Jeder zweite Bürgergeldempfänger besitzt keinen deutschen Pass. Das ist eine schöne Geste des Sozialstaats. Aber es ist nicht das, was man den Leuten versprochen hat, als man sie über die Vorzüge der Einwanderung belehrte
Deutschland ist ein großzügiges Land. Es ist so großzügig, dass es Zuwanderern aus dem Ausland nicht nur erklärt, wie man einen Job ergattert, sondern auch gleich, wie man ohne Arbeit in Deutschland über die Runden kommt. „Citizen’s benefit (Bürgergeld) for People from Abroad“ heißt eine Seite der Bundesagentur für Arbeit, auf der Interessenten über die Möglichkeit des staatlich finanzierten Lebens aufgeklärt werden.
Damit niemand auf die irrige Idee kommt, Bürgergeld sei nur etwas für Menschen, die zu alt oder zu krank zum Arbeiten sind, strahlt einen von der Seite ein junges Pärchen an, das so aussieht, als ob es mühelos eine Beschäftigung fände. Links ein junger Mann Anfang dreißig mit einem grün eingebundenen Buch in der Hand; neben ihm eine junge Frau mit Hijab, die ebenfalls nicht so wirkt, als ob sie auf den Kopf gefallen wäre.
Besucher der Webseite erfahren nicht nur alles über die Bedingungen für ein Leben auf Stütze („Du bist arbeitsfähig“, „Du bist mindestens 15 Jahre“, „Du hast deinen Lebensmittelpunkt in Deutschland“). Die Agentur gibt auch hilfreiche Tipps, die sie mit einer kleinen Glühbirne versehen hat, damit der Leser sie nicht übersieht: „Gut zu wissen: Wenn du Bürgergeld erhältst, bist du automatisch im System der gesetzlichen Gesundheits- und Pflegeversicherung eingeschrieben.“ Hand aufs Herz, wer könnte da Nein sagen?
Bürgernähe wird bei der Agentur für Arbeit überhaupt großgeschrieben. Deshalb findet sich am Ende der Seite ein rot markiertes Feld, das man nur anklicken muss, um sich unbürokratisch für die Transferleistung registrieren zu lassen. „Du kannst dich online bewerben“, heißt es dort, so als handele es sich beim Bürgergeld um einen Sprachkurs oder ein Fortbildungsprogramm für Hochbegabte. „Wenn du bereits einen Account besitzt, logge dich bitte mit deinem Accountnamen ein. Du kannst dann augenblicklich mit der Bewerbung beginnen.“
Ich weiß nicht, ob es viele Länder gibt, die so stolz ihr Sozialsystem bewerben. Ich habe nicht die Probe aufs Exempel gemacht. Aber ich bezweifle, dass man in den Vereinigten Staaten oder in Kanada Einwanderern in den leuchtendsten Farben die Vorzüge des Wohlfahrtsstaats ausmalt.
Gemessen an den Zugangszahlen ist die Werbekampagne der Agentur für Arbeit ein voller Erfolg. Gut die Hälfte der Bürgergeldbezieher hat inzwischen einen ausländischen Pass. Das steht zwar in krassem Widerspruch zum Talkshow-Mantra, wonach wir Einwanderung bräuchten, um unsere Sozialsysteme am Laufen zu halten. Aber kaum jemand in der Politik scheint sich daran zu stören. Beziehungsweise: Das Sozialsystem wird am Laufen gehalten, nur ganz anders, als es von seinen Architekten in Aussicht gestellt wurde.
Man sieht den Erfolg auch bei den Kosten. Allen Ankündigungen zum Trotz sind die Ausgaben in den vergangenen Jahren laufend gestiegen, von 39 Milliarden Euro im Jahr 2022 auf 43 Milliarden in 2023 und dann 47 Milliarden in 2024. Der Bundeskanzler hat angekündigt, die Bürgergeldkosten zu senken. Aber ich gebe Ihnen Brief und Siegel, dass daraus nichts folgen wird.
Und das sind nur die offiziell ausgewiesenen Zahlen. Daneben gibt es ja noch die Kosten für Unterbringung und medizinische Versorgung, die nirgendwo so richtig auftauchen. Die neue Gesundheitsministerin Nina Warken hat neulich einen Vorstoß gemacht, die Leistungen für Bürgergeldempfänger aus dem Etat der Krankenkassen herauszunehmen. Dass die Krankenkassenbeiträge ebenfalls dramatisch steigen, liegt auch daran, dass immer mehr Leute beim Arzt vorsprechen, die selbst keine Beiträge zahlen.
Warken hat vorgeschlagen, die Behandlungskosten künftig aus Steuereinnahmen zu decken. Aber nichts fürchten die Bürgergeld-Advokaten so sehr wie Transparenz. Solange die Kosten im allgemeinen Gesundheitsbudget untergehen, gibt’s auch keine politische Diskussion. Nicht auszudenken, wenn zutage träte, wie viele Milliarden allein die Zahnbehandlung kostet. Das möchte man dann doch lieber vermeiden.
Hin und wieder kommen die Probleme an die Oberfläche, so wie Blasen in einem großen Teich. Vor ein paar Tagen trat der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit einem Notruf auf. Die Kommunen befänden sich im freien Fall. Auf die Frage, weshalb die Lage so desolat sei, nannte er zwei Gründe: steigende Personalkosten (plus acht Milliarden) und wachsende Sozialausgaben (plus neun Milliarden).
Frage der „FAZ“: „Gibt es einzelne Posten, die besonders auffällig sind?“ Antwort: „Wir hatten die Anpassung der Regelsätze in der Sozialhilfe und im Bürgergeld, außerdem sind mehr Menschen in den Leistungsbezug gekommen.“
Jeder Stadtkämmerer kann einem vorrechnen, was das bedeutet. Weil die Kommunen immer mehr für Personal und Sozialleistungen ausgeben, muss an anderer Stelle gespart werden – beim Bus, beim Freibad, beim Sport, beim Theater. Das bekommen auch die Bürger mit, die nicht von Sozialtransfers leben, sondern die Chose über ihre Steuern am Laufen halten. Entsprechend ist die Stimmung. Und im Augenblick ist die Wirtschaftslage noch so, dass überall händeringend Leute gesucht werden, die mit anpacken. Man mag sich nicht ausmalen, wie die Lage erst aussieht, wenn die Zahl der Arbeitslosen mal wieder bei fünf Millionen steht.
Der Ort, der am weitesten von der Realität entfernt liegt, ist das Willy-Brandt-Haus. Dort hat man sich entschieden, die Wirklichkeit für etwas zu halten, dem man am besten mit Verdrängung und Beschwörung beikommt. Ich würde sagen, das ist schon bei der Ampel gründlich schiefgegangen. Aber das sieht man in der SPD-Zentrale anders.
Dort hat man den Eindruck, wenn man dabei geblieben wäre, die Probleme zu leugnen, wäre man noch immer im Amt. Deshalb hat Lars Klingbeil die Parole ausgegeben, dass beim Bürgergeld alles beim Alten bleiben soll. Man dürfe nicht auf dem Rücken von Menschen sparen, die gerade hier angekommen seien, wie er sich ausdrückte.
Auch so untergräbt man das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen. Man verspricht den Menschen, dass sie von Einwanderung profitieren werden, und dann präsentiert man ihnen eine Rechnung, die allen Ankündigungen Hohn spricht.
Die neue Regierung hat das größte Schuldenprogramm der deutschen Nachkriegsgeschichte auf den Weg gebracht. Trotzdem fehlt überall das Geld, weil die Ausgaben noch schneller steigen als die Schulden. Ich will nicht unken. Aber der Weg in den Untergang begann schon einmal mit der Zerrüttung der Staatsfinanzen. Wenn der Bürger den Eindruck hat, dass Solidität nichts mehr zählt, dann wählt er irgendwann auch unsolide. Das gilt zumal, wenn an der Spitze Leute stehen, die eben noch für sich in Anspruch nahmen, der Garant für Seriosität und Verlässlichkeit zu sein.
Dass Sozialdemokraten nicht mit dem Geld auskommen, das sie anderen abnehmen: geschenkt. Das ist bekannt. Aber dass auch auf Konservative kein Verlass mehr ist, das könnte der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.
© Silke Werzinger
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