Der Glaube, dass Künstler besonders sensible und weitsichtige Menschen seien, hält sich bis heute. Dabei ist es möglicherweise genau andersherum: Gerade weil sie politisch eher naiv sind, stechen sie als Regisseure und Autoren besonders hervor
In schwachen Momenten denke ich, wir brauchen mehr Kulturbanausen in der Regierung. Nicht dauerhaft, nein. Nur so lange, bis all die Subventionskünstler, die mit dem Geld der Steuerzahler ihre politischen Projektwerkstätten betreiben, gezwungen sind, sich über den Verkauf ihrer Kunst selbst zu finanzieren.
Ich weiß, das ist kindisch. Aber manchmal kann ich nicht anders. Dann erfasst mich beim Blick ins Feuilleton ein solcher Ingrimm, dass kurz der Verstand aussetzt und ich ein Stoßgebet zum Himmel sende, der liebe Herrgott möge für einen Tag nicht Claudia Roth, sondern Alice Weidel zu unserer Kulturstaatsministerin bestimmen, auf dass alle Fördertöpfe sofort versiegen.
Am Wochenende war es wieder so weit. In der „Süddeutschen Zeitung“ las ich eine Aufarbeitung des Berlinale-Debakels. Dabei ging es auch um den israelischen Schauspieler David Cunio, der am 7. Oktober zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern von der Hamas nach Gaza verschleppt wurde.
Vor zehn Jahren war Cunio selbst ein kleiner Star auf der Berlinale gewesen. Sein Film „Youth“ gehörte zu den Beiträgen, die viel Lob bekamen. Es hätte also Grund genug gegeben, an sein Schicksal zu erinnern, zumal das Festival sich regelmäßig mit eindringlichen Appellen zu Wort meldet, wenn Filmleute in Gefangenschaft geraten. Aber in diesem Fall: kein Wort.
Cunio war nicht einfach vergessen worden. Man hatte seinen Namen bewusst gecancelt, wie die Recherche der „Süddeutschen“ ergab. Mehrere Kollegen hatten sich im Vorfeld mit Mails an die Festivalleitung gewandt. Auch an Kulturstaatsministerin Claudia Roth und den Berliner Bürgermeister Kai Wegner waren flehentliche Bitten ergangen, die Erinnerung an den entführten Schauspieler wachzuhalten. Aber die Mails blieben sämtlich unbeantwortet. „Keine Antwort, keine Erklärung, nur Schweigen“, lautete das traurige Fazit.
Stattdessen dann der Aufritt der Filmemacher, die Israel in die Nähe von Nazi-Deutschland rückten. Wer dachte, das sei ein bedauerliches Missgeschick gewesen, eine Entgleisung, wie sie halt passieren kann, der sah sich nach Lektüre der „Süddeutschen“ eines Besseren belehrt. Die Solidarisierung mit der Hamas war gewollt.
Dass Künstler besonders sensible oder weitsichtige oder kluge Menschen seien, gehörte immer schon ins Reich der Fabel. Möglicherweise verhält es sich genau andersherum: Gerade weil sie politisch besonders naiv sind, stechen sie als Schauspieler oder Schriftsteller hervor. Schon der Schulbuchautor Heinrich Böll, der die Stelle des engagierten Künstlers in Deutschland begründete, war ein eher einfältiger Mensch.
Ihn als „steindumm“ und völlig „talentfrei“ zu bezeichnen, wie das Eckhard Henscheid tat, schießt möglicherweise über das Ziel hinaus. Aber dass heute jede Links-Amsel in „brennender Sorge“ in offenen Briefen ihre Stimme erhebt beziehungsweise Haltung und Gesicht zeigt, hängt auch mit dem von Böll pionierten Petitionswesen zusammen.
Was macht den politischen Künstler? Dass er klatscht, sobald andere auch klatschen. Kaum irgendwo ist das Anlehnungsbedürfnis kurioserweise so groß wie bei den sogenannten Kulturschaffenden, die sich auf ihre Aufsässigkeit und Widerständigkeit so viel einbilden. So war es ja auch auf der Berlinale. Wenn der ganze Saal applaudiert, möchte man nicht derjenige sein, der Buh ruft. Dann könnten alle komisch gucken!
Anfang der Woche machte ein Video die Runde, in dem eine Reihe von Schauspielern, angeführt von den „Tatort“-Kommissaren Dietmar Bär und Annette Frier, ihre Abneigung gegen rechts bekundeten, indem sie sich von dem Stuhl erhoben, auf dem sie zuvor Platz genommen hatten. „Wir stehen auf“, nannten die Beteiligten die Aktion, womit der Protest endgültig zur reinen Pose geronnen war.
Die Kulturaufseher können pingelig sein, so ist es nicht. Gerade erst haben die Grünen über ihre Kulturstaatsministerin eine neue Richtlinie zur Filmförderung verankert, in der nicht nur festgelegt ist, wie hoch am Set der Altpapieranteil beim Toilettenpapier sein muss (90 Prozent). Es gibt jetzt auch Vorgaben zu Übernachtungen (die Hälfte der Buchungen nur in Hotels „mit ausgewiesenem Umweltmaßnahmen“), zum Catering (an mindestens einem Tag pro Woche muss das Essensangebot rein vegetarisch sein) und zur Materialnutzung (Einwegbatterien? Streng verboten, „sowohl am Set als auch in den Produktionsbüros“).
Das Regelwerk ist so umfangreich geraten, dass es einen eigenen „Green Consultant“ braucht, weil bei Verstoß der sofortige Entzug der Fördermittel droht. Selbstverständlich wird auch genau darauf geachtet, dass es beim Dreh divers, geschlechtergerecht und inklusiv zugeht. Entsprechendes findet sich in den Vorgaben zur „sozialen Nachhaltigkeit“. Nur der Antisemitismus ist irgendwie unter den Tisch gefallen. Aber da will man jetzt nacharbeiten, wie die Grünen versprechen.
Hat Claudia Roth etwas für Antisemitismus übrig? Das glaube ich nicht. Ich habe sie ein paarmal getroffen, als ich noch in Berlin-Charlottenburg lebte. Wir hatten dasselbe Lieblingsrestaurant, das Adnan in der Schlüterstraße. Dass sie sich in der Politik ihre Fröhlichkeit erhalten hat, das hat mich immer für sie eingenommen. Leider hat bei ihr auch eine grenzenlose Naivität überlebt. Im Prinzip möchte sie mit allen Menschen gut Freund sein. Wenn ihr der iranische Außenminister ein High Five anbietet, schlägt sie genau so begeistert ein wie beim sudanesischen Friedensaktivisten.
Ich bin sicher, Roth hatte gedacht, das Amt als Kulturstaatsministerin sei das schönste Amt der Welt. Jedes Jahr 2,3 Milliarden Euro über den Kulturbetrieb ausschütten: ein Traumjob. Dass er sich mehr und mehr zum Albtraum entwickelt, liegt daran, dass die Szene durchsetzt ist von Antisemiten und Hardcore-Palästina-Fans. Wobei: Das Wort „Antisemitismus“ können wir streichen. Israel ist nur die Chiffre für alles, was diese Leute am Westen insgesamt hassen, von der Geschichte bis zu den Werten.
Ich habe mich neulich länger mit dem Intendanten einer großen deutschen Bühne unterhalten. Ich nenne seinen Namen lieber nicht, auch nicht das Haus, an dem er arbeitet. Der Mann hat schon so Schwierigkeiten genug. Sagen wir einfach, er steht einer bekannten Spielstätte im süddeutschen Raum vor.
Ich dachte immer, Theaterarbeit sei etwa Kreatives, manchmal auch Anarchisches. Mir war nicht klar, wie eng und verstellt diese Welt ist. Jede Probe ist ein Eiertanz, weil man ständig darauf achten muss, niemandem auf die Füße zu treten. Ein unbedachtes Wort und man ist in Teufels Küche.
Ein Problem dieser vorbildlichen Kunst ist, dass man das Publikum zum Besuch nicht zwangsverpflichten kann. Aber auch dafür hat man eine Lösung gefunden. Man verlangt einfach höhere Subventionen. Was an Einnahmen beim Ticketverkauf wegfällt, wird durch höhere Staatsgelder wettgemacht.
Die Münchner Kammerspiele, einst das prestigeträchtigste Haus am Platz, haben es in der vergangenen Spielzeit fertiggebracht, die Auslastung auf unter 60 Prozent zu drücken. Bei einigen Produktionen waren nicht einmal die ersten zehn Reihen besetzt. 1,2 Millionen Euro betrug der Fehlbetrag für 2022, mit einer weiteren Million rechnete man fürs vergangene Jahr.
Dass es nicht noch schlimmer kam, war dem Singspiel „A scheene Leich“ von Gerhard Polt zu verdanken, einem Publikumserfolg, für den man sich in der Intendanz entsprechend schämte: zu wenig feministisch, zu wenig queer und überhaupt zu eingängig. Als Polt während der Proben einen indischen Pfarrer parodierte, meldete die Dramaturgie sofort Bedenken an. Wegen Rassismus.
Bringt der Auszug der Zuschauer aus den Kammerspielen die Intendantin dazu, ihr Programm zu überdenken? Selbstverständlich nicht. München ist reich, die Taschen der Stadt sind tief. Und wenn alles nichts hilft, dann kann man immer noch die Antifa-Karte spielen. Jetzt erst recht, lautet das Motto. Jetzt erst recht aufstehen gegen Rassismus und Fremdenhass.
So ist es auch bei der Berlinale. Auf die 12 Millionen Euro aus dem Kanzleramt will man auf keinen Fall verzichten. „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles“, heißt es schon im „Faust“.
© Sören Kunz