Wir gehen in die dritte Phase der Pandemie, die ihrer Politisierung. Das neue Feindbild: der Unternehmer als Infektionsrisiko. Die neue Gesellschaft: ein wenig wie die DDR, aber dafür 100 Prozent virusfrei und mit Homeoffice
Die gute Nachricht vorneweg: Das Gehalt und die Pensionsansprüche der Kanzlerin sind von der Pandemie nicht betroffen. Auch auf die ökonomische Lage von Malu Dreyer, Daniel Günther, Tobias Hans und Bodo Ramelow hat der Lockdown keine Auswirkungen. Die Bezüge der Ministerpräsidenten sind in der Krise sicher.
Wenn ich darüber nachdenke: Eigentlich erwarte ich stündlich die Ankündigung der Regierung, einen Politiker-Soli einzuführen. Zehn Prozent Gehaltsverzicht als ein Zeichen gelebter Solidarität! So wird es kommen, davon bin ich überzeugt.
Es ist in diesen Tagen viel von Solidarität die Rede. Solidarität mit den Alten. Solidarität mit den Hartz-IV-Empfängern, die sich keine Masken leisten können. Solidarität mit überhaupt allen, die als schwach und schützenswert gelten. Wenn man durch die Zeitungen blättert, muss man den Eindruck gewinnen, an kaum etwas sei der Politik so gelegen wie am Zusammenhalt der Gesellschaft.
Immer, wenn große Begriffe bemüht werden, sollte man misstrauisch werden. Meine Erfahrung. Oder wie Carl Schmitt einmal anmerkte: Wer Menschheit sagt, will betrügen.
Es tun sich in der Krise große Unterschiede auf, nur andere als die, von denen ständig die Rede ist. Auch die Politik des Lockdowns hat ihre Gewinner und Verlierer. Darüber wird allerdings nicht so gerne gesprochen. Das würde ja die gesellschaftliche Spaltung befördern. Und Spaltung ist, wie man weiß, das Gegenteil von Solidarität.
Die in Berlin verfügten Maßnahmen verlangen den Deutschen sehr unterschiedliche Solidaritätsleistungen ab. Alle, die über 65 Jahre alt sind (das sind 18 Millionen Deutsche), müssen weder um ihren Arbeitsplatz noch um ihr Einkommen bangen, egal, wie lang und hart der Lockdown am Ende sein mag.
Auch die fünf Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie haben sogar, zu ihrer Arbeitsplatzgarantie, gerade eine Lohnerhöhung von bis zu 4,5 Prozent erhalten. Etwas anders sieht es bei denen aus, die im normalen Erwerbsleben stehen. Hier hat die Regierung zum Glück vorgesorgt. Das Kurzarbeitergeld wurde bis zum Jahr 2022 verlängert, danach sieht man dann weiter.
Wirklich gekniffen sind nur die Selbstständigen, sie bekommen die volle Wucht des Lockdowns zu spüren. Unternehmerisch denkende Menschen sind in Deutschland eine radikale Minderheit, das erweist sich wieder mal als Nachteil. Gerade mal vier Millionen Deutsche gehören dieser Gruppe an, das ist weniger, als es über 80-Jährige gibt. Deshalb haben Selbstständige in der Politik auch kaum Fürsprecher.
Klar, am Rand fällt immer ein Satz des Mitgefühls ab. Aber wenn man in den Parteizentralen auf das Land in der Pandemie schaut, dann sind der wichtigste Wählerblock nun einmal die Alten, und den meisten von ihnen können die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus nicht weit genug gehen. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, das gilt auch in der Krise. Man könnte sogar sagen: Es gilt hier erst recht.
Wir treten gerade in die dritte Phase der Pandemie, in die ihrer Politisierung. Anfang der Woche haben Aktivisten eine Petition mit dem Titel „#ZeroCovid: Für einen solidarischen europäischen Shutdown“ online gestellt. Was wie das Ringen um den richtigen Weg im Infektionsschutz aussieht, ist in Wahrheit der Beginn im Kampf um eine neue Wirtschaftsordnung.
Wie die neue postpandemische Gesellschaft aussehen soll, ist erst in Umrissen erkennbar, aber dass es eine Gesellschaft sein wird, in der die Eigentumsgarantie nur noch begrenzt gilt und die Profitlogik ausgehebelt ist, das gilt als ausgemacht. Der Unternehmer ist in dieser Welt nicht mehr nur ein Ausbeuter, wie man es aus den marxistischen Lehrbüchern kennt: Er ist auch ein epidemiologisches Risiko, weshalb man am besten seinen Laden dichtmacht und die Gewinne umverteilt.
„Die Gesellschaften in Europa haben enormen Reichtum angehäuft, den sich allerdings einige wenige Vermögende angeeignet haben“, heißt es in dem Null-Virus-Papier, das als Gründungstext einer neuen Covid-Linken verstanden werden darf. „Mit diesem Reichtum sind die umfassende Arbeitspause und alle solidarischen Maßnahmen problemlos finanzierbar.“
Selbst der linken „taz“ geht die komplette Stilllegung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens zu weit. „Halbtotalitäre Fantasie“ nannte der aus Ostdeutschland stammende Redakteur Thomas Gerlach die Vorschläge. Der Mann ist in der DDR aufgewachsen, er kennt sich mit Totalitarismus aus. Das hält die Verfechter selbstredend nicht davon ab, weiter für die gerechte Sache zu trommeln.
Man sollte die Verführungskraft des Radikalen nicht unterschätzen. Einer der Hauptautorinnen, der Virologin Melanie Brinkmann, hat ihr Engagement eine Einladung ins Kanzleramt verschafft, um dort ihre Ideen vorzutragen. Wer dachte, die grundlegende Sozialdemokratisierung sei das Ende der Umwandlung der CDU, dem fehlt es erkennbar an Fantasie. Wenn es nach der Kanzlerin ginge, wäre auch ein Schulterschluss mit der Linkspartei denkbar. Die Pandemie macht alles möglich.
Es sind bezeichnenderweise die SPD-Ministerpräsidenten, die der Idee eines radikalen Shutdowns skeptisch gegenüberstehen. In der SPD ist noch eine Ahnung vorhanden, dass man nicht jeden ins Homeoffice schicken kann, wo er dann selbstbestimmt und selbstverwaltet seinen Geschäften nachgeht. Irgendjemand muss die Dinge des täglichen Bedarfs schließlich noch produzieren, die dann vom Heimbüro aus beworben, verkauft und verschickt werden.
Es ist ebenfalls kein Zufall, würde ich sagen, dass sich unter den Unterzeichnern der #ZeroCovid-Erklärung neben einigen Wissenschaftlern auffällig viele Namen aus dem Medien- und Kulturbetrieb finden. Also von Leuten, deren Leben sich weitgehend am Schreibtisch abspielt.
Zu den Initiationsriten der Achtundsechziger gehörte die Selbstverpflichtung als Arbeiter am Fließband bei Opel. Die meisten Bewegungsteilnehmer brachen das Experiment wegen Arbeitsüberlastung schon nach wenigen Wochen ab. Einer der wenigen, die länger durchhielten, war Joschka Fischer, aber der war ja auch durch seine Herkunft als Metzgerssohn für die Wirklichkeit gestählt.
Was immer man von dem Ausflug der akademischen Avantgarde in die Arbeitswelt halten mag: Er vermittelte immerhin eine Vorstellung, dass es ein Leben außerhalb des Seminarraums gibt. Damit hat es sich erledigt. Die Teresa-Bücker-Welt reicht über Yogastudio, Elterngruppe und Kindertagesstätte nicht mehr hinaus. Da lassen sich dann auch mit leichter Hand alle Bänder anhalten und die Fabriken stilllegen.
Wer seine Anschauung vom Leben der werktätigen Massen der TV-Doku auf Arte entnimmt, hat auch keine rechte Vorstellung, welche unheilvolle Dynamik der Lockdown in Familien freisetzt, für die eine Beschäftigung mit Buch oder Puzzle nicht die erhoffte Entlastung bringt.
In einem Papier, das im Kanzleramt als Entscheidungsgrundlage präsentiert wurde, findet sich allen Ernstes die Einschätzung, dass die Nähe und Enge des Lockdowns keinen Risikofaktor darstelle, sondern im Gegenteil als „Ressourcen-Faktor“ gesehen werden könne. Das ist ein in seiner Abgehobenheit und Arroganz atemberaubender Satz. Aber er ist nicht so abgehoben und arrogant, dass er einem nicht einen Platz am Beratungstisch der Kanzlerin eintragen würde.
Der autoritäre Deutsche findet in der Pandemie zu sich selbst. An die Stelle des Vorschlags tritt das Kommando, an die Stelle des Arguments der Befehl. Sie wünsche sich, dass der Aufruf „einfach zack sofort umgesetzt wird“, schrieb die Kolumnistin Margarete Stokowski zur Veröffentlichung der #ZeroCovid-Petition. „Macht! Die! Büros! Zu!“, sekundierte der Blogger Mario Sixtus im Jargon des Berliner Schließers.
Bevor jetzt alle Naseweise um die Ecke biegen und sagen „Leute wie Stokowski stammen gar nicht aus Deutschland“, ein Wort zur Aufklärung: Deutsch sein ist keine Frage der Geburt, sondern der Gewöhnung. Das gilt im Guten wie im Schlechten.