Monat: August 2024

Lieber einen Freund verlieren als eine Pointe

Wenn Politiker gegen Journalisten juristisch vorgehen, ist das seltsam genug. Aber Journalisten, die Politiker wegen Beleidigung verklagen? Die beste Gegenwehr ist immer noch der Text, der weh tut. Aber das scheint démodé

Ich habe noch nie jemanden verklagt. Ich hätte Grund gehabt, so ist es nicht. Als was bin ich nicht schon alles beschimpft worden.

„Fleischhauer, friss Atommüll, Arschloch“, so beginnt mein Tag. Manchmal finde ich mich im Kofferraum eines Autos wieder. Für die Jüngeren, die mit den Memes der Siebzigerjahre nicht so vertraut sind: Der Kofferraum war der Fundort, indem die RAF die Leichen der Leute überstellte, die sie der Gerechtigkeit ihres Volksgerichtshofs zugeführt hatte.

Ich lese das und denke mir: „Gott, wenn’s der Triebabfuhr dient.“ Besser jemand macht sich in Wort und Bild Luft, als dass er auf noch dümmere Gedanken kommt.

Außerdem bin ich für Rechtsstreitigkeiten ein viel zu fauler Mensch. Was das an Energie kostet! Erst muss man eine Strafanzeige stellen. Dann muss man eine Dienststelle finden, die die Anzeige ernst nimmt. Und dann steht auch noch ein Gerichtsverfahren an.

Ich stecke meine Kraft lieber in meine Texte. Im Zweifel zahle ich es den Hatern doppelt heim, indem ich nächste Woche erst recht aushole. Das ärgert sie tausend Mal mehr als eine Strafanzeige.

Die „Spiegel“-Redakteurin Ann- Katrin Müller hat auf X verkündet, dass sie den AfD-Abgeordneten Stephan Brandner erfolgreich wegen Beleidigung dranbekommen habe. Brandner hatte sie mehrfach als „Fa-schistin“ bezeichnet, beziehungsweise in Variationen als „Oberfaschistin“ und „Spiegel-Faschistin“.

Müllers Anwalt machte geltend, dass die Bezeichnung als Faschistin geeignet sei, der Ehre seiner Mandantin schweren Schaden zufügen und ihren Ruf als Journalistin herabzusetzen. Weil Brandner es unterließ, die Beleidigung umgehend zu löschen, und sogar noch einen draufsetzte, verdonnerte ihn das Landgericht Berlin zu einer Strafzahlung von insgesamt 50000 Euro.

Die Kollegin feiert das als großen Sieg. Ihr X-Account ist voll mit den Retweets von Stimmen, die ihr gratulieren, darunter der unweigerlich trötenhafte „Volksverpetzer“, der den Mut der „Spiegel“-Redakteurin lobte, sich zu wehren und der AfD die Grenzen aufzuzeigen.

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich finde es schon zweifelhaft, wenn Politiker gegen Journalisten juristisch vorgehen. Aber Journalisten, die Politiker verklagen? Zumal „Faschist“ oder „Oberfaschist“ eher gängige Ware ist. Tatsächlich ist der Vorwurf, ein Nazi zu sein, inzwischen so üblich, dass man sich fragen muss, was man falsch ge-macht hat, wenn man noch nie als Nazi bezeichnet wurde.

Ich bin ein Freund der üblen Nachrede. Die meisten Leute erschrecken, wenn man das sagt. Das könne man doch nicht sagen, meinen sie dann. Dem würde ich erstens mit dem Kabarettisten Werner Finck entgegenhalten: Da, wo’s zu weit geht, fängt die Freiheit erst an. Außerdem steht die Spottlust am Anfang der Aufklärung, um mal ins hohe Fach zu greifen.

Der Journalist solle sich mit nichts gemeinmachen, auch nicht mit einer guten Sache, lautet ein Rat, der angehenden Journalisten in Seminaren gegeben wird. Der einfachste Weg, dieser Empfehlung gerecht zu werden, ist es, sich mit Leuten, auf die es ankommt, zu verscherzen. Eine nahezu todsichere Methode, Distanz zwischen sich und anderen zu schaffen, ist dabei die Beleidigung.

Auch bei der üblen Nachrede kommt es auf Finesse an. Wie jede Kunstform ist sie schnell verhunzt, wenn sich Dilettanten daran versuchen. „Idiot“ – das kann jeder, dazu muss man nicht viel im Kopf haben. Aber die treffende Ab-wertung, die wirklich schmerzt, die verlangt den Könner.

Mein Freund Henryk M. Broder stand einmal vor Gericht, weil er über eine Moderatorin der 3sat-„Kulturzeit“ gesagt hatte, sie halte beim Reden den Kopf immer leicht schräg, damit sich die Gedanken auf einer Seite sammeln könnten. Das nenne ich eine gelungene Beleidigung.

Die arme Frau wollte diese Gemeinheit nicht hinnehmen und zog vor das Landgericht in Düsseldorf, das ihr 10000 Euro an Schmerzensgeld zusprach. Zum Glück für Leute wie mich kassierte das Oberlandesgericht die Entscheidung wieder. Am Ende musste Broder 40 Prozent der Gerichtskosten tragen, was für ihn viel Geld war, für die Verteidigung der Meinungsfreiheit aber ein akzeptabler Preis, wie ich fand.

M an muss sich nicht alles bieten lassen, auch nicht als Politikerin. Dass Renate Künast bis vor das Bundesverfassungsgericht zog, weil sie es nicht hinnehmen wollte, als „Schlampe“, „Drecksau“ und „Pädophilen-Trulla“ verunglimpft zu werden, dafür habe ich Verständnis. Manche Pöbelhaftigkeit gehört wegen ihrer Vulgarität bestraft, anders lernen es die Pöbler nicht. Aber „Depp“ oder „Blödmann“? Wer als Minister die Zeit hat, dagegen vorzugehen, hat zu viel Zeit, würde ich sagen.

Manchmal trifft man auf die Opfer seiner Texte, das lässt sich nicht vermeiden. Ich versuche, Politikern aus dem Weg zu gehen. Ich hänge nicht auf Partys herum, auf denen sie verkehren. Ich bin auch nicht Mitglied in irgendwelchen Hintergrundkreisen, wo man bei Strafe der Exklusion zum Schweigen verdonnert ist. Trotzdem kommt es hin und wieder vor, dass ich auf Leute stoße, über die ich schon mal hergezogen bin.

Einmal saß ich mit dem damaligen Justizminister Heiko Maas und der AfD-Vorsitzenden Alice Weidel bei „Maischberger“. In dem Fall hatte ich mich über beide gerade lustig gemacht, bei Maas über seine Hemden, seine Freundin und seine politische Geschniegeltheit – bei Weidel über ihre dünnen Nerven. Die zwei zogen es vor, so zu tun, als sei nichts vorgefallen. Der gemeinsame Wein nach der Sendung fiel dann allerdings flach.

Ich glaube, hier liegt ein Grund, warum viele Journalisten Mühe haben, zu schreiben, was sie wirklich denken. Wer damit rechnen muss, demjenigen, über den er sich abfällig äußert, morgen wieder zu begegnen, neigt dazu, milder zu urteilen.

Jeder Journalist hat seine Vorbilder. Zu meinen gehören die großen Austeiler und Übereinanderherzieher Wolfgang Pohrt und Wiglaf Droste. Manchmal, wenn ich mich in Stimmung bringen will, nehme ich einen ihrer Texte zur Hand und lese ihn mir laut vor. Der Berliner Verleger Klaus Bittermann hat in hingebungsvoller Verlegerarbeit die gesammelten Werke Pohrts in einer großartigen Edition herausgebracht, die nicht von ungefähr an die blauen Bände der berühmten Marx-Engels-Ausgabe erinnert. Auch von Droste ist das meiste in der Edition Tiamat zugänglich.

Was man von den beiden Meistern der Boshaftigkeit lernen kann? Wie man beim Schreiben keine Gefangenen macht. Als Pohrt im Alter von 73 Jahren den Folgen eines Schlaganfalls erlag, schrieb Bittermann: „Am Freitag ist der Ideologiekritiker Wolfgang Pohrt gestorben. Er hinterlässt mehr Feinde als Freunde. Das hätte ihm gefallen.“

Der Journalist als Gegensichaufbringer ist eine weitgehend von den Zeitläufen erledigte Figur. Es sich mit allen zu verscherzen, weil man nach der Methode verfährt: lieber einen Freund verlieren als eine Pointe, gilt heute als ungehörig. Das ist ja der Fluch der Ideologiekritik, wenn man sie ohne Rücksichtnahme betreibt: Irgendwann ist man für jede Indienstnahme verloren, auch die für die gute Sache.

Was hätte jemand wie Pohrt aus der AfD gemacht? Interessanterweise ist die Befassung mit den Leuten, von denen es allenthalben heißt, dass mit ihnen der Faschismus zurückkehre, ebenfalls seltsam blutleer. Sicher, Höcke, Weidel oder der aufgeblasene Polterer Brandner kommen in den Medien durchweg schlecht weg. Aber das absurde, lächerliche oder auch diabolische Potenzial diese Figuren wird nicht ansatzweise ausgeschöpft.

Den meisten, die heute über die Rechten schreiben, fehlt der Blick für das Abgründige und Abseitige. Sie sehen nur die Parolen, die aus den Mündern quellen, aber nicht das parodistische Material.

Auch das ist ein Vorteil der Beleidigung: Sie schärft den Blick fürs Detail, das mehr sagt als tausend Worte. Deshalb ist sie ja so gefürchtet.

© Sören Kunz

Wann ist eine Frau eine Frau?

Ist das, was man sieht, auch das, was man sagen sollte? Oder sollte man das, was man sieht, lieber für sich behalten? Der Fall der beiden Boxerinnen Imane Khelif und Lin Yu-ting wirft in mehrerer Hinsicht grundsätzliche Fragen auf

Zum Olympia-Auftakt sah sich die ARD-Moderatorin Anja Reschke genötigt, in die Genderdiskussion einzugreifen. 58 Prozent der Leistungssportlerinnen seien dafür, dass Trans-Athletinnen aus Frauen-Disziplinen ausgeschlossen würden, erklärte sie mit ernstem Blick in die Kamera. „Ob die schon die neuesten Forschungsergebnisse kennen?“

Dann der Anflug eines Lächelns. In Wahrheit sei es nämlich so, dass Trans-Sportlerinnen ein geringeres Sprungvermögen, eine geringere Lungenkapazität und dadurch auch weniger Ausdauer hätten als biologische Frauen.

Na, dann ist ja alles in Butter, nicht wahr? Wenn Trans-Sportlerinnen, also Personen, die bis eben noch Männer waren, biologischen Frauen unterlegen sind, dann gilt das erst recht für Frauen, die als Frauen geboren wurden. Lasst die Spiele beginnen, wie es so schön heißt.

Die Sache könnte so einfach sein: Männer, Frauen und alles dazwischen – vereint im olympischen Wettstreit. Wenn da nur nicht diese Bilder aus Paris wären. Zwei Boxerinnen, die so gar nicht wie Frauen aussehen, und jede Frau, auf die sie treffen, auf die Bretter schicken.

Ganz so einfach ist es offenbar doch nicht. Was Anja Reschke zu erwähnen vergaß: Bei der Studie, auf die sie sich bezog, wurden eher unsportliche, leicht übergewichtige Transfrauen mit athletischen Frauen verglichen. Und auch bei den beiden Boxerinnen, die umgehend zu ganz normalen Frauen erklärt wurden, verdichten sich die Hinweise, dass sie so ganz normal nicht sind.

Ich kann mich an keine Sport-Debatte erinnern, die so leidenschaftlich geführt wurde wie die über die Olympia-Teilnahme von Imane Khelif (Weltergewicht) und Lin Yu-ting (Federgewicht). Wer Zweifel an der geschlechtlichen Identität äußerte, wurde umgehend der Hassrede und Transphobie bezichtigt.

Das Olympische Komitee bewegt sich auf der Höhe der Zeit, in der Hinsicht kann man ihm nichts vorwerfen. Es hat festgelegt, dass als Frau jede Person zu gelten hat, in deren Pass steht, dass sie eine Frau sei. In den Antidiskriminierungsrichtlinien steht außerdem, dass niemand aufgrund seiner „geschlechtlichen Identität, seines physischen Erscheinungsbilds oder einer sexuellen Variation“ von der Teilnahme an Wettkämpfen ausgeschlossen werden dürfe.

IOC-Präsident Thomas Bach kommt aus Deutschland, man darf vermuten, dass ihm die Genderdebatte bekannt ist. Zum 1. November tritt nach langer Beratung ein Gesetz in Kraft, wonach der Geschlechtseintrag zur Willenserklärung wird. Ein Antrag beim Standesamt und im Pass steht das, was man sich wünscht. Das ist die neue Wirklichkeit, die damit auch die Wirklichkeit des IOC ist.

Wie verhält es sich im Fall der beiden Boxerinnen? Die Faktenlage ist nicht ganz klar, aber vieles weist darauf hin, dass Khelif und Yu-ting sowohl über das X- als auch über Y-Chromosomen verfügen, sie also biologisch gesehen Männer sind. Beide Sportlerinnen wurden aufgrund von DNA-Tests von der Weltmeisterschaft in Neu-Delhi ausgeschlossen. Der Boxverband, der die Weltmeisterschaft ausrichtet, gilt als korrupt und zudem von Russland dominiert. Aber der anerkannte Sportjournalist Alan Abrahamson hat die Tests gesehen, die zum Ausschluss führten. Danach blieb dem Verband kaum eine andere Wahl.

In seltenen Fällen kommt es vor, dass die Geschlechtsentwicklung variiert. Das scheint auch bei den beiden Sportlerinnen, über die nun alle reden, der Fall zu sein. Ein Enzym- defekt – die Experten sprechen von 5-Alpha-Reduktase-Mangel – kann dafür sorgen, dass die männlichen Genitalien beim Fötus nicht entsprechend ausgebildet sind. Bei der Geburt werden solche Kinder deshalb oft für Mädchen gehalten und dann auch entsprechend aufgezogen.

Unterstützer von Khelif haben ein Foto gepostet, das sie als Siebenjährige im Kleid zeigt. Abgesehen davon, dass in diesem Fall kurioserweise der Fotobeweis, der bei der erwachsenen Sportlerin als beleidigend empfunden wird, als ausreichend gilt: Die entscheidende Veränderung setzt in der Pubertät ein. Bis zum Alter von etwa 12 Jahren liegt bei Mädchen und Jungen der Testosteron-Spiegel gleich niedrig. Danach entwickelt er sich rasant auseinander – mit der Folge, dass Männer deutlich mehr Muskelmasse aufbauen.

Das IOC weist darauf hin, dass es auch Frauen mit einem erhöhten Testosteron-Level gebe. Das ist zutreffend. Aber wie die Juristin Doriane Lambelet Coleman in einem exzellenten Artikel im Online-Magazin „Quillette“ schreibt, kommen selbst Frauen mit einem erhöhten Testosteron-Spiegel nicht einmal ansatzweise auf das Niveau von Männern.

Genau das ist es, was die Auftritte der beiden Boxerinnen so zweifelhaft macht – und für die Konkurrentinnen so gefährlich. Bei Läufern geht es nur um Schnelligkeit, bei Boxern auch um die Wucht der Schläge. Die durchschnittliche Schlagkraft von Männern, die die Pubertät durchlaufen haben, ist um 162 Prozent höher als bei Frauen.

Gesellschaftspolitisch gesehen ist Sport in dem Zusammenhang ein großes Ärgernis. Überall ist die binäre Ordnung aufgebrochen. Selbst Umkleidekabinen und Frauensaunen sind nicht mehr automatisch Räume, zu denen nur Frauen, die über alle Attribute einer Frau verfügen, Zugang haben. Lediglich bei Wettkämpfen gilt noch die alte Ordnung.

Nach ersten Versuchen, auch Transfrauen zuzulassen, haben die Sportverbände die Regeln sogar verschärft. Teilnehmen darf nur, wer biologisch eine Frau ist – da kann im Pass stehen, was will. Wo, wie bei der Schwimmerin Lia Thomas oder der Läuferin Caster Semenya Zweifel aufkommen, entscheidet der Test. Wer im Blut zu hohe Testosteronwerte aufweist, ist raus oder muss diese künstlich senken.

Kein Wunder, dass Aktivisten diese Behandlung als Beleidigung empfinden. Daher auch die Hartnäckigkeit, mit der behauptet wird, in Paris habe alles seine Richtigkeit. „Imane Khelif ist eine Cis Frau“, schrieb der „Volksverpetzer“, eine eher randständige linke Krawallpostille, die allerdings sofort dankbar als Referenz genommen wird, wenn es der gerechten Sache dient.

Wie bei jeder Debatte gibt es interessantere und weniger interessante Stimmen. Zu den interessanteren zählt Caitlyn Jenner, eines der Idole der Transbewegung. Im ersten Leben, als Bruce Jenner, war Caitlyn ein berühmter Zehnkämpfer. Dann folgte die Transition und anschließend das Coming Out, das die Öffentlichkeit mindestens so beschäftigte wie die Titeljagd des Übersportlers.

Was sagt Caitlyn Jenner zu der Debatte? „XX – du bist bei den Frauen. XY – du bist bei den Männern. Darauf läuft es hinaus.“ Interessanterweise finden sich gerade unter Transpersonen eine Reihe von Leuten, die wenig von dem Versuch halten, Mann und Frau als Kategorien auszumustern.

„Wer meint, dass Imane Kehlif eine Frau ist, weil ihre Geburtsurkunde das sagt, dem kann ich nur antworten: Das ist ein Beweis für gar nichts“, schrieb der Transaktivist Buck Angel auf X. „Ich bin eine biologische Frau. Ich verfüge über viel Testosteron, weil ich es mir injiziere.“ Wer die Bilder ansieht, die Buck Angel von sich postet, würde nie im Leben auf die Idee kommen, dass er mal ein zartgliedriges Mädchen war. Auf den Fotos schaut einen ein bärtiger Typ an, dessen Muskelberge jeden Durchschnittsmann vor Neid erblassen lassen können.

Vielleicht ist das die Lehre aus dem Spektakel in Paris: Natur ist kein unabwendbares Schicksal. Wer bereit ist, den Preis zu zahlen, kann seinem Körper fast jede Form geben. Darin liegt ein ungeheures Freiheitsversprechen. Aber das heißt nicht, dass wir die Natur überwinden könnten.

Ich glaube, viele können sich in das Leid eines Menschen einfühlen, der weiß, dass er ganz anders ist als die anderen und dann das Boxen als Rettung entdeckt. Die Verzweiflung im Gesicht von Imane Khelif ist nicht gespielt. Aber was die meisten nicht akzeptieren ist, wenn man ihnen weismachen will, dass es keine Rolle spielt, ob jemand wie ein Mann auftritt und im Zweifel auch wie ein Mann zuschlägt.

Wenn man den Leuten einzureden versucht, dass das, was sie sehen, nicht zählt – ja, dass es sogar unanständig ist, zu äußern, was man sieht – dann provoziert man nicht Einsicht, sondern Gegenwehr.

© Michael Szyszka

Der Journalist als Fan

Wenn der Wunsch die Wirklichkeitsbetrachtung ersetzt, triumphiert am Ende selten der Wunsch. Das war bei der medialen Befassung mit Trump so, das war bei Biden so. Wird es sich bei Kamala Harris wiederholen?

Haben Sie gesehen, wie die Obamas Kamala Harris gratuliert haben? Tagelang hatte sie auf die Unterstützung des demokratischen Powercouples gewartet. Warum wartet Obama mit dem Endorsement, das war die Frage, die ganz Washington beschäftigte. Hat er Vorbehalte? Wartet er nur auf den richtigen Augenblick?

Und dann klingelt das Telefon. Barack und Michelle sind sogar beide dran, um zu sagen, wie stolz sie auf ihr „Mädchen“ sind und wie toll sie es finden, dass sie nun die Demokraten in den Kampf ums Weiße Haus führen werde. Schnitt auf das Gesicht der Kandidatin, die gefasst, aber glücklich die frohe Kunde vernimmt.

Gänsehautmoment!

Woher wir so genau im Bilde sind? Weil es ein Video gibt, in dem der Anruf festgehalten ist. Zufälligerweise war gerade ein Berater zur Stelle, der ans Handy ging, als Obama durchklingelte. Doppelglück dann, dass jemand eine Kamera in der Hand hielt, um die Szene einzufangen. Und natürlich war auch gleich der Ton perfekt, sodass wir die tiefe Stimme Barack Obamas von der ersten Sekunde an in voller Lautstärke hören können, gefolgt vom warmen Timbre Michelles.

„Kamala!!“ „Hello? Hi!!“ „Hey there!“ „Aw… Hi, you’re both together!“ So schön, so menschlich kann Politik sein.

Ach so, alles nur inszeniert? Kein Wort wahr? Nein, nein, genauso habe sich der Anruf zugetragen, hat die Sprecherin von Kamala Harris der „New York Times“ gegenüber beteuert. Nichts sei gestellt, jedes Wort sei dem Augenblick abgelauscht.

Es gibt im Englischen ein Wort für diesen Moment, wenn man sich am liebsten vor Schmerz krümmen würde, weil das, was man zu sehen bekommt, so schrecklich ist. Die Engländer nennen das „cringe“. Das Wort hat sich auch im Deutschen eingebürgert, weil es viel anschaulicher ist als das deutsche „Fremdscham“.

Das Obama-Harris-Telefonat ist Cringe im Quadrat. Ich kenne Leute, die konnten den Clip nicht zu Ende schauen, weil sie die Mischung aus gespielter Aufgeregtheit und falscher mädchenhafter Bescheidenheit nicht ertrugen.

Ein Vorwurf gegen Trump lautete immer, er würde Fake News verbreiten. Aber kann man sich mehr Fakehaftigkeit vorstellen, als den Leuten vorzumachen, sie wären mit am Telefon dabei, wenn Obama anruft? Doch eigenartig: In den Medien, die ich konsumiere, keine Zeile dazu.

Alles an Kamala Harris löst Begeisterung aus: wie sie lacht, wie sie kocht, wie sie spricht. Dazu natürlich der Hintergrund. Keine Geschichte kommt ohne den Hinweis aus, dass mit ihr nicht nur die erste Frau ins Oval Office einziehen würde, sondern die erste schwarze Frau. Ja mehr noch: die erste schwarze Frau, die auch noch über asiatische Wurzeln verfügt. Das wird so lange durchdekliniert, bis auch der letzte weiß, welche historische Wahl bevorsteht.

Ich habe mir Mühe gegeben, Kamala Harris toll zu finden, wirklich. Ich habe versucht, alles zu vergessen, was ich vorher über sie gelesen hatte: die Abgehobenheit und Aufgesetztheit, die viele ihre Auftritte durchzieht; die Unfähigkeit, sich in Menschen hineinzuversetzen, die andere Sorgen haben als die Frage, ob es einer Millionärin gelingt, die „gläserne Decke“ zu durchbrechen; der rüde Umgangston, mit dem sie mehrere ihrer Büroteams in die Flucht getrieben hat. All das konnte man lesen – bevor sie zur Frau aufstieg, die Amerika rettet.

Ich bin mit „Thelma & Louise“ aufgewachsen, dem ersten feministischen Rachefilm. Ich bewundere es, wenn eine Frau die Pumpgun rausholt und den Kerl wegpustet, statt sich lange über schlechte Behandlung auszulassen. Wie Kamala Harris gleich in ihrer ersten Rede Trump einen verpasste, indem sie ihn als Trickbetrüger und Frauengrapscher bezeichnete: à la bonne heure. Aber dann bekam ich dieses vermaledeite Video in die Timeline gespült und die Zweifel waren wieder da.

Woher kommt das Bedürfnis vieler Journalisten, sich selbst zum Fan zu machen? In dem Fall ist das doppelt kurios, da niemand in Deutschland bei der US-Wahl eine Stimme hat. Dennoch wird Kamala Harris angefeuert, als könnte sie der Wind der Zustimmung ins Weiße Haus tragen. Gut, wenn man an die Kraft des Gebets glaubt, dann mag es funktionieren. Dass auch in Presseorganen, in denen man sich ansonsten bei jeder Gelegenheit über den Glauben lustig macht, nun lauter Kerzlein ins Fenster stellt, entbehrt so gesehen nicht einer gewissen Komik.

Eine Nebenwirkung des Fantums ist, dass man regelmäßig auf dem falschen Fuß erwischt wird. Wenn der Wunsch die Wirklichkeitsbetrachtung ersetzt, triumphiert selten der Wunsch. Das war schon bei Trump so, das hat sich bei Biden wiederholt. Man sollte meinen, dass dem einen oder anderen Korrespondenten aufgefallen sein sollte, wie altersschwach der Präsident ist, dafür sind sie ja als Korrespondenten vor Ort. Aber am Ende waren sie von seiner Hinfälligkeit genauso überrascht wie ihre Leser.

Der „Politico“-Redakteur Jack Shafer ist neulich in einem Essay der Frage nachgegangen, wann der Journalismus seine Coolness verloren habe. When Journalism lost his swagger, lautete die These im Original. Ich würde sagen, der Zeitpunkt fällt ziemlich genau mit dem Auftauchen einer neuen Form des Journalismus zusammen, der Einfühlsamkeit an die Stelle des Runterschreibens setzt und Rücksichtnahme an die Stelle der Boshaftigkeit.

Die goldenen Jahre des Journalismus sind nicht von ungefähr auch die Wirkungszeit großer Spötter: Karl Kraus, Kurt Tucholsky, Alfred Polgar, Alfred Kerr. Es waren übrigens alles auch große Beleidiger und Niedermacher, weshalb man sie bis heute liest. Eines meiner Vorbilder ist der Autor Anton Kuh, von dem das Motto stammt: „Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht“. Leider hat sich die Auffassung durchgesetzt, man dürfe nicht zu persönlich werden.

Vor einiger Zeit stand im „Spiegel“ ein Porträt des ehemaligen Wirtschaftsministers Peter Altmaier. Es war ein außergewöhnlicher Text, auch außergewöhnlich boshaft. Der Autor, zum Zeitpunkt der Niederschrift noch Journalistenschüler, hatte den Ex-Politiker wochenlang begleitet und alles aufgeschrieben, was der ihm anvertraut hatte, darunter auch manches, von dem sich Altmaier im Nachhinein sicher gewünscht hat, er hätte es nicht gesagt.

War die Redaktion stolz auf den Text? Nein! Es setzte im Gegenteil eine längliche Diskussion ein, ob man den Artikel in dieser Form überhaupt hätte drucken dürfen. Jemanden so vorzuführen, der doch eigentlich immer ein netter Kerl gewesen sei, das sei in hohem Maße unfair. Es fiel das Wort „menschenverachtend“.

War der Text unfair? Er war streckenweise sogar hundsgemein. Aber eben deshalb auch sehr unterhaltsam. Außerdem erfuhr man ziemlich viel darüber, wie einsam Politik diejenigen macht, die ihr verfallen sind.

Es gibt auch den umgekehrten Fall, also das freundliche Porträt über eine Person, die in Ungnade gefallen ist. Alexander Osang ist ein Meister dieser Spielart. Seine Arbeit hat ihm mehrere Kisch-Preise eingetragen, die dann Nannen-Preise hießen, bis man fand, dass auch Nannen nicht mehr ginge, weil politisch zu belastet. Der Preis heißt jetzt Stern-Preis, was über den Niedergang der Branche einiges verrät.

Die meisten Journalisten wählen heute leider die ungünstigste Variante: brav über Leute schreiben, die alle gut finden. Der einzige, über den man noch in herabsetzender Form schreiben kann, ohne dass jemand daran Anstoß nimmt, ist vermutlich Björn Höcke. Wobei, selbst da bin ich mir nicht sicher.

Jedes Porträt stellt ja Nähe zu dem Porträtierten her, in dem es ihm auf den Leib rückt. Die bevorzugte Methode ist die Nahaufnahme, nicht die Fernbeobachtung. Also würde es heißen: Muss es wirklich sein, dass wir Höcke auch von seiner privaten Seite sehen? Verlieren wir damit nicht die Distanz, verharmlosen wir so nicht die AfD?

Auch von Donald Trump gab es dieser Tage neue Videos. In einem Clip sitzt er neben dem Profigolfer Bryson DeChambeau und zeigt seine Playlist vor, während die beiden von Loch zu Loch gurken. Trump ist so, wie er immer ist: einfach er selbst. Das reicht völlig aus, um die Anhänger zu begeistern und die Gegner in den Wahnsinn zu treiben. Ganz ohne cringe.

© Sören Kunz