Schlagwort: Asylpolitik

„Ich bin wütend“

Weil er die Messermänner nicht loswird, schnappt sich der Staat Menschen, die niemandem etwas Böses getan haben: Das ist die deutsche Abschiebepraxis. Es ist zum Haareraufen. Und es wird noch schlimmer werden

Drei Geschichten aus der vergangenen Woche.

Der 24-jährige Tunesier Adem Saadoui hat es in nur acht Monaten vom Schweißer-Lehrling zum Gesellen gebracht. „Ohne Adem kann ich bei der Schweißwerkstatt Insolvenz anmelden“, sagt sein Chef. Den Deutsch-Test bestand Saadoui mit 146 von 165 Punkten. Neben seiner Arbeit engagiert er sich ehrenamtlich als Fußballcoach und im Seniorenheim. Seit Ende August gilt ein Beschäftigungsverbot, so hat es die Ausländerbehörde Magdeburg verfügt. Weil er illegal nach Deutschland einreiste, droht jetzt die Abschiebung.

Vor neun Jahren kam die Japanerin Mitzuki Ikeya zum Orgelstudium nach Stuttgart. Sie spricht perfekt Deutsch und bestreitet ihren Lebensunterhalt als Kirchenmusikerin und Klavierlehrerin. Dem deutschen Staat ist sie noch nicht einen Tag zur Last gefallen. Jetzt erhielt die Musikerin Post von der Stadt Stuttgart: Die Aufenthaltsgenehmigung sei hiermit erloschen und damit das Recht, in Deutschland zu bleiben.

Vor dem Amtsgericht Hannover begann das Verfahren gegen Mustafa H. Der Mann aus Somalia war angeklagt, Mitarbeiter des Ordnungsamtes bedroht zu haben. Es war nicht das erste Mal, dass Mustafa H. vor Gericht stand. Sein Strafregister umfasst 15 Einträge – Exhibitionismus, Körperverletzung, Diebstahl. Seit drei Jahren ist der Flüchtling ausreisepflichtig, aber weil die nötigen Papiere fehlen, verfügt er über eine Duldung. Daran wird auch das neue Verfahren nichts ändern. Das Gericht verurteilte ihn zu drei Monaten Haft. Bis zum Haftantritt ist Mustafa H. auf freiem Fuß.

Fester Wohnsitz, fester Arbeitsplatz, gut integriert: Du musst leider gehen. Arbeitslos, mal hier, mal dort wohnhaft und für Deutschland nur Verachtung: Du kannst bleiben. Das ist die deutsche Abschiebepraxis.

Es ist zum Haare raufen. Wird sich daran etwas ändern? Nein, im Gegenteil – es wird schlimmer werden.

Die Politik hat die Erwartung geweckt, sie könne das Mi- grationsproblem durch Abschiebung lösen. Also wird jetzt abgeschoben. Was macht der brave Polizeibeamte, dem sein Innenminister im Nacken sitzt, er müsse die Quote verbessern? Er sucht sich diejenigen, deren er habhaft werden kann. Und das ist in der Regel eben nicht der mehrfach Vorbestrafte, der sich nicht mehr erinnern kann, wo er geboren wurde und wie er heißt. Es ist die brave Musikerin, die nie auf die Idee käme, sich der Ordnungsmacht zu widersetzen.

Man soll sich nicht täuschen: Die himmelschreiende Ungerechtigkeit macht etwas mit den Menschen in Deutschland. Wo offenkundig Unrecht geschieht, versiegt der Glaube an den Staat. Was übrig bleibt, ist Wut. Genau das ist die Reaktion vieler. „Wer Vergewaltiger, Mörder und Messermänner nicht abschieben kann, schnappt sich eben Menschen, die niemandem etwas Schlechtes getan haben. Ich bin wütend“, schrieb der Blogger Ali Utlu.

Warum gelingt es uns nicht, zu unterscheiden? Weil wir nicht unterscheiden wollen. Vor dem Asylgesetz sind alle gleich, das ist der Grundsatz, der eisern verteidigt wird. Aber wie alle Gleichheitsversprechen ist auch dieses eine Fiktion.

Wo es keine Rolle spielt, ob jemand dazugehören will, weil ja niemand illegal ist, wie der schöne Satz heißt, entscheiden am Ende die besseren Anwälte und die besseren Nerven über den Verbleib im Land. Das Asylsystem ist darauf ausgelegt, die Cleveren und Trickreichen zu bevorzugen, die mit den gewiefteren Ausreden und Schutzbehauptungen, nicht die Fleißigen und Braven, die es zu etwas bringen wollen und sich deshalb an die Regeln halten.

Wie sieht die Praxis aus? Ich habe vergangene Woche länger mit einem Polizeibeamten gesprochen, der für die Sicherung unserer Grenze zuständig ist. Wir waren beide an der neuen Schule meiner Tochter zum Elterndienst eingeteilt, da kommt man ins Gespräch.

Bislang läuft es so: Greift die Polizei einen Flüchtling beim Grenzübertritt auf, fragt sie nach den Papieren. Jetzt kommt es darauf an. Äußert der Aufgegriffene das Wort Asyl, bringen ihn die Beamten zur nächsten Aufnahmeeinrichtung. Wer sich nicht ausweisen kann, weil er angeblich seine Ausweispapiere verloren hat, ist ebenfalls erst einmal sicher. Bei den armen Kerlen, die sich aus irgendeinem Grund weder auf Asyl noch den Verlust ihres Ausweises berufen, werden die Kollegen in Österreich angefunkt, mit der Bitte den Flüchtling zurückzunehmen. Das war der Stand bis Anfang der Woche.

Viel ist im Augenblick vom europäischen Geist die Rede, den wir Deutsche nicht verletzen dürften. Nun ja, wie es schon im Johannes-Evangelium heißt: Der Geist weht, wo er will. Unsere Nachbarn sind da erkennbar weniger besorgt als wir. Sie setzen jeden gerne in den Zug Richtung Deutschland, der meint, da müsse er hin. Das steht zwar im Widerspruch zu den Regeln von Dublin, nach dem jedes europäische Land verpflichtet ist, sich um die Asylbewerber zu kümmern, die dort zuerst auflaufen. Aber europäisches Papier ist bekanntlich geduldig.

Manchmal hilft der Blick von außen. Der Chefkorrespondent des „Wall Street Journal“ für europäische Politik Bojan Pancevski saß vergangene Woche bei „Markus Lanz“ und rechnete kühl vor, weshalb auch ein reiches Land wie Deutschland mit 500000 Zuwanderern pro Jahr überfordert ist. „Es ist die Menge“, sagte er, „dafür fehlt einfach die Infrastruktur.“

Ich glaube, es führt kein Weg daran vorbei, über die Anreize nachzudenken, die wir setzen. Auf Twitter kursierte dieser Tage ein Bescheid des Landkreises Marburg-Biedenkopf, der einer aus Pakistan zugewanderten Familie 3964 Euro in Aussicht stellte. Hat jemand eine Vorstellung, was es für Menschen aus Peschawar bedeutet, wenn sie monatlich knapp 4000 Euro erhalten, und zwar, ohne dass jemand die Hand rühren muss? Man muss schon über eine enorm solide Arbeitsethik verfügen, um sich davon nicht korrumpieren zu lassen.

Ich weiß, ich weiß, angeblich spielt das Geld keine Rolle, so wird es uns wieder und wieder vorgebetet. Die sogenannten Pull-Faktoren gehören nach Klimawandel und Corona-Impfschäden zu den am meisten bestrittenen Dingen im Talkshowleben. Weshalb es dann allerdings die meisten Flüchtlinge nach Deutschland zieht – sechs Millionen seit 2013, also 40 Prozent aller Migranten, die bis 2022 in die EU kamen? Ein Rätsel. Am schönen Wetter wird es eher nicht liegen.

Welches Signal senden wir in die Welt? Dass es sich lohnt, nach Deutschland zu kommen, um hier mit anzupacken? Auf voraussichtlich 47 Milliarden Euro belaufen sich die Kosten für das sogenannte Bürgergeld in diesem Jahr. Die Hälfte der Bezieher hat gar keinen deutschen Pass, weshalb man eher von einem Weltbürgergeld sprechen könnte. Dazu kommen die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sowie die Ausgaben für Kita- und Schulplätze sowie ärztliche Versorgung.

Man kann das immer weiterlaufen lassen. Es widerspricht nur eklatant dem, was Politiker in Aussicht stellen, wenn sie davon sprechen, dass die Flüchtlinge die Renten bezahlen werden. Meine Erfahrung nach 30 Jahren Politikbeobachtung: Wenn die Realität und die Ankündigungen zu weit auseinanderfallen, passen die Leute ihr Wahlverhalten nicht den Ankündigungen an, sondern der Realität.

Vielleicht sollten wir es umdrehen. Kein Geld mehr vom Staat, dafür Arbeitserlaubnis vom ersten Tag an. Und Abschiebung für diejenigen, die gezeigt haben, dass sie von Deutschland und den Deutschen nicht viel halten.

Deutschland verfügt über eines der ausgeklügeltsten Rechtssysteme der Welt. Jede Entscheidung lässt sich über diverse Instanzen hinweg anfechten. Wer sich keinen Anwalt leisten kann, bekommt einen kostenlos gestellt. Auch das gehört zu den Dingen, die funktionieren, wenn jedes Jahr 50000 Menschen neu ins Land kommen. Aber nicht bei 500000.

© Michael Szyszka