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Was uns der Fall Brosius-Gersdorf lehrt

Mit dem Votum gegen Frauke Brosius-Gersdorf als Verfassungsrichterin hätten sich CDU und CSU aus der demokratischen Mitte des Landes verabschiedet, erklärt der grüne Parteichef. Wenn er sich da mal nicht täuscht

Knapp 40 Millionen Deutsche sind Mitglied einer christlichen Kirche, 20 Millionen bei den Katholiken, 18 Millionen bei den Protestanten. Ich glaube, das ist vielen, die über Politik urteilen, nicht klar.

Der vorherrschende Eindruck ist, dass wir in einem durchsäkularisierten Land leben, in dem nur noch ein paar Käuze an so etwas wie Gott glauben. Wenn über die Kirche geschrieben wird, dann über Missbrauchsfälle oder den Einsatz der Kirchenoberen fürs Tempolimit.

Überhaupt herrschen über die Lebensverhältnisse in Deutschland eher irrige Vorstellungen. Wer eine der führenden Zeitungen des Landes aufschlägt, muss zu dem Schluss kommen, dass die Mehrheit der Deutschen mit dem Gedanken an den drohenden Klimatod aufwacht und sich dann fragt, wie sie sich so ausdrücken können, dass sich niemand zurückgesetzt oder beleidigt fühlt.

Der Häufigkeit nach zu urteilen, mit der über ihn berichtet wird, lebt der Durchschnittsbürger in ergrünter Innenstadtlage auf gewachster Altbaudiele, wo man schon deshalb über den Autowahn der Deutschen den Kopf schüttelt, weil der Stellplatz vor der Tür der radgerechten Stadt zum Opfer gefallen ist.

Das ist nur nicht die Realität in Deutschland. Die Realität ist: In Großstädten, also Städten mit mehr als 400 000 Einwohnern, leben lediglich 17 Prozent der Deutschen – was möglicherweise erklärt, warum der Bundeskanzler Friedrich Merz und nicht Robert Habeck heißt. Jeder zweite Deutsche ist Mitglied in einem Verein, obwohl das Vereinswesen als Inbegriff der Spießigkeit gilt. 70 Prozent der Kinder kommen nach wie vor in einer Ehe zur Welt, allem Gerede über die Vorzüge von Patchwork zum Trotz.

Warum ich das schreibe? Weil die Fehlwahrnehmung, was normal ist und was nicht, Folgen hat. Wer nach einer Erklärung sucht, weshalb die Wahl der Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf so schrecklich schiefgehen konnte, findet sie in der Verwechslung von Mehrheit und Minderheit.

Der grüne Parteivorsitzende Felix Banaszak ließ sich nach der Verschiebung der Richterwahl zu folgendem Statement hinreißen: „CDU und CSU haben sich heute aus der demokratischen Mitte unseres Landes verabschiedet. Man kann nur hoffen, dass sie den Weg zurückfinden.“ Seine Parteifreundin Renate Künast setzte noch einen drauf, indem sie schrieb: „CDU auf Kurs Abschaffung der Demokratie und des Rechtsstaates.“

Das ist der Stand der Debatte: Wer es nicht übers Herz bringt, eine Frau zu wählen, die die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Abtreibung für obsolet erklärt und den Abbruch in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft zu einer reinen Privatsache machen will, hat den demokratischen Rahmen verlassen.

Die CDU habe sich von rechten Influencern in eine Kampagne hineintreiben lassen, lautet jetzt die Lesart im linken Lager. Die Kandidatin sei eine über jeden Zweifel erhabene Juristin, gegen die niemand klaren Verstandes Einwände vorbringen könne. Das ist die Deutung von Leuten, die lange nicht mehr vor die Tür getreten sind, würde ich sagen.

Wer ist die Mitte? Die Mitte fährt Auto, und das ganz konventionell. Sie hört Helene Fischer und schunkelt auch bei „Layla“ ohne schlechtes Gewissen mit. Wenn sie morgens aufsteht, fragt sie nicht als Erstes nach der Work-Life-Balance, sondern sorgt dafür, dass Deutschland einigermaßen funktioniert.

Die Mitte benutzt Worte, für die man beim „Spiegel“ sofort vor die Tür gesetzt wird, und lacht an Stellen, an denen es sich nicht gehört. Sie trägt im Zweifel Tracht, mag Volksmusik und ist bei der freiwilligen Feuerwehr. Kurz: Sie ist so, wie man links der Mitte als Eltern seinen Kindern immer gesagt hat, wie sie nie werden sollen.

Die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner berichtete neulich, wie sich die Reaktionen auf ihren Flaggenerlass unterscheiden. In Berlin herrscht Fassungslosigkeit, dass Klöckner die Regenbogenflagge nur noch einmal im Jahr auf dem Reichstag erlauben will. Im Bundestag gab es dem Vernehmen nach Tränen. Aber sobald Klöckner zu Besuch in ihrer Heimat ist, spielt das Thema keine Rolle. Oder die Leute bestärken sie in ihrer Auffassung, dass die Queer-Bewegung eine politische Bewegung wie andere ist, also nicht schlechter, aber auch nicht besser.

Das Provinzielle stand in Deutschland immer unter Verdacht. Die Provinz gilt als Hort des Betulichen und Beschränkten, Brutgebiet der Intoleranz, die auf alles Fremde mit Ablehnung reagiert. Nicht viel besser steht es um den Ruf des Vororts. Die Reihenhaussiedlung im Grünen ist die Endstation des Mittelschichtspaars mit Nachwuchs, Schauplatz von Nachbarschaftsstreitigkeiten, stillen Ehedramen und Kindesmisshandlung. Wer hier landet, so muss man es verstehen, hat mit seinem Leben abgeschlossen.

Ich würde dagegenhalten, dass wir in Wahrheit ein erstaunlich tolerantes und liberales Land sind. Dafür sprechen alle soziologischen Befunde. Noch die tolerantesten Menschen lassen sich allerdings so weit in die Ecke treiben, dass sie biestig werden. Man muss ihnen nur ständig vorhalten, wie rückständig sie denken.

Der Streit über den Paragrafen 218 ist aus meiner Sicht ein gutes Beispiel, wie weit sich die Berliner Sicht von der Sicht im Lande entfernt hat. Frau Brosius-Gersdorf mag in der rot-grünen Szene ein Star sein. Die meisten finden ihre Position zur Abtreibung fragwürdig oder lehnen sie rundweg ab.

Warum einen Kompromiss aufkündigen, der das Land befriedet hat? Es wird immer Menschen geben, denen der Paragraf 218 zu weit geht – oder eben nicht weit genug. An dem einen Ende der Skala stehen die Lebensschützer, die vor den Beratungsstellen von Pro Familia Mahnwachen abhalten – am anderen Ende befindet sich die „Mein Bauch gehört mir“-Fraktion, die am liebsten Abtreibung bis zur Geburt straffrei stellen würde.

Aber das ist nicht die Mitte, von der Felix Banaszak spricht. Die Mitte findet, dass es sich mit dem Kompromiss, den das Verfassungsgericht fand, leben lässt. Keine Frau, die ihr Kind nicht austragen will, wird dazu gezwungen – gleichzeitig aber erinnert der Paragraf 218 daran, dass wir es vermeiden sollten, menschliches Leben zu beenden.

Zur Wahrheit gehört, dass ein wichtiger Grund für eine Abtreibung heute eine mögliche Behinderung des Kindes ist. Die Pränataldiagnostik ist auf einem Stand, dass selbst kleinste Chromosomenstörungen auffallen. Der Harmony-Test, den auch die Krankenkassen bezahlen, erfasst zuverlässig Trisomie 21, 18 und 13. Das teurere Kingsmore-Panel liefert Hinweise auf mehr als 500 genetische Auffälligkeiten.

Man sieht den Erfolg im Straßenbild. Als ich zur Schule ging, gehörten Kinder mit Downsyndrom zum Alltag, heute sind sie die große Ausnahme. Meine Tochter besucht eine Montessori-Schule. Das gemeinsame Lernen mit behinderten Kindern ist dort Teil des Konzepts. Jedes Mal, wenn ich sie abhole, fällt mir auf, was wir an Selbstverständlichkeit verloren haben.

Es sind übrigens oft Frauen, die in der Kirche verwurzelt sind, die sich gegen eine Abtreibung entscheiden. Man kann den Glauben in Zweifel ziehen. Oder es wie der SPD-Fraktionschef Matthias Miersch empörend finden, wenn sich die Kirche in die Debatte einschaltet. Aber auch Herr Miersch kommt nicht an dem Umstand vorbei, dass viele Menschen, die in der Kirche sind, anders über den Schutz ungeborenen Lebens denken als Menschen, denen der Glaube wenig oder nichts bedeutet.