»Seht euch vor!«

In Deutschland kann man Juden nicht mit Waffengewalt außer Landes treiben. Aber man kann ihnen das Leben so schwer machen, dass sie freiwillig gehen. Das ist das Ziel der Leute, die jede Woche Hassgesänge anstimmen

Mein Sohn hat vier Jahre die Sinai-Grundschule in München besucht. Wenn Sie sich fragen, weshalb der Bub auf einer jüdischen Schule gelandet ist: Wir brauchten eine Ganztagsschule, und von denen gibt es im Umland von München nicht so viele. Dann fragte mich eine Freundin, ob ich schon mal über die Sinai-Grundschule nachgedacht hätte, die könne sie sehr empfehlen.

Wir haben die Entscheidung nie bereut. Es gibt durch die Bank großartige, den Kindern zugewandte Lehrer. Keine Klasse hat mehr als 20 Schüler. Und die Klassengemeinschaft ist so, wie man sich eine Klassengemeinschaft wünscht. Ich habe nicht nachgefragt, wie viele der Mitschüler nicht jüdischen Glaubens sind, aber es hat auch nie eine Rolle gespielt.

Es gibt ein paar Besonderheiten, das muss man wissen. Die Kinder lernen von der ersten Klasse an außer Deutsch und Englisch Hebräisch. Zweimal am Tag wird gebetet, die Jungs mit Kippa, und das Essen ist selbstverständlich koscher.

Ach so, noch eine Sache unterscheidet sich von jeder anderen Schule in Deutschland: Der Schulbesuch ist nur unter Polizeischutz möglich.

Schon vor dem 7. Oktober 2023, dem Tag, an dem die Hamas Israel den Krieg erklärte, stand immer ein Polizeiwagen in Sichtweite. Seitdem wurden die Sicherheitsvorkehrungen noch einmal deutlich erhöht. Wenn die Kinder einen Ausflug machen, und sei es nur zu einem Museumsbesuch oder einem Sportfest, sind bewaffnete Sicherheitsleute dabei. Als es im Herbst auf das Oktoberfest gehen sollte, wurde der Klassenausflug kurzfristig abgesagt: Zu gefährlich, hieß es. Zweimal im Jahr wird der Ernstfall geprobt. Dann lernen die Kinder, sich zu verstecken.

Es ist viel über die schwierige Lage der Muslime die Rede. Aber ich glaube, es gibt kein einziges muslimisches Kind in Deutschland, das die Schule nur unter Aufsicht von Polizisten mit Maschinenpistole im Arm betreten kann – und das aus einem einzigen Grund: weil es muslimisch ist.

Es sind übrigens auch nicht irgendwelche Glatzen, vor denen man sich vorsieht, oder die AfD. Es sind die Leute, die auf deutschen Straßen ungehindert ihren Hass auf Israel und die Juden herausplärren dürfen und von denen man nicht weiß, ob nicht der eine oder andere auf die Idee kommt, den Worten auch Taten folgen zu lassen.

Ich schildere das so genau, weil ich manchmal den Eindruck habe, dass vielen nicht klar ist, welche Folgen es hat, wenn man alles an Israelhass zulässt. Ich bin normalerweise vorsichtig, von Worten auf Taten zu schließen. Aber es wäre weltfremd anzunehmen, dass es keinen Einfluss hat, wenn der Vorsitzende der Linkspartei die Israelis als „Hungermörder“ bezeichnet und dem Land die Durchführung eines „Genozids“ unterstellt wird.

Manche mögen einwenden, dass sich die Kritik ja gegen Israel richte und nicht gegen die hier lebenden Juden. Dummerweise wird der Unterschied im Alltag oft nicht näher beachtet.

Deshalb sind die antisemitischen Straftaten auf einem Rekordhoch. Und deshalb findet die Besatzung eines spanischen Ferienfliegers auch nichts dabei, die Teilnehmer eines jüdischen Ferienlagers als Repräsentanten eines Terrorstaates zu identifizieren und aus dem Flugzeug zu werfen. Wo wir schon dabei sind: Begeht Israel einen Völkermord in Gaza? Der amerikanische Journalist Bret Stephens hat dazu in einem sehr lesenswerten Kommentar in der „New York Times“ das Nötige gesagt.

Gesetzt den Fall, Israel wollte das palästinensische Volk vernichten – und das ist die UN-Definition eines Genozids: die Auslöschung einer Volksgruppe aufgrund ihrer religiösen oder ethnischen Zusammensetzung –, warum ist die Zahl der Toten nicht höher, fragt Stephens. Die Möglichkeit, Gaza dem Erdboden gleichzumachen, hätten die Israelis. Wer wollte sie hindern? Aber statt alles Leben zu beseitigen, halten sie sich mit Verhandlungen über Hilfslieferungen auf.

Dass man links der Mitte so versessen darauf ist, das Wort Genozid zu benutzen, hat einen einfachen Grund. Man will endlich gleichziehen. Es ist eine irre Pointe, dass die linken Enkel vollenden, wovon ihr Wehrmachtsopa immer geträumt hat, die Befreiung Deutschlands vom „Schuldkult“. Darum geht es ja in Wahrheit: Israel und Nazideutschland auf eine Stufe stellen, um endlich wieder fröhlich heraus sagen zu können, was man von den Juden hält.

Im Augenblick wird darüber gestritten, ob die Bundesregierung eine Erklärung unterschreiben soll, in der Israel als Aggressor markiert wird. Im Prinzip kann uns das egal sein. Wenn der Kanzler seine Ohnmacht demonstrieren will, indem er seinen Namen unter einen Appell setzt, der völlig folgenlos bleiben wird – soll er es tun. Ich bin dennoch dagegen, weil die Unterschrift eine Auswirkung hätte: Sie würde das Leben der hier lebenden Juden weiter verschlechtern.

Die Unterschrift ist eine Trophäe. Sie wird von den Leuten als Bestätigung gesehen werden, die Israel als Terrorstaat bezeichnen. Deshalb sind sie so dahinter her, dass auch der Name von Friedrich Merz unter der Erklärung steht.

Ich glaube, den meisten Bundesbürgern ist nicht bewusst, dass sich nach wie vor sechs deutsche Geiseln in den Händen der Hamas befinden. Wer wollte es ihnen verdenken? Es ist ja auch so gut wie nie von den Geiseln die Rede. Sie kommen weder in den Ansprachen des Bundeskanzlers vor noch in Berichten aus dem Kriegsgebiet.

Sie heißen Alon Ohel, Itay Chen, Gali und Ziv Berman, Rom Braslavski, Tamir Nimrodi. Kennt Herr Wadephul ihre Nahmen? Sind sie den Diplomaten im Auswärtigen Amt bekannt, von denen es heißt, sie wollten eine entschiedenere Verurteilung Israels?

Vor zwei Wochen haben sie vor der Schule meines Sohnes demonstriert. Weil die Stadt nicht aufgepasst hatte, führte der Weg des Bündnisses „Palästina Spricht“ an der Synagoge vorbei, die neben der Schule liegt. Auf der Demo trat ein Genosse Aboud auf, der erst alle Synagogenbesucher als „Faschistenfreunde“ bezeichnete und dann die Berichte über das Leid der Geiseln als „Lüge“. Selbstverständlich war die Route von den Demonstranten nicht zufällig gewählt, so wie es auch kein Zufall war, dass die Demo pünktlich zum Freitagsgebet stattfand.

Weil wir in München sind und nicht in Berlin, fanden sich sofort Münchner Bürger ein, um sich schützend vor das Gebetshaus zu stellen. Aber die Botschaft der Demonstranten war klar. Seht euch vor! Niemand ist sicher, nicht mal am Münchner Sankt-Jakobs-Platz.

Es geht um Einschüchterung, das ist das Ziel. In Deutschland kann man Juden nicht mit Waffen außer Landes treiben. Aber man kann ihnen das Leben so schwer machen, dass sie freiwillig gehen.

Manche Menschen werfen mir vor, nicht unbefangen zu sein. Das stimmt. Was das Existenzrecht der Juden in Deutschland angeht, bin ich nicht unbefangen. Ich glaube allerdings, das hat weniger mit der Tatsache zu tun, dass mein Sohn eine jüdische Schule besucht, sondern eher mit meiner sozialdemokratischen Erziehung.

Wenn es etwas gab, was mir von klein auf beigebracht wurde, dann, dass Deutschland dafür Sorge zu tragen hat, dass jüdische Menschen bei uns nie wieder Angst um ihr Leben haben müssen. Nennen Sie mich einen unverbesserlichen Linken, aber das gilt für mich bis heute.

© Sören Kunz

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