Schlagwort: Afghanistan

Der Fluch der Phrase

Die Taliban haben eine „inklusive Regierung“ angekündigt. Wenn es sein muss, gendern sie sogar. Das Bekenntnis zu Vielfalt und Inklusion bedeutet ja nicht, dass man auf Auspeitschungen und Enthauptungen verzichten muss

Fangen wir mit den guten Nachrichten an. Auch die Taliban möchten jetzt zur Weltgemeinschaft gehören.

Wenn nicht noch etwas Überraschendes passiert, werden sie den Sitz in der Unesco einnehmen, der UN-Organisation, die für die Bewahrung des Weltkulturerbes zuständig ist. Die Aufnahme in den Sozial- und Wirtschaftsrat der Vereinten Nationen steht ebenfalls kurz bevor. Der Sozial- und Wirtschaftsrat ist das UN-Gremium, das „Menschen und Themen zusammenbringt, um gemeinsames Handeln für eine nachhaltige Welt zu fördern“, wie es auf dessen Webseite heißt.

Sie schütteln den Kopf? Ausgerechnet die Leute, die tausend Jahre alte Buddhastatuen in die Luft sprengen, als Unesco-Mitglied? Die größten Frauenfeinde als Hüter von Menschen- und Kinderrechten? Wir wollen nicht vorschnell urteilen! Der koloniale Blick auf die islamische Welt zeugt von Hochmut, wie wir wissen. Außerdem: In einer der ersten Erklärungen haben die neuen Machthaber in Kabul die Bildung einer „inklusiven Regierung“ angekündigt. Und ist es nicht das, was uns besonders am Herzen liegt: die Inklusion?

Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch die Taliban den Bogen raushaben und so reden, als hätten sie vor der Erstürmung des Präsidentenpalastes schnell noch ein Diversity-Training belegt. Ich bin sicher: Wenn es sein muss, gendern sie sogar. Dass sich dadurch an ihren Praktiken nichts ändert, steht auf einem anderen Blatt. Das Bekenntnis zu Vielfalt und Inklusion bedeutet ja nicht, dass man auf Auspeitschungen und Enthauptungen verzichten muss. Genderstern und Scharia gehen wunderbar Hand in Hand, wie wir möglicherweise schon bald sehen werden.

Allenthalben herrscht nun Händeringen, wie man sich bei der Einschätzung der Lage in Afghanistan so vertun konnte. Die Erklärung ist relativ einfach, würde ich sagen: Wer den lieben langen Tag von der Stärkung der Zivilgesellschaft redet, von nachhaltigen Entwicklungszielen, vernetzten Ansätzen und gendersensiblen Konzeptionen, der hält Fortschritt für etwas Unausweichliches. Das ist der Fluch der Phrase: Irgendwann verwechselt man das, was man daher- und dahinplappert, mit der Wirklichkeit.

Wenn man heute liest, wie Heiko Maas den Taliban erklärt, dass sie verstehen müssten, dass die Konflikte in Afghanistan nur politisch und nicht militärisch gelöst werden könnten, lacht man sich tot. Aber noch lachhafter ist es ja, dass dieser Quatsch verkündet werden konnte, ohne dass sich die Zuhörer (oder die Redakteurin, die Maas das Mikrofon hinhielt) vor Lachen bogen.

Ich gebe zu, es hat einen perversen Reiz, sich noch einmal die Statements des Außenministers aus diesem Jahr anzusehen. „Menschenrechte sind heute in der afghanischen Verfassung fest verankert, und daran darf auch niemand rütteln“, liest man dort. Oder, eine andere Perle der Weisheit: „Die Taliban müssen zur Kenntnis nehmen, dass es kein Zurück ins Jahr 2001 geben wird.“ Die Rhetorik des Dürfens und Müssens kommt dummerweise schnell an ihr Ende, wenn auf der anderen Seite jemand mit einer AK-47 steht.

Großes Gelächter herrschte vergangene Woche über das ZDF, weil es von den „Islamist*innen“ schrieb, die Kabul eingenommen hätten. Dass die Redaktion von „ZDF heute“ auch bei Nachrichten über die Taliban eisern daran denkt, Transmenschen und Queerpersonen einzubeziehen, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Andererseits: Was nach einer Petitesse klingt, ist alles andere als das. Wäre es eine Petitesse, wären nicht so viele Leute so versessen, auch im Angesicht des Schreckens ja die richtige Ausdrucksform zu wählen.

In der Sondersendung bei „NDR Info“ zum Fall von Kabul ist selbstverständlich noch im größten Trubel von „Ausländern und Ausländerinnen“ die Rede. Und auch der Bundespräsident findet, trotz aller bestürzenden Nachrichten, die Zeit, „Afghanen und Afghaninnen“ gesondert zu adressieren. Ich warte auf den Tag, an dem das Bundespräsidialamt von „Deutschen und Deutschinnen“ spricht. Denken Sie an meine Worte: Der Tag ist nicht mehr fern.

Die Vorstellung, dass man anders über die Wirklichkeit reden müsse, damit sie eine andere werde, durchzieht auch das diplomatische Geschäft. Wer meint, es sei ein Zufall, wenn im Haushaltstitel zur Afghanistanhilfe mehrere Millionen Euro für „Gender Mainstreaming“ auftauchen, um endlich auch am Hindukusch zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft vorzustoßen, kennt die Mentalität des Entwicklungshelfers nicht.

Die Rückkehr der Taliban ist die unangenehme Erinnerung daran, dass es da draußen eine Welt gibt, der man nicht mit Sprachregelungen und rhetorischen Verrenkungen beikommt. Deshalb ist die Erschütterung in der Szene nun auch so groß.

Vielleicht muss man wieder zur Sprachkritik zurück. Nicht weil Sprache Wirklichkeit konstruiert, wie es heute heißt, sondern weil der Sprachgebrauch Auskunft über die Zurechnungsfähigkeit des Sprechenden gibt. Man muss dabei ja nicht gleich so weit gehen wie der Autor Maxim Biller, der sich bei dem Wokeness-Vokabular an die Sprache des Dritten Reichs erinnert fühlt. Aber als Gradmesser der Verblödung funktioniert es allemal.

Wer durchgängig gendert, macht sich zum Trottel. Auf diese knappe Formel lässt sich die Sache bringen. Der besinnungs- und planlose Gebrauch von „Kämpfenden“ statt „Kämpfern“ respektive „Studierenden“ statt „Studenten“ oder „Zufußgehenden“ statt „Fußgängern“ ist ein nahezu hundertprozentig zuverlässiges Mittel, um Einfaltspinsel und -pinselinnen zu erkennen.

„Geflüchtete“ statt „Flüchtlinge“? Ich bin sicher, wenn man die ZDF-Redaktion fragen würde, warum sie in einem Bericht über Demonstrationen für die Aufnahme von mehr Afghanen die Partizipkonstruktion wählt, könnte sie es nicht sagen. Falsch ist es obendrein. Wer geflüchtet ist, den muss man streng genommen nicht mehr aufnehmen, denn er befindet sich, anders als der Flüchtling, ja nicht länger auf der Flucht.

Wobei: Was heißt hier schon falsch? Mit dem Gendern verhält es sich wie mit dem sogenannten Deppenapostroph: Was „Lisa’s Friseurstübchen“ das Trennungszeichen, das ist dem Rundfunkredakteur die kleine Pause zwischen Hauptwort und „innen“.

Wie selbst die eifrigsten Adepten ins Schleudern kommen, kann man nahezu täglich beobachten. Annalena Baerbock spricht brav vom „Kanzlerinnenamt“, wenn sie bei Maybrit Illner ihre Vorstellungen zur Lösung der Afghanistan-Krise darlegen soll – aber schon bei Staatsbürgerinnen, Amerikanerinnen, Botschafterinnen und Französinnen versagt sie kläglich. „Spitzenkandidatin macht Frauen unsichtbar. Shame!“, merkte ein Spötter zu Recht an. Ganz so einfach, wie immer behauptet wird, scheint das diskriminierungsfreie Sprechen doch nicht zu sein.

Erst kommt die richtige Sprache, dann das Geld. So funktioniert es auch jetzt wieder. Die ersten 100 Millionen Euro hat die Bundesregierung dem neuen Regime vergangene Woche in Aussicht gestellt. Die Zusage über weitere 500 Millionen folgte Mitte dieser Woche. Das Geld ist selbstverständlich ausschließlich für humanitäre Projekte bestimmt.

Auch beim Umgang mit Entwicklungshilfe wird sich der Taliban als lernwillig erweisen. Die neue Regierung ist klamm bei Kasse. Die Hälfte des afghanischen Staatshaushalts stammt aus dem Ausland. Großzügigster Einzelspender sind, wie sollte es anders sein, die Deutschen. Wenn es die Bedingung für die Fortzahlung sein sollte, akzeptiert der Islamist auch eine Neuauflage des Gendermainstreaming-Programms. In der Hinsicht ist er ganz zeitgemäß.

©Sören Kunz

Merkels Lachen

„Sie kennen mich“, lautet der Satz von Angela Merkel, mit dem sie viele Jahre erfolgreich regierte. Aber stimmt das? Beziehungsweise: Gibt es ein Stadium der Kanzlerschaft, in dem einem alles egal ist?

Unter den vielen Bildern dieser aufwühlenden, schrecklichen, traurigen Woche gibt es ein Bild, das so rätselhaft ist, dass ich mich bis heute frage, was es uns sagt.

Das Bild ist am Montagabend aufgenommen, 24 Stunden nach dem Fall von Kabul, am Ende eines Tages, an dem sich zwei A400M der Bundeswehr auf dem Weg nach Afghanistan befanden, um das hastig zusammengezogene Botschaftspersonal zu evakuieren. An dem sich Menschen an startende Flugzeuge klammerten, um dann aus 100 Meter Höhe zu Boden fallen. An dem kein Zweifel mehr bestand, dass die Rückkehr der Taliban für Tausende den Tod bedeuten wird und für Millionen das Ende jeder Hoffnung auf ein freies Leben.

Man sieht auf dem Foto die Bundeskanzlerin in einem dottergelben Blazer, leicht gebräunt nach dem Sommerurlaub, in der Hand hält sie eine schwarze Atemmaske. Sie blickt direkt in die Kamera und lacht. Sie wirkt so entspannt und gut gelaunt, dass man denken könnte, hinter ihr läge ein Wellness-Wochenende am Tegernsee und nicht ein Tag der Krisendiplomatie im Kanzleramt.

Wie man dem Begleittext entnehmen konnte, zeigt das Bild die Kanzlerin anlässlich der Premiere von „Die Unbeugsamen“, einem Film über die ersten Politikerinnen der Bundesrepublik. Die Kanzlerin hat im Kinosaal ein paar Worte dazu gesagt, wie man ebenfalls erfuhr. Dass auch in Deutschland bei der Gleichstellung von Frauen und Männern noch einiges zu tun sei und viele Politikerinnen bis heute Drohungen und Angriffen ausgesetzt seien.

„Sie kennen mich“, hat Angela Merkel im Wahlkampf 2013 erklärt. Das war das Versprechen, auf dessen Grundlage sie viele Jahre erfolgreich regierte. So wird sie uns auch in den Biografien und Sonderausgaben präsentiert, die anlässlich ihres Abschieds in den Zeitschriftenregalen liegen. Eine Frau wie das Land, dem sie vorsteht – unprätentiös, umsichtig, fleißig, stets darum bemüht, dem Vernünftigen zum Durchbruch zu verhelfen.

„Sie kennen mich“, das hieß auch: keine Überraschungen, keine Kapriolen, keine emotionalen Aussetzer. Einmal ist sie über sich hinausgewachsen, das war 2015 während der Flüchtlingskrise. Da verkörperte sie so sehr das helle Deutschland, dass man im rot-grünen Lager bis heute jede Kritik an der Kanzlerin als Kritik an sich selbst versteht.

Die „Bild“-Zeitung hatte das Bild der lachenden Merkel am Dienstag auf der Titelseite. Ich habe nachgesehen, ob es noch ein anderes Medium abgedruckt hat. Aber ich habe nichts finden können. Auch in den sozialen Medien, die normalerweise jeden Fehltritt und jede missverständliche Äußerung unnachsichtig ahnden, herrschte Schweigen.

An Laschets Lachen konnte man sich tagelang delektieren. Möglicherweise ist es verwerflicher, im Angesicht der Flutkatastrophe zu lachen als im Angesicht des Talibanterrors. Vielleicht zählen deutsche Opfer einfach mehr als ausländische. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, ich bin hier auf Vermutungen angewiesen.

Allenthalben ist jetzt vom Versagen der Bundesregierung die Rede. Aber das finde ich etwas arg allgemein. In der Welt, in der ich lebe, führt immer noch die Kanzlerin die Regierung an. Es ist auch die Bundeskanzlerin, die die Richtlinien der Außenpolitik bestimmt.

Kennen wir sie? Sie habe zweimal die zuständigen Minister zusammengeholt, um über die Situation der afghanischen Ortskräfte zu beraten, konnte man lesen, einmal im Juni und einmal im Juli. Der Hinweis war als Entlastung gemeint, in Wahrheit ist es das Eingeständnis der Untätigkeit.

Das Grundgesetz räumt dem Bundeskanzler nicht von ungefähr eine Richtlinienkompetenz ein. Jeder Minister leitet seinen Geschäftsbereich nach dem Ressortprinzip selbstständig und eigenverantwortlich – es sei denn, der Kanzler sieht es anders. Dann bleiben dem Minister zwei Möglichkeiten: sich zu fügen oder sein Amt niederzulegen.

Niemand wird daran Anstoß nehmen können, dass man nicht weiterkämpfte, nachdem die Amerikaner die Segel strichen. Aber dass man nicht wenigstens die Übersetzer rettete, die einem in all den Jahren treu dienten, die Fahrer, die Köche, die Zuarbeiter? War das zu viel verlangt? Am Wochenende richtete auch ein Bündnis großer Medienhäuser eine flehentliche Bitte an die Regierung, alles zu tun, um die Helfer aus dem Land zu schaffen, aber da war es zu spät.

Angeblich gab es Unstimmigkeiten zwischen Innen-, Außen- und Verteidigungsministerium, wie man mit den Ortskräften verfahren sollte. Was hat die Kanzlerin davon abgehalten, die Sache zu entscheiden? Die Zeitungen waren seit Anfang Juli voll mit Berichten, welchen absurden Bürokratieparcours man aufgebaut hatte, um afghanische Vertragskräfte an der Passage nach Deutschland zu hindern. Im „heute-journal“ berichtete ein Bundeswehroffizier Anfang der Woche in beklemmender Nüchternheit, wie alle Hilferufe in Berlin verhallten. 80 Prozent würden zurückgelassen, denen könnte man nicht mehr helfen, sagte er.

Man habe die Entwicklung der Ereignisse falsch eingeschätzt, hat die Kanzlerin erklärt, so, als würde es sich bei der Einnahme von Kabul um einen Schicksalsschlag handeln, den man nicht habe vorhersehen können. Irgendwann rächt es sich halt, wenn man den Leuten beim Geheimdienst immer misstraut und sich dort Beamte wünscht, die ihren Auftrag vor allem darin sehen, so zu handeln, dass alles, was sie tun, morgen in der „Süddeutschen“ stehen könnte.

Es gab auch Warnungen direkt aus dem Apparat. Über Wochen richtete die Botschaft in Kabul eindringliche Appelle an das Auswärtige Amt, zu handeln. In einem Lagebericht zwei Tage vor dem Sieg der Taliban beklagte sich der stellvertretende Botschafter bitterlich über die Untätigkeit. Wer das Außenministerium kennt, der weiß, dass der Mann damit seine Karriere aufs Spiel setzte.

Wenn wir in einem halbem Jahr nachschauen, wo er gelandet ist, werden wir ihn in einer zugigen Botschaft in irgendeiner ehemaligen Sowjetrepublik wiederentdecken, wo diejenigen landen, die zu große Unbotmäßigkeit an den Tag legen. Offenbar war das Entsetzen über die Unfähigkeit seiner Vorgesetzten so groß, dass er das in Kauf nahm.

Als Kanzlerin kann man sich sein Kabinett nicht aussuchen, das ist der Preis einer Koalition. Dass Heiko Maas ein Würstchen ist, wussten in Berlin immer schon alle. Jetzt wissen wir: Er ist für Menschen, deren Wohlergehen von seinen Entscheidungen abhängt, ein tödliches Würstchen. Aber warum Merkel auch hier die Dinge einfach schleifen ließ, statt ihren Kanzleramtschef anzuweisen, die Sache in die Hand zu nehmen, wird auf ewig ihr Geheimnis bleiben. Möglicherweise gibt es ein Stadium der Kanzlerschaft, in dem einem alles egal ist.

Die Kanzlerin selbst agiert inzwischen so, als sei sie die Beobachterin ihres eigenen Handelns. Wenn sie vor das CDU-Präsidium oder die Presse tritt, redet sie, als bereite sie sich auf einen Kommentar in den „Tagesthemen“ vor. Es seien bittere Stunden in Afghanistan. Es habe nach dem Abzug der Truppen einen Dominoeffekt gegeben. Man müsse so viele Menschen wie möglich in Sicherheit bringen. Das ist der Auftritt einer besorgten Zeitzeugin, nicht einer Kanzlerin, die es in der Hand gehabt hätte, das Leid zu lindern.

Vielleicht mag ich es mir nur nicht eingestehen, und die lachende Merkel ist den Deutschen viel näher, als ich dachte. Vielleicht bietet eine Regierungschefin, die bei jeder Gelegenheit betont, wie sehr sie mit sich im Reinen sei, die Selbstentlastung, nach der eine Mehrheit der Wähler sucht.

Haben wir in Afghanistan nicht alles unternommen? Haben wir nicht Milliarden ausgegeben für Mädchenschulen und Straßen? Und können wir etwas dafür, wenn die Armee nicht in der Lage ist, sich gegen die Taliban zur Wehr zu setzen? Was ist das überhaupt für eine Idee, seine Werte in die Welt exportieren zu wollen?

Man konnte alle diese Argumente schon vor dem Fall von Kabul hören. Man konnte sie zum Beispiel hören, als die Verlängerungen des Bundeswehrmandats anstanden, bei denen dann die gleichen Leute dagegen stimmten, die nun militärisch abgesicherte Luftbrücken fordern.

Der Mensch ist ein abgründiges Wesen. Das gilt, wie man sieht, in ganz besonderer Weise für die Kanzlerin.

©Silke Werzinger