Dass man das „N-Wort“ nicht mehr sagt, ist klar. Aber auch aus Romanen und Reportagen soll es verschwinden, bald ist sogar die Abkürzung tabu. Über den verzweifelten Versuch einer Wirklichkeitskorrektur
Ein Buchhändler aus München hat mich angeschrieben, um mich auf einen Roman aufmerksam zu machen. Genauer gesagt: auf eine Seite darin.
Das Buch stammt von dem Berliner Reporter Dirk Kurbjuweit und heißt „Der Ausflug“. Es handelt von vier jungen Westdeutschen, die zu einer Kanutour nach Ostdeutschland aufbrechen, einer der vier ist schwarz. Wie nicht anders zu erwarten, kommt es zu Problemen mit der einheimischen Bevölkerung.
Auf der Seite, die mir der Buchhändler zuschickte, hat der trinkende Dorfnazi seinen Auftritt. Die vier Freunde sitzen in der Ortskneipe und stoßen auf die bevorstehende Kanutour an. „Seit wann können N… paddeln?“, ruft der Nazi dazwischen.
Ich habe das Wort nicht abgekürzt, die Auslassungszeichen hat der Autor vorgenommen. Nimmt man den Satz wörtlich, muss man zu dem Schluss kommen, dass inzwischen auch ostdeutsche Nazis darauf achten, nicht unter Rassismusverdacht zu geraten. Aber so ist es selbstverständlich nicht gemeint.
Das Buch bewegt sich auf der Höhe der Zeit, das muss man anerkennen. Gerade hat sich der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer in einem Anfall von politischem Tourette unmöglich gemacht, indem er einen Auftritt an der Frankfurter Uni dazu nutzte, das verfemte Wort mehrfach auszusprechen. Am Montag gab Palmer seinen Austritt bei den Grünen bekannt. Er wolle professionelle Hilfe suchen, um an sich zu arbeiten, erklärte er außerdem.
Wenn es nach mir ginge, könnten wir morgen die Auslöschung des „N-Wortes“ beschließen. Ich habe nie zu denen gezählt, die finden, dass man an Worten festhalten müsse, nur weil man sie schon immer benutzt habe. Uns ist auch nichts verloren gegangen, als wir uns von „Schlitzaugen“, „Fidschis“ oder „Spaghetti“ als Bezeichnung für andere Menschen verabschiedet haben.
Dummerweise halten sich nicht alle an das Aussprechverbot, das böse Wort wird in bestimmten Kreisen weiter seinen Reiz haben. Es wird vermutlich sogar Menschen geben, die es jetzt erst recht wertschätzen, weil der Beleidigungscharakter in dem Maße zunimmt, in dem man einen Begriff unter Tabu stellt. Auch das muss man im Zweifel hinnehmen.
So sehr ich den Wunsch teile, Beleidigungen aus der Welt zu schaffen: Ich fürchte, die Konsequenzen sind nicht durchdacht. Wenn nicht nur das gesprochene, sondern auch das geschriebene Wort als so anstößig gilt, dass man es besser vermeidet: Warum bei Romanen stehen bleiben? Auch Zeitungsreportagen, wissenschaftliche Studien und überhaupt jede Form der Wirklichkeitserfassung muss sich dann eine Überprüfung gefallen lassen.
Ich sehe die Diskussion bei der „Zeit“ oder der „Süddeutschen“ vor mir. Ein junger Reporter war im Osten unterwegs und liefert Szenen aus dem AfD-Milieu. Einer der darin auftauchenden Funktionäre liebt es, rassistisches Vokabular zu benutzen, er ist geradezu besessen davon. Darf der Reporter nun die Realität beschreiben, auch in ihren abstoßenden Seiten? Oder muss er sie filtern, indem er Abkürzungen oder Umschreibungen des Gesagten benutzt?
Es schließt sich ein weiteres Problem an. Das verfemte Wort ist ja nicht aus der Welt, indem man es abkürzt. Was meint der Dorfnazi bei Kurbjuweit mit „N…“, was verbirgt sich hinter den drei Pünktchen? Neuling, Normalo, Nichtsnutz? Vermutlich meint er genau das, woran wir denken, wenn wir den Buchstaben lesen. So ist es ja auch gedacht: Alles andere würde der Intention des Romans zuwiderlaufen und den späteren Handlungsverlauf unverständlich erscheinen lassen.
Kurbjuweit erwartet also, dass sich im Kopf des Lesers das Wort formt, das er selbst nicht nennen will. Wenn der Autor aber davon ausgeht, dass ohnehin jeder weiß, was gemeint ist, warum nennt er es dann nicht selbst? Aus Rücksichtnahme, würde er vermutlich sagen. Aber müsste echte Rücksichtnahme nicht bedeuten, dass man ganz auf die Nennung verzichtet?
In den USA hat sich genau so ein Fall zugetragen, der Amerika-Korrespondent René Pfister erwähnt ihn in seinem Bestseller „Ein falsches Wort“. Ein Juraprofessor an der University of Illinois Chicago benutzte in einer Klausur, in der die Studenten einen Diskriminierungsfall zu beurteilen hatten, das „N-Wort“ in der abgekürzten und damit scheinbar zulässigen Form. Mehrere Studenten wandten sich darauf an die Unileitung und beklagten, jede Erinnerung an das Leid der Sklaverei wirke traumatisierend, dazu zähle auch der Buchstabe „N“, da er ja stellvertretend für die Abwertung stehe. Der Professor wurde suspendiert.
Schreibweisen ändern sich, Wortbedeutungen ebenfalls. Was eben noch okay war, kann morgen als Herabwürdigung gelten. Das geht mitunter sehr schnell. Auf Twitter kursierte in den vergangenen Tagen ein Videoclip, in dem sich Jan Böhmermann darüber lustig macht, dass man zu Negerküssen nun Schokoküsse sagen solle. Er nennt das Wort „Negerkuss“ mehrfach mit großer Wonne. Der Clip ist von 2016. Ich kann mir nicht vorstellen dass Böhmermann sich heute noch trauen würde, so zu reden.
Es gibt auch die fröhliche Brutalität der zur Schau gestellten Unschuld. Ich weiß noch, wie ich mich innerlich wand, wenn mein Vater von „Schwatten“ redete. Wieso, sagte er, das ist doch nicht böse gemeint. Ich fand das Beharren auf die vermeintliche Harmlosigkeit des Gesagten befremdlich. Wenn eine überwältigende Mehrheit der Angesprochenen einen Begriff als Beleidigung empfindet, tut man gut daran, nicht darauf zu bestehen, dass man besser als sie wisse, was eine Beleidigung sei.
Aber inzwischen frage ich mich, ob wir nicht zu viel des Guten tun. Von der Rücksichtnahme im Umgang miteinander zur Verfälschung der Wirklichkeit ist es nicht weit. Wenn der Rassist nicht mehr wie ein Rassist reden darf, gibt es irgendwann keinen Rassismus mehr. Auch so lässt sich das Problem des Rassismus lösen. Ich bezweifele nur, dass der Sache damit gedient ist.
Heute sind es die People of Color, die auf einer Umschreibung der Wirklichkeit bestehen, morgen die Transmenschen. Das Gesetz dazu ist schon in Arbeit. Im sogenannten Selbstbestimmungsgesetz findet sich eine Vorschrift, wonach die Nennung des alten Namens künftig unter Strafe stehen soll. Wer über eine Transfrau sagt, dass sie als Mann geboren wurde, verstößt gegen das „Offenbarungsverbot“ und riskiert eine Geldstrafe von bis zu 10000 Euro. Es ist nicht ganz klar, ob sich die Regelung auch auf Journalisten erstreckt. Etwas nebulös ist in dem Gesetzentwurf davon die Rede, dass „besondere Gründe des öffentlichen Interesses“ vorliegen müssten, um von einer Strafe abzusehen.
Deadnaming ist in der Szene eine ernste Angelegenheit. Ich erinnere mich an die Schwierigkeiten, in die der „Spiegel“ geriet, als er seine Leser darüber unterrichtete, dass die Schauspielerin Ellen Page jetzt Elliot heiße. Ich möchte nicht in der Haut von Nachrichtenredakteuren stecken. Wie sollen sie ihrem Publikum mitteilen, dass ein bekannter Mensch das Geschlecht gewechselt hat, wenn bereits der Hinweis auf die bisherige Karriere unter anderem Namen als Verstoß gegen die guten Sitten gilt? Ohne Ellens Filme wüsste niemand, wer Elliot ist.
Meine Frau sagt, warum schreibt dein Kollege überhaupt über Nazis im Osten. Hätte er sich nicht ein anderes Thema suchen können? Das ist, wenn man so will, die pragmatische Sicht auf die Dinge. Einfach umschiffen, was unangenehm werden könnte. Aber wenn man damit anfängt, um alles einen Bogen zu machen, womit man sich Ärger einhandeln könnte, kann man als Journalist oder Schriftsteller einpacken. Dann bleibt als Ausweg nur noch Enid Blyton.
Ich sehe auch keine einfache Lösung. Vielleicht ist eine Antwort, dass man zwischen gesprochener und geschriebener Sprache unterscheidet. Man könnte auch Texte, die böse Worte enthalten, mit einem Warnhinweis versehen: „Achtung, Weiterlesen auf eigene Gefahr.“ Klingt vielleicht lächerlich. Aber wenn das der Preis ist, dass wir nicht vor der Realität die Augen verschließen, dann wäre ich bereit, ihn zu zahlen.
© Silke Werzinger