Die einzige Berufsgruppe, bei der sich jede Kritik verbietet, sind Richter. Was immer sie entscheiden, hat der Bürger klaglos hinzunehmen. Dabei zeigt das Ringen um die Besetzung des Verfassungsgerichts, wie politisch auch Gerichte sind
Eines der zentralen Versprechen der Union ist es, den ungesetzlichen Zustand an den Grenzen zu beenden. Jeden Tag kommen Menschen, die auf Nachfrage nicht einmal sagen können, wie sie heißen oder wie alt sie sind. Beziehungsweise sie zeigen Papiere vor, die zwar Namen und Altersangaben enthalten, sich aber schon bei flüchtigem Augenschein als gefälscht erweisen. Bisher ist die übliche Praxis, diese Menschen erst einmal freundlich ins Land zu bitten, um dann mit ihnen gemeinsam den mühseligen Prozess der Prüfung ihres Asylantrags zu beginnen. Da dieses Verfahren oft Jahre dauert, hat sich ihr Aufenthaltsstatus am Ende allein aufgrund der inzwischen verflossenen Zeit so verfestigt, dass an eine Abschiebung nicht mehr zu denken ist.
Die neue Regierung will das ändern. Deshalb hat Bundesinnenminister Alexander Dobrindt die Grenzpolizei angewiesen, Asylbewerber in das Nachbarland zurückzuweisen, aus dem sie gekommen sind. Er kann sich dabei auf die Verfassung berufen. Wer aus einem sogenannten sicheren Drittstaat einreist, und das sind nach Lage der Dinge alle Länder um Deutschland herum, hat keinen Anspruch auf Asyl. So steht es in Artikel 16a des Grundgesetzes.
Anfang Mai griff die Polizei im Bahnhof von Frankfurt (Oder) drei Somalier auf, die über Polen eingereist waren. Es war ihr dritter Versuch, in Deutschland Fuß zu fassen. Kurioserweise waren die Flüchtlinge mit jedem Grenzübertritt nicht nur juristisch besser beraten, sondern auch von Mal zu Mal jünger. Der Fall ging vor das Verwaltungsgericht in Berlin, das in einem Eilentscheid die Abschiebung für rechtswidrig erklärte.
Seitdem herrscht große Aufregung. Der Innenminister tat das Urteil als Einzelfall ab, was ihm wiederum den Vorwurf eintrug, geltendes Recht zu brechen. Von einem „gruseligen Rechtsverständnis“ sprach die „Tagesschau“ in einem Kommentar, das Verhalten des Ministers sei „besorgniserregend“. Dass in dem Zusammenhang auch die (grüne) Parteizugehörigkeit des Richters zur Sprache kam, wurde als besonders anstößig empfunden.
Die einzige Berufsgruppe, bei der sich jede Kritik verbietet, ja bei der diese als geradezu staatsgefährdend gilt, ist die Richterschaft. Egal was ein deutscher Richter entscheidet, der Bürger hat es klaglos hinzunehmen. Wer mault oder die Beweggründe hinterfragt, gilt als gefährlicher Querulant, der an den Grundfesten des Gemeinwesens rüttelt.
Wie sich denken lässt, ist auch die Justiz von politischen Moden nicht frei. Es wäre weltfremd anzunehmen, dass Richter mit dem Überstreifen der Robe ihre politischen Überzeugungen ablegen würden. Aber das ist die Fiktion, an die zu glauben die Deutschen aufgefordert sind.
Besagter Verwaltungsrichter in Berlin beispielsweise hat eine Blitzkarriere unter seinem Parteifreund, dem grünen Justizsenator Dirk Behrendt, hingelegt. Behrendt hat sich nicht nur einen Namen wegen eines sehr eigenwilligen Rechtsverständnisses gemacht, sondern auch als besonders eifriger Advokat der linken Sache. Beim Abschied aus dem Amt konnte er sich zu Recht der Grünfärbung der Berliner Justizlandschaft rühmen.
Ich erinnere mich gut an die Kommentare, als vor zwei Jahren in Tel Aviv Tausende auf die Straßen gingen, um gegen die Pläne des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zu protestieren, der Politik bei der Richterauswahl Einfluss zu verschaffen. Was Netanjahu in Israel einführen wollte, ist bei uns seit Langem üblich. Kein Verfassungsrichter, den nicht die Parteien nach Karlsruhe entsendet hätten. Und selbstverständlich verbinden sich mit der Ernennung Erwartungen. Wäre es anders, würde über die Auswahl ja nicht so hart gerungen.
Wer das Bundesverfassungsgericht politisiere, der delegitimiere eine der letzten angesehenen demokratischen Institutionen, heißt es auch jetzt wieder von linker Seite. Das ist kurios, denn SPD und Grüne haben mit der Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf eine Kandidatin ins Feld geführt, die jedes Klischee der Aktivistin erfüllt, bis hin zum SPD-Doppelnamen. Alles, was in linken und sehr linken Kreisen en vogue ist, findet in ihr eine Befürworterin.
Frau Brosius-Gersdorf hält die Annahme, dass die Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert, für „einen biologistisch-naturalistischen Fehlschluss“. Sie befürwortet Frauenquoten auf Wahllisten und widerspricht damit der gängigen Auffassung, wonach Frauen Männer repräsentieren können und Männer Frauen. Sie hielt in der Corona-Epidemie eine Impfpflicht für geboten, würde gerne das Grundgesetz durchgendern und hat auch nichts gegen das Kopftuch im Justizdienst. Selbstverständlich unterstützt sie ein Verbotsverfahren gegen die AfD, wie sie bei „Markus Lanz“ ausführte.
Die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder schilderte in einer Anekdote das Sendungsbewusstsein der Kandidatin. Während einer zufälligen Begegnung anlässlich einer Ballnacht in Berlin sei sie von dieser sofort in Beschlag genommen und in eine Diskussion über das Ehegattensplitting verwickelt worden. Alle Versuche, zum Small Talk zurückzukehren, seien gescheitert. „Ich weiß noch, wie befremdlich ich dieses aktivistische Auftreten bei einem feierlichen Anlass fand“, berichtete Schröder.
Dass man über die Justiz Macht ausüben kann, haben die Linken früh begriffen. Deswegen nahmen die Achtundsechziger bei ihrem Marsch durch die Institutionen besonders das Rechtswesen in den Blick. Dafür waren sie sogar bereit, sich den anstrengenden Auswahlverfahren zu unterziehen.
Soll das Volk doch wählen, wen es will. Am Ende entscheidet man am Richtertisch, welche parlamentarischen Beschlüsse Bestand haben und welche nicht. Dann ist der Soli eben doch kein Soli, sondern eine Reichensteuer, das Bürgergeld eine Art Grundeinkommen und die Kontrolle der Grenze ein Verstoß gegen Europarecht.
Am Montagabend empfahl der Wahlausschuss des Bundestags die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf als neuer Verfassungsrichterin. Zuvor hatte schon die CSU beigedreht: In einer Zeit, in der Demokratie von den Rändern unter Druck gerate, brauche es ein Zeichen des Zusammenhalts. Wenn Sie mich fragen, droht der Demokratie eher Gefahr durch Urteile, die sich weit von der Mitte wegbewegen.
Auch die Union hatte ursprünglich einen eigenen Kandidaten, den Verwaltungsrichter Robert Seegmüller. Aber den wollten Sozialdemokraten und Grüne nicht. Seegmüllers Vergehen? Er hatte vor Jahren in einem Interview mal darauf hingewiesen, dass die nationale Rechtslage durchaus Zurückweisungen an der Grenze erlaube. Damit war er raus. Politische Zuspitzung vertrage sich schlecht mit dem hohen Karlsruher Amt, hieß es anschließend in einem Kommentar. Deswegen stand ja nun auch Frau Brosius-Gersdorf auf der Vorschlagsliste.
Es ist wie immer in solchen Fällen: Die Union gibt sofort nach, wenn sie es bei Rot-Grün verlangen. Stößt der eigene Vorschlag auf Skepsis, entschuldigt man sich.
Auf X, wie Twitter heute heißt, habe ich folgenden Eintrag gelesen: „Die CDU hat die Grünen unterschätzt. Die CDU hat die Identitätspolitik unterschätzt. Die CDU hat die Unterwanderung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks unterschätzt. Die CDU hat die links-grünen NGOs unterschätzt.“
Man braucht nicht viel Fantasie, um sich den Katzenjammer auszumalen, sollte das Verfassungsgericht in strittigen Fragen zum sozialdemokratischen Regierungspartner halten. Aber das ist ja das Wesen des Katzenjammers: Er kommt immer zu spät.