Mehr als ein Viertel der Neuntklässler kann nicht richtig lesen, 30 Prozent können kaum rechnen. Was ist die Antwort der Bildungsreformer? Gymnasium abschaffen und Noten verbieten, damit sich der Mangel gerechter verteilt. Halleluja
Der „Spiegel“ hat sich neulich in einem Leitartikel mit Wegen aus der Bildungsmisere befasst. „Spiegel“-Leser sind, so wie „FOCUS“-Leser auch, überdurchschnittlich gebildet, das sagt jedenfalls die Marktforschung. Der Anteil, der über Abitur oder Hochschulstudium verfügt, ist unter ihnen besonders hoch, weshalb Bildungsthemen hier in der Regel auf großes Interesse stoßen.
Was empfahl nun der „Spiegel“? Mehr Geld für die Schulen, bessere pädagogische Konzepte, andere Lehrpläne? Nein, das Gymnasium müsse weg!
Das Gymnasium sei eine Bildungsoase, die sich eine privilegierte Elite geschaffen habe, um sich selbst zu reproduzieren und nach unten abzugrenzen. Dieses Prinzip sei pädagogisch aus der Zeit gefallen, die frühzeitige Auslese sozial ungerecht. „Das Gymnasium muss abgeschafft werden, zum Wohl aller Kinder, aus gesellschaftlicher Verantwortung. Allen Widerständen zum Trotz.“
Auch schräge Ideen haben ihren Platz im Journalismus. Bei dem Aufruf handelte es sich allerdings nicht um eine abseitige Minderheitenmeinung. Leitartikel geben eine Auffassung wieder, hinter der sich die Chefredaktion und große Teile der allgemeinen Redaktion versammeln können. Deswegen heißen sie ja Leitartikel.
Das ist die Antwort in einem führenden Presseorgan des Landes auf die deutsche Bildungskatastrophe: Wir hören auf, Unterschiede zwischen Begabten und weniger Begabten zu machen, weil das unsozial ist und die weniger Begabten diskriminiert. Eine andere Antwort lautet: Wir senken die Standards. Warum junge Menschen mit Anforderungen quälen, von denen wir wissen, dass sie diese ohnehin nicht erfüllen werden? Also weg mit den Tests und den Noten gleich obendrein.
Dass Deutschland, also das Land, von dem es immer heißt, dass sein wichtigster Rohstoff der zwischen den Ohren sei, bei Bildungstests zulegt, diese Hoffnung haben wir vor langer Zeit aufgegeben. Wir verfügen weiterhin über keine nennenswerten Rohstoffe außer Bildung, aber irgendwie haben wir uns davon überzeugt, dass es nichts ausmacht, wenn Generation auf Generation dümmer wird.
Wie dumm deutsche Schüler sind, haben wir gerade wieder schwarz auf weiß bekommen. Mehr als ein Viertel der 15-Jährigen hat auch nach neun Jahren Unterricht große Mühe, einen geraden Satz zu schreiben. Jeder Dritte scheitert an einfachen Rechenaufgaben. Gut, auf der Habenseite steht, dass alle wissen, wie man auf TikTok ein Video hochlädt und sich bei Instagram vorteilhaft in Szene setzt. Aber ob das reicht, eine entwickelte Volkswirtschaft wie die unsere am Laufen zu halten? Da haben selbst die sonnigsten Ökonomen ihre Zweifel.
Man mag es kaum glauben, aber das deutsche Schulsystem galt einmal als das Beste der Welt. Überall kopierte man es, mit dem Kindergarten als Einstieg und dem Gymnasium als Kernstück. Die großen amerikanischen Universitäten, auf die heute viele mit großen Augen schauen, haben sich am Ideal des Universalgenies Wilhelm von Humboldt ausgerichtet, der im kriegsversehrten Berlin 1809 in rascher Folge das durchgängige Schuljahr, den Stundenplan und das Abitur einführte. 170 Jahre ging das gut. Dann kamen die rot-grünen Bildungsreformer und machten sich daran, ihre Vorstellung von Gerechtigkeit zu verwirklichen. Seitdem geht es bergab.
Selbst in Baden-Württemberg, das über Jahrzehnte dem Trend trotzte und so etwas wie den Goldstandard schulischer Exzellenz bildete, haben sich die Dinge zum Schlechten gewendet. Man kann sogar ziemlich genau sagen, wann die Dinge ins Rutschen gerieten. Der Kipppunkt fällt mit der Amtsübernahme von Winfried Kretschmann als Ministerpräsident zusammen. So sehr ich den knurrigen alten Mann der Grünen schätze: Gegen die Ideologen in seiner Partei konnte auch er nichts ausrichten.
Für manches kann die Schule nichts. Wenn zur Einschulung 400000 Kinder die Schule betreten, die noch nie ein Buch von innen gesehen haben, ist selbst die engagierteste Lehrerschaft überfordert. Als Wirtschaftswissenschaftler würde man von einem exogenen Schock reden. Es mag niemand so deutlich aussprechen, aber das Bildungsversagen ist auch ein Migrationsversagen. Kinder aus Einwandererfamilien haben im Schnitt einen Rückstand von einem Schuljahr. Da fast 40 Prozent aller 15-Jährigen aus Zuwandererfamilien stammen, macht das viel aus.
Die muslimische Kultur tut sich nicht durch Wertschätzung des Buches hervor. Deshalb sind muslimische Schulen im Gegensatz zu katholischen, jüdischen oder evangelischen auch nicht wirklich wettbewerbsfähig. Das verstehe ich. Weshalb allerdings schon neunjährige Knirpse ihre Grundschullehrerin mit Unflätigkeiten überziehen, ist mir ein Rätsel – warum das offenbar zu Hause toleriert wird, ein noch größeres.
Jetzt heißt es, man müsse das System gerechter machen. Nirgendwo hänge der Bildungserfolg so sehr vom Elternhaus ab wie in Deutschland. Der Befund an sich stimmt.
Bei Schulleistungsstudien werden Schüler immer wieder danach gefragt, wie viele Bücher bei ihnen Zuhause stehen. Es gibt dabei fünf Kategorien zur Auswahl, angefangen bei „weniger als ein Regalbrett“ bis zu „ein ganzes Bücherregal“. Welchen Einfluss der Bildungshintergrund der Eltern ausübt, hat selbst die Forscher überrascht. Wer in einem Haushalt mit Bücherwand aufwächst, liegt bei Leistungstests Lichtjahre vor dem Kind aus der bücherlosen Welt.
Die Frage, die allerdings so gut wie nie gestellt wird: Was hält Eltern eigentlich davon ab, ihren Kindern abends vorzulesen? Auch der Einwanderer aus dem Libanon sollte wissen, dass es besser ist, die Kinder nicht einfach vor die Glotze zu setzen. Ich sehne mich am Ende eines langen Tages ebenfalls nach Ruhe. Aber wenn meine Tochter mich bittet, ihr Ronja Räubertochter vorzulesen, sage ich doch auch nicht: „Papa ist zu müde. Schauen wir mal, was RTL so zu bieten hat.“
Der größte Fehler der Bildungspolitik ist es, so zu tun, als ob an allem das System schuld sei. Das ist ja die Botschaft linker Reformer: Es liegt am System, wenn Mandy, Jeremy und Ahmed versagen. Deshalb wird ständig am System herumgedoktert, statt darüber nachzudenken, wie man Wissen so vermittelt, dass auch Kinder ohne Bücherwand mitkommen.
Die Empfehlung von links lautet seit 50 Jahren: Gesamtschule. Wenn nur endlich alle gemeinsam in einer Klasse sitzen, werde sich alles zum Guten wenden, weil Mandy dann vom Johann lerne, wie man den Dreisatz richtig bildet. Auch dazu gibt es übrigens Forschung. Tatsächlich tritt das Gegenteil ein: Je klarer Mandy vor Augen geführt wird, dass Johann ihr immer voraus sein wird, desto stiller wird sie werden. Experten nennen das den Fischteicheffekt. Wenn Schüler das Gefühl haben, dass die anderen ihnen weit enteilt sind, strengen sie sich nicht an, zu ihnen aufzuschließen, sondern geben auf.
Das gilt übrigens auch für Hochbegabte. Der gemeinsame Unterricht mit Kindern, die deutlich langsamer sind, lässt ihren Elan verkümmern. Sie langweilen sich, schalten ab und machen Unsinn. Dennoch hält sich bis heute die Mär, dass man vorne an die Schule nur das Schild „Gemeinschaftsschule“ anbringen müsse, damit Deutschland wieder PISA-Sieger wird.
Wie die Zukunft aussieht, wenn die Politik die Dinge weiter schleifen lässt? Es wird sich ein neues dreigliedriges Schulsystem herausbilden, aber ganz anders, als sich das viele vorstellen. Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind auf eine Privatschule. Wo die Sozialstruktur so ist, dass man sein Kind auf die Sprengelschule geben kann, floriert auch die Sprengelschule. Der Rest, der sich weder Privatschule noch eine Gegend leisten kann, in der auch der Migrant drei Sprachen spricht, findet sich auf der Gemeinschaftsschule wieder.
Nichts gegen die Gemeinschaftsschule, immerhin sind die Kinder von der Straße. Man darf nur nicht erwarten, dass sie mit Erreichen der sogenannten Hochschulreife Rechtschreibung und Zeichensetzung beherrschen.
© Silke Werzinger
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