Kleine Paschas

65 Prozent der Schulleiter berichten von Fällen, in denen Lehrkräfte von Schülern bedroht, beleidigt oder gemobbt wurden. 35 Prozent melden körperliche Angriffe. Was geschieht an deutschen Schulen?

In einem Text über die Bergius-Schule in Berlin-
Friedenau bin ich an einem Satz hängen geblieben, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Die Bergius-
Schule hat es zu überregionaler Bekanntheit gebracht, seit sich das Lehrerkollegium in einem Brandbrief an die Schulaufsicht wandte.

Wie die Lehrer es schilderten, vergeht kein Tag ohne Beleidigungen und Bedrohungen. Auf dem Schulhof werden Böller gezündet und sowohl Schüler als auch Pausenaufsicht mit gefüllten Wasserflaschen beworfen. Regelmäßig muss die Polizei erscheinen, um die Lage zu beruhigen. Nach Bekanntwerden des Briefes machte ein Vorfall die Runde, bei dem sich ein Siebtklässler vor Jugendlichen, die ihn mit Messern und Schlagringen verfolgten, in einen angrenzenden Supermarkt flüchtete.

Zu den großen Defiziten der Schule gehöre die mangelnde Kooperation der Eltern, lautete der Satz, der mir in einer der Reportagen, die sich an den Lehrerbrief anschlossen, auffiel. Er habe Elternabende mit drei Teilnehmern erlebt, wurde ein Elternvertreter zitiert.

Ich habe mich dann an ein Gespräch erinnert, das ich vor einem halben Jahr mit einem Bekannten führte, der seine Kinder auf einem Gymnasium in Ottobrunn, einem sozial ebenfalls eher heterogenen Vorort von München, hat. Dort bietet sich ein ähnliches Bild: Die deutschen Eltern erscheinen fast alle zum Elternabend, um sich mit den Lehrkräften über den Schulalltag auszutauschen. Von den Eltern, die über einen sogenannten Migrationshintergrund verfügen, ist weit und breit nichts zu sehen.

Was ist da los? Ist es ihnen egal, wie ihre Kinder abschneiden? Haben Sie keine Zeit, den Elternabend zu besuchen? Sind sie verhindert?

Eigenartigerweise wird so gut wie nie über die Eltern gesprochen, wenn es um die deutsche Bildungsmisere geht. Wenn ein deutsches Elternpaar kein Interesse am Fortkommen seiner Kinder zeigt, löst das kritische Nachfragen aus. Wenn ein türkisches oder arabisches Elternpaar unsichtbar bleibt, wird darüber vornehm hinweggesehen. Oder es heißt entschuldigend: „Die haben sicher andere Probleme.“ Doch welche Probleme könnten das sein?

Die Befunde zum Bildungsstand sind verheerend. Bei den Pisa-Ergebnissen liegt Deutschland inzwischen eher auf dem Niveau eines Dritte-Welt-Landes als auf dem einer entwickelten Industrienation. Ein Viertel der Schüler kann 
auch nach Abschluss der neunten Klasse keinen geraden deutschen Satz schreiben. Jeder Dritte versagt beim Lösen einfacher Mathematikaufgaben.

Auf der Suche nach einer Erklärung, landet man schnell bei der sich verändernden Zusammensetzung der Schülerschaft. 40 Prozent der Kinder kommen heute aus Migrantenfamilien. In Kita und Schule sind wir das Einwanderungsland Nummer eins unter den OECD-Nationen, wie es der Bildungsredakteur der „Zeit“, Martin Spiewak, in einem aufschlussreichen Report über die pädagogische Ratlosig­keit angesichts der Vielfalt im Klassenzimmer festhielt. ­Leider ziehen wir daraus bis heute keine Schlüsse für den Bildungsauftrag. Wir tun einfach so, als ob alles so laufen würde wie vor 20 Jahren, als das deutsche Gymnasium noch der Goldstandard war.

Gibt es hervorragend ausgebildete Ärzte und Ingenieure, deren Eltern aus der Türkei, dem Libanon oder Syrien stammen? Natürlich gibt es die. Das Problem ist nur: Der Anteil ist gemessen am Bevölkerungsanteil viel zu gering.

Es sind in der Regel auch die Mädchen, die Karriere machen, nicht die Jungen. Ich sehe das Geschlechtergefälle in meinem Beruf. Im Journalismus setzen sich immer mehr Migrantenkinder durch, sie gewinnen Preise und besetzen Ressortleiterposten. Aber sie heißen so gut wie nie Omar oder Mustafa, sondern fast ausschließlich Fatma, Özlem und Ferda.

Woran das liegt? Ich würde vermuten 
am Elternhaus. Man soll ja nicht von „kleinen Paschas“ reden. Nennen wir sie deshalb „kleine Prinzchen“. Wenn ein 
Junge merkt, dass man ihm alles durchgehen lässt, weil er ein Junge ist, erlahmt die Leistungsbereitschaft. Wie soll es anders sein? Selbstverständlich sind es 
auch nie die Mädchen, sondern fast im
mer die Jungen, die wie an der Bergius-Schule über Tische und Bänke gehen.

Migration ist nicht gleich Migration, auch das gehört zum Bild. Mein Sohn hat vier Jahre die Sinai-Grundschule 
in München besucht. In seiner Jahrgangsstufe waren Kinder aus Russland, der Ukraine, Israel, den Niederlanden. Schüler ohne Migrationshintergrund sind die Ausnahme. Ein Mädchen tut sich bis heute mit dem Lesen schwer, sie hat Legasthenie. Alle andern haben selbstverständlich keine Probleme beim Diktat. Auch Futur 1 und Futur 2 bilden sie mühelos.

Sind die Klassenkameraden meines Sohnes intelligenter als ihre muslimischen Altersgenossen? Das glaube ich nicht. Wenn die Lehrerin zum Elternabend bittet, sind alle da, auch die Eltern der Kinder, die orthodox aufwachsen. Selbstverständlich achtet jeder darauf, dass die Hausaufgaben erledigt sind und die Kleinen nicht den ganzen Tag ihre Köpfe über das iPad beugen.

Man zeige mir eine einzige muslimische Grundschule in Deutschland, deren Schüler regelmäßig bei Leistungswettbewerben unter den Top-zehn-Prozent landen, und ich schweige forthin für immer.
Alle wissen, dass es wahr ist. Deshalb setzt ja zum Beginn des Schuljahres in vielen Großstädten auch eine stille Völkerwanderung aus Vierteln ein, in denen der Migrantenanteil besonders hoch 
ist. Nicht weil die Eltern von Finn und 
Louisa nicht wollen, dass ihr Sohn 
oder ihre Tochter neben Omar und 
Fatima sitzen. Sondern weil sie genau wissen, dass ihr Sohn oder ihre Tochter erhebliche Nachteile erleiden, wenn die Hälfte der Klasse aus Kindern besteht, die 
auch nach Abschluss der vierten Klasse kaum lesen und schreiben können.

Vor zwei Wochen hat das Bildungsministerium in Nordrhein-Westfalen einen Leitfaden herausgegeben, wie sich Lehrer bei Attacken zu Wehr setzen können. Es ist ein Dokument der Kapitulation. „Entfernen Sie sich aus der Gefahrenzone“, lautet ein Ratschlag. „Verlassen Sie das Gesichtsfeld des Angreifers, vermeiden Sie jede Eskalation.“

Wie bei der Gelegenheit zu erfahren war, berichten 65 Prozent der Schulleiter von Fällen, in denen Lehrkräfte bedroht, beleidigt oder gemobbt wurden. 35 Prozent melden körperliche Angriffe. Das sind irre Zahlen. Man sollte meinen, dass sie die Schlagzeilen dominieren, aber niemand scheint Notiz zu nehmen.

Ich habe die Osterferien wie jedes Jahr in Marokko verbracht. Was mir immer auffällt, wenn ich dort bin: wie höflich die Kinder sind. Hier käme kein 14-Jähriger auf die Idee, sich gegenüber einer Lehrkraft unziemlich zu verhalten oder gar die Hand gegen sie zu erheben. Und wenn er es tut, dann weiß er, was ihm blüht.

Was also ist zu tun? Der Bildungsredakteur Spiewak verweist auf Hamburg, wo man den Lehrplan angepasst hat. Deutsch wird jeden Tag in Gruppen geübt, im Chor, zu zweit, allein still vor sich hin. Deutsch ist nicht alles, aber ohne Deutschkenntnisse ist alles nichts.

Vermutlich müssen wir auch dazu kommen, dass man die Eltern stärker in die Pflicht nimmt. Wer nicht zum Elternabend erscheint, erhält eine Aufforderung von der Schule. Wer darauf nicht reagiert, bekommt Besuch vom Schulleiter. Und dort, wo ein Jugendlicher seine ­Lehrer bedroht hat, schaut die Polizei vorbei. Gefährder­ansprache nennt man das im Polizeijargon.

Die kleine Völkerwanderung, die sich jedes Jahr zum Schulbeginn in deutschen Großstädten vollzieht, gibt es mittlerweile auch im größeren Maßstab. 276 000 Bürger haben im vergangenen Jahr Deutschland den Rücken gekehrt, weil sie ­fanden, dass der Staat zu wenig bietet für das Geld, das er einem abnimmt.

Wir sollten Sorge tragen, dass sich der Trend nicht beschleunigt. Es sind nämlich in der Regel nicht die Müh­seligen und Beladenen, die das Land verlassen, sondern die Cleveren und Gutausgebildeten.

© Michael Szyszka

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