt. Das ist zugegebenermaßen nicht besonders cool und nicht besonders hip. Aber wie jeder weiß: Einer muss den Job machen. Wenn alle anderen Party feiern, braucht es jemand Nüchternen, der anschließend wieder das Licht anstellt und zum Aufbruch mahnt.

Außerdem: Buntgefärbte Haare und flippige Kleidung, um jünger zu wirken – das war schon immer ein wenig lächerlich. In Würde altern, auch das kann für eine Partei ein erstrebenswertes Ziel sein.

© Sören Kunz

Toleranz war gestern

Früher stritten Minderheiten für gleiche Rechte für alle. Heute geht es darum, dass einen die Gesellschaft beim Identitätswechsel unterstützt, indem alle so reden, wie Aktivisten das wollen. Das ist ein neues, radikales Konzept.

Ich habe einen Traum. Ich streife die Fesseln meiner bürgerlichen Existenz ab und gehe fortan als Königliche Hoheit durchs Leben. Seine Exzellenz J. F., das wäre ein angemessener Titel.

Ich hatte schon immer den Eindruck, zu Höherem berufen zu sein. Als Kind habe ich mir einen Thron gebaut, von dem aus ich meinen imaginären Hofstaat dirigierte. In der Schule fiel ich durch meine gewählte Ausdrucksweise auf. Das Repräsentieren liegt mir im Blut, kann man sagen.

Bis vor Kurzem wäre es unvorstellbar gewesen, per Selbsterklärung in den Hochadel vorzustoßen. Aber die neue politische Welt hält unendliche Möglichkeiten bereit. Wenn man aus den Zwängen der heterosexuellen Matrix ausbrechen kann, indem man sich jeder Geschlechtszuordnung verweigert: Warum dann nicht auch per Handstreich die bürgerlichen Klassenschranken überwinden?

Von nun an lauten meine Pronomen: Ihre oder Seine Hoheit. Auf Twitter habe ich den Wechsel schon vor ein paar Wochen vollzogen. „Pronouns: His / Her Highness“ steht da seit Anfang Mai. Andere wählen „them“ oder „they“ – dagegen ist meine Bitte vergleichsweise bieder.

Die neue Anrede wird nicht jedem sofort mühelos über die Lippen gehen. Aber ich habe mich durch den Medienkritiker Stefan Niggemeier, einen der unbestechlichsten Beobachter des Zeitgeschehens, zum Coming-out ermuntert gefühlt. „Der Eurovision-Gewinnersong handelt von einem Menschen, der seine nicht-binäre Identität gefunden hat“, schrieb er nach dem Sieg des Schweizer Kandidaten Nemo, der ausschließlich als Nemo angesprochen werden möchte. „Da wär’s doch schön, es wenigstens zu versuchen, diesen Wunsch zu respektieren.“

Das hat in mir etwas ausgelöst. Was Nemo für die Transgender-Welt ist, möchte ich für alle blaublütigen Seelen sein, die sich als transbürgerlich identifizieren. Und jetzt soll bitte keiner kommen und sagen: Das könne man nicht vergleichen. Die Bedeutung einer Minderheit bemisst sich ja hoffentlich nicht an ihrer Größe.

Sie halten das für abseitig? Wenn selbst die „FAZ“ in ihrem Beitrag zum Eurovision Song Contest peinlich genau darauf achtet, alle Personalpronomen zu vermeiden, weil Nemo die Verwendung als Respektlosigkeit gegenüber seinem neuen Selbst empfindet, dann weiß man, dass die Sache die Nische verlassen hat.

„They / them“ ist zugegebenermaßen im Deutschen etwas unpraktisch. Nicht wenige Menschen haben schon Mühe, „der“, „die“ oder „das“ korrekt zu verwenden.
Aber wenn es um den Fortschritt geht, müssen Opfer gebracht werden – im Zweifel auch von den grammatikalisch Benachteiligten.

Was darf man von der Gesellschaft an Anpassungsleistungen verlangen? Das ist die Frage der Stunde. Toleranz war gestern. Dass man wegen seiner Andersartigkeit keine Nachteile erleidet und ansonsten von der Mehrheit in Ruhe gelassen wird, hat als Forderung ausgedient. Heute geht es darum, dass einen die Umwelt auf dem Weg des Identitätswechsels aktiv unterstützt und dann in der neuen Rolle bestärkt und bestätigt.

Nichts anderes bedeutet es ja, wenn man sich im öffentlichen Sprachgebrauch an die Vorgaben derjenigen hält, über die man spricht. Und die Vorgaben ändern sich: Statt von nichtbinären Menschen spricht man jetzt von Tin*-Personen, wie ich einem Artikel in der „taz“ entnommen habe.

Die Sache ist kein Scherz. Die Szene kann schon bei kleinen Nachlässigkeiten sehr empfindlich reagieren. Dem Schweizer Moderator Sven Epiney unterlief in seiner Livemoderation zum Song Contest der Fehler, Nemo ein paar Mal zu misgendern, wie dies Vergehen in der Transcommunity heißt. Statt konsequent nur von Nemo zu sprechen, sagte Epiney hin und wieder „er“. Das reichte, um seine Qualifikation für weitere Auftritte in Frage zu stellen.

Der Soziologe Alexander Zinn, ein Veteran der Bewegung, hat kürzlich daran erinnert, dass der große Erfolg der Schwulenbewegung in ihrer Anschlussfähigkeit lag. Es ist kein Zufall, dass Gloria Gaynors „I am what I am / and what I am needs no excuses“ zum Hit wurde. Jeder konnte sich in dem Song wiederkennen, schreibt Zinn, denn jeder macht in seinem Leben derartige Erfahrungen: wegen individueller Eigenschaften geringgeschätzt und ausgegrenzt zu werden. Bei den einen ist es das Körpergewicht, bei anderen die falsche Klamotte oder eine unpassende Herkunft.

Sich zu seinem Anderssein zu bekennen, ist ein großer und nicht selten schmerzhafter Schritt. Ich erinnere mich gut daran, wie mein bester Freund Knud sein Coming-out hatte. Wir standen an der Schwelle zur Volljährigkeit, das Abitur lag in Reichweite, eine Freundin hatte zur Gartenparty in ihr Elternhaus in Hamburg-Wellingsbüttel geladen, dem Vorort, indem wir lebten.

Knud war mit seinem neuen Freund gekommen, einem angehenden Arzt und die erste große Liebe. Ich wusste, dass die beiden ein Paar waren, aber ich war an dem Abend auch der einzige. Als die Party ihrem Höhepunkt entgegenging, stellten sich die beiden eng umschlungen auf die Terrasse und küssten sich.

Was soll ich sagen? Es war ein Riesenskandal. Knuds Mutter fiel in Ohnmacht. Sein Vater schrie herum, dass er keine Schwulen dulde und der Kerl, der seinen Sohn um-arme, gefälligst seine Finger bei sich behalten solle. Und ich? Ich fand’s großartig und wahnsinnig mutig. Those were the times. Man wusste auch im anständigen Wellingsbüttel, dass es Männer gab, die Männer liebten. Aber bis dahin kannte man das nur aus dem Fernsehen.

Heute ist Knud mit Christian verheiratet, und das schon länger, als ich es in meiner ersten Ehe war. Auch seine Eltern haben sich irgendwann mit der Realität arrangiert. Aber er wäre eben nie auf die Idee gekommen, von seiner Umwelt zu verlangen, dass sie sich nach seinen Vorlieben
richtet. Im Gegenteil: Die Schwulen, mit denen ich aufgewachsen bin, waren stolz auf die Subkultur, die sie ausgebildet hatten. Auf unser braves Hetero-leben schauten sie mit einem gewissen nachsichtigen Spott.

Ich bin immer wieder überrascht, mit welcher Aggressivität queere Aktivisten ihre Forderungen
vortragen. Ich mag mich irren, aber ich glaube nicht, dass diese Herangehensweise von Erfolg gekrönt sein wird. Aggression führt selten zu mehr Akzeptanz und Verständnis – schon gar nicht, wenn sie mit so wenig Charme und Verführungskraft einhergeht.

Die Leute sehen Transfrauen, die sich zwischen Schwimmerinnen oder Radrennfahrerinnen drängeln, und denken sich: Was machen die da? Man kann ihnen dreimal erklären, dass Frausein keine Sache der Biologie sei: Es verstößt gegen ein grundlegendes Gefühl der Fairness, wenn Sportlerinnen,
die als Männer allenfalls im Mittelfeld zu finden waren, plötzlich alle Preise abräumen.

Es sind übrigens fast immer als Männer geborene Frauen, die auf besonders brachiale Weise ihre Rechte einfordern. Von Transmännern, die ihr Leben als Frau begannen, hört man vergleichsweise wenig. Ich kann mich jedenfalls an keine Schlagzeile erinnern, wo eine Frau, die nun als Mann lebt, Einlass in ein Männerwohnheim oder eine Männer-umkleidekabine verlangt hätte.

Kein Fortschritt ohne Preis. Zum ersten Mal sind die Zu-stimmungswerte für gleichgeschlechtliche Lebensweisen gesunken. Wann immer die Deutschen in den vergangenen Jahren gefragt wurden, wie sie zur Ehe für alle oder dem Adaptionsrecht für schwule und lesbische Paare stehen, stieg der Anteil derjenigen, die sagten, dass jeder nach seiner Façon glücklich werden solle. Damit scheint es vorerst vorbei. Erstmals lässt die Unterstützung für LGBT-Rechte nach, wie eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Ipsos ergab. Wäre ich schwul oder lesbisch, würde ich mir über-legen, ob es wirklich so wahnsinnig schlau ist, sich bei Leuten einzuhaken, die jeden als transphob beschimpfen, der nicht alle ihre Forderungen unterstützt.

„Tatsachenwahrheiten“ nannte Hannah Arendt Gewissheiten, die außerhalb aller Übereinkünfte liegen. Dass es zwei biologische Geschlechter gibt, gehört für die meisten Menschen zu diesen Tatsachenwahrheiten. Ich fürchte, damit hat sich mein Traum des Gottkaisertums erledigt. Die Leute sehen meinen Namen und wissen: Das wird nichts
mit dem neuen Leben als Cäsar.

© Michael Szyszka

Die Woche der Doppelmoral

Der Kanzler verurteilt in scharfen Worten die „Ausländer raus“-Partygänger von Sylt. Bei Studenten, die „Juden raus“ verlangen, bleibt er stumm. Weil er das eine schlimm findet – und das andere irgendwie nicht so schlimm?

Ich bin mit der Familie nach Mallorca gefahren. Gottlob nicht nach Sylt. Was ich von Sylt halte, habe ich in einer früheren Kolumne festgehalten: zu neureich, zu angestrengt, zu aufgespritzt. Wie eine 50-Jährige, die verzweifelt versucht, als 30-Jährige durchzugehen.

Jetzt kommt noch die problematische politische Haltung dazu. Ich will nicht naseweis klingen: Aber wer sich seinem Urlaubsziel über den Hindenburgdamm nähert, fordert das Schicksal heraus.

Auch Mallorca ist keine Antifa-Bastion. Wer will schon die Hand dafür ins Feuer legen, dass sich unter dem Volk, das sich am Ballermann versammelt, nicht Fans des neurechten Partykrachers „L’amour toujours“ finden? Aber sie tragen immerhin keine Kaschmirpullis.

Dass der Fremdenfeind aus den sogenannten besseren Vierteln stammt, ist offenbar der eigentliche Skandal. Wenn er auf dem Schützenfest „Ausländer raus“ grölt, wird das unter Alltagsfaschismus abgebucht. Aber im Pony auf Sylt, wo der Eintritt 150 Euro kostet und dann ist noch nicht mal ein Getränk dabei? Shocking!

Ich habe ein Video gesehen, in dem eine Fernsehmoderatorin in Tränen aufgelöst bekannte, dass das Partyvideo aus Sylt das schlimmste Video sei, das sie je gesehen habe. Grundgütiger, dachte ich – ich wünschte, ich könnte das gleiche von mir sagen.

Die Expertin für intersektionale Mobilität Katja Diehl filmte sich dabei, wie sie mit steinernem Gesicht erklärte, dass der Faschismus die Eliten erreicht habe. Es sei gut, dass die Bilder aus Sylt um die Welt gingen, weil sie zeigten, dass Menschen, die rechtsextrem seien, aussähen wie Menschen von nebenan. Was haben diese Leute gedacht: Dass Nazis immer Adiletten tragen?

In der Ferne gewinnt man Abstand. Wenn man mit drei kleinen Kindern zwischen Strand und Ferienhaus pendelt, erreichen einen lediglich die Nachrichten, die als „Breaking News“ durchgehen. Das ist wie auf dem Sonnendeck eines Ozeandampfers, da sieht man von oben auch nur noch die großen Schaumkronen.

Was war, von Mallorca aus betrachtet, in Deutschland wichtig und was eher nicht?

Was eher nicht so wichtig war: Die Bombardierung eines Einkaufszentrums in Charkiw, mit dem der russische Terror endgültig allgegenwärtig geworden ist. Auch nicht so wichtig: Die Fotos der Vertretung des UN-Flüchtlingshilfswerks in Dschabalia, in deren Keller man die Leichen von vier israelischen Geiseln fand.

„Gebaut mit Fördergeldern der Bundesrepublik Deutschland“, steht auf einem Schild vor dem Haus. Das ist eine ziemlich brutale Widerlegung der treuherzigen Versicherung unserer Entwicklungshilfeministerin, dass kein deutsches Steuergeld in die Terrorfinanzierung fließe. Aber Schwamm drüber. Wen interessiert schon, ob die Bundesregierung eine der Finanziers der Hamas ist, wenn sie in Sylt die Sau raus lassen?

Nicht mal die Ausschreitungen an der Humboldt-Uni haben es in die Abendnachrichten geschafft. Ich hätte gedacht, Studenten, die durchgestrichene Schweinsköpfe an die Wände schmieren – das wäre tagesschauwürdig. Wann war das letzte Mal, dass an deutschen Universitäten die sogenannte Judensau gezeigt wurde? Ich würde auf 1933 tippen. Aber gegen die Nazi-Sause im Pony: keine Chance. Dass ein Dutzend BWL- und Jura-Studis fröhlich „Deutschland den Deutschen“ sangen, also gewissermaßen die teutonische Variante von „From the River to the Sea“, stellt alles in den Schatten.

Zu Worte gemeldet haben sich hier, in absteigender Reihenfolge: Der Bundespräsident, der Bundeskanzler, der Vizekanzler, die Bundesinnenministerin, der Bundesjustizminister, der Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, die stellvertretende Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein, die Parteivorsitzende der Grünen, der Parteivorsitzende der CDU, der Generalsekretär der FDP.

Habe ich jemanden vergessen? Ach ja, auch Carsten Maschmeyer hat seiner Empörung Ausdruck verliehen („widerlich“), gefolgt von Luisa Neubauer, die die Gelegenheit nutzte, den Wählern noch einmal einzuschärfen, am 9. Juni das Kreuz ja an der richtigen Stelle zu machen. Wenn Carsten Maschmeyer, Luisa Neubauer und Olaf Scholz im Entsetzen vereint sind, dann stehen die braunen Horden kurz vor der Erstürmung des Reichstags, sollte man meinen. Es waren dann aber nur ein paar verzogene Kinder mit zu wenig Grips und zu viel Geld von Papa.

Man kann die Uhr danach stellen: Jemand vergleicht zwei Dinge, in dem Fall die Aufregung über die „Ausländer raus“-Sause auf Sylt und die „Juden Raus“-Gesänge an deutschen Hochschulen und ein anderer ruft: „Whataboutism!“. Das ist das englische Wort für den Versuch, von einer Entgleisung abzulenken, indem man auf eine andere Entgleisung verweist.

Aber nicht jeder Vergleich dient der Ablenkung. Manchmal geht es darum, Zusammenhänge zu sehen und zu benennen. Was jemand für wichtig erachtet und was eher nicht, sagt einiges über seinen moralischen Kompass aus.

Ich glaube zum Beispiel, dass Olaf Scholz mehr und mehr neben sich steht. Wäre er Herr seiner selbst, würde er davon absehen, in einer Woche, in der es an allen Ecken und Enden brennt, seinen Twitter-Account dafür zu nutzen, ein paar aperolselige Sylt-Krakeeler in den Senkel zu stellen. Sind die zwölf Sekunden aus der Sylter Außengastronomie befremdlich? Sogar mehr als das. Ist es ein Thema für einen Kanzler? Das will gut überlegt sein.

Insbesondere für einen Regierungschef gilt der Satz von Paul Watzlawick, wonach man nicht nicht kommunizieren könne. Wenn er zu einem vergleichsweise unbedeutenden Vorfall starke Worte des Abscheus findet („eklig“), im Fall antisemitischer Ausschreitungen aber schweigt, muss man annehmen, dass er letztere halt nicht so eklig findet.

Für jeden, der sich als Ausländer fühlt, ist das Sylt-Video ein Schlag in die Magengrube. Wer ohnehin das Gefühl hat, kritisch beäugt zu werden, den bestätigt es in seinen schlimmsten Befürchtungen. Insofern mag es tröstlich sein, wenn die Spitzen der Gesellschaft ihre Empörung äußern. Nur, haben jüdische Studenten nicht die gleiche Form der Solidarität verdient? Und was ist mit den Opfern von Inländerfeindlichkeit?

Für Doppelmoral haben die Bürger einen feinen Sinn. Wenn sie etwas noch weniger ausstehen können als gespielte Empörung, dann, wenn diese selektiv erfolgt. Auch so verliert man als Politiker Vertrauen: Indem man sich schrecklich aufregt, wenn sich alle aufregen, aber schweigt, sobald man den Eindruck hat, ein deutliches Wort könnte vielleicht ein paar Stimmen kosten.

Die Gesichtserkennungssoftware ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass binnen 24 Stunden nahezu jeder identifiziert ist, der sich daneben benommen hat. Dass dieselben Leute, die normalerweise schon bei einer Videoüberwachung im öffentlichen Raum einen Herzkasper kriegen, die Sofort-Identifikation der Missetäter feiern – geschenkt. Schwerer wiegt schon, wenn auch in Medien, die sich auf ihre Seriosität viel einbilden, nach den Namen und Adressen gefragt wird, gleichzeitig aber Riesenempörung über den „Fahndungsjournalismus“ der „Bild“ herrscht, wenn diese die Namen der ärgsten Hamas-Fans nennt. Die Betreiber des Oktoberfests haben vorsorglich ein Aufführungsverbot für den Partysong „L’amour tojours“ erteilt. Das Verbot gilt für alle Varianten, auch die Ursprungsversion, die vom Glück der Liebe handelt. Man wird sehen, wie weit sie damit kommen. Die Übertabuisierung hat mitunter unerwünschte Folgen. Je stärker der Bann, desto größer der Drang, dagegen zu verstoßen.

Am Montag führte „L’amour tojours (small Mix)“ die iTunes-Charts an. Gefolgt von „Wunder“ von Ayliva und Apache 207 und „L’amour toujours“ in der Originalversion von Gigi D’Agostino. Schon beim Aufführungsverbot für „Layla“ hat man sehen können, wie sich die Aufführungspraxis vom Liedtext löst. Irgendwann ist der Gesang Protestgeste gegen eine Politik, deren Verbote als hohl empfunden werden.

© Sören Kunz