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Die Demokratie der anderen

Bei der Korrektur der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen geht es um viel mehr als das Verhältnis der bürgerlichen Parteien zur AfD. Tatsächlich erleben wir nicht weniger als eine Neudefinition der politischen Mitte

Anfang der sechziger Jahre entwickelten amerikanische Politikwissenschaftler eine Idee, die als „Realignment Theory“ Bekanntheit erlangte. Sie besagte, dass es Wahlen gibt, die in der Geschichte einer Nation herausragen, weil mit ihnen eine dramatische Neuordnung der politischen Landschaft einhergeht. Programme, Wählerbindung, mögliche Allianzen – alles muss anschließend neu bewertet werden.

Der Begriff „Realignment“ ist schwer zu übersetzen, es gibt kein richtiges deutsches Äquivalent. Vielleicht „Neuausrichtung“ – aber das ist zu schwach, weil es den gewaltsamen Aspekt des Vorgangs verkennt. Bis heute gilt das Realignment als eine Art Heiliger Gral der Politik. Wem es gelingt, die Polit-Geografie in seinem Sinne zu formen, kann seine Gegner auf Jahre in die Defensive bringen.

Auch wir werden gerade Zeuge eines Realignments. Zu glauben, bei der Korrektur der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen gehe es um das Verhältnis der bürgerlichen Parteien zur AfD, hieße, die Dinge zu unterschätzen. Tatsächlich erleben wir nicht weniger als eine Neudefinition der politischen Mitte und damit eine grundlegende Transformation der Statik, auf der das politische System seit 70 Jahren ruht.

Die Definition, wer zur Mitte gehört und wer nicht, ist weit mehr als ein semantischer Akt. Es ist eine Verständigung darüber, wer ins Zentrum der Macht vorstoßen kann und darf. Bislang gab es in der Bundesrepublik die Übereinkunft, dass die Mitte zwischen den politischen Lagern liege, also zwischen ganz links und ganz rechts. Das entspricht auch dem Gefühl der Wähler.

Wer sich zu weit nach außen entfernte, dem traute man vielleicht die Beteiligung an einer Landesregierung zu, aber der Weg ins Kanzleramt blieb versperrt. Voraussetzung für den Eintritt in die Bundesregierung war eine Entradikalisierung, erst des Programms und dann des Personals. Das galt für die SPD, die erst den Kanzler zu stellen vermochte, nachdem sie sich in Bad Godesberg vom Sozialismus losgesagt hatte. Und das galt auch für die Grünen bei ihrem Marsch durch die Institutionen.

Wie die neue Mitte aussieht, ist bislang nur in Umrissen erkennbar. Aber schon jetzt lässt sich sagen, dass ihre Demarkationslinien durch unerschlossenes Territorium verlaufen. Die Vorsitzende der Linkspartei in Thüringen hat eine erste Grenze abgesteckt, als sie davon sprach, dass CDU und FDP die Chance hätten, die „Reihen der Demokraten wieder zu schließen“, indem sie sich hinter Bodo Ramelow versammelten.

Die Reihe der Demokraten beginnt nach diesem Verständnis beim Marxistischen Forum beziehungsweise den Maduro-Fans, die das Loblied des venezolanischen Diktators singen, und endet bei den fortschrittlich gesinnten Kräften im bürgerlichen Lager, die nach dem Debakel von Erfurt bereit sind, jeden Schwur zu leisten, damit man ihnen vergibt. Alles, was jenseits liegt, angefangen bei Unions-Politikern, die der Linkspartei genauso misstrauen wie der AfD, ist Teil des dunklen Deutschlands.

Wie alle abrupten Verschiebungen, vollzieht sich auch das Realignment nicht ohne Fissuren. Man sieht es zuerst im Sprachgebrauch. Sprache gibt Bahnen vor. Wenn die Leute plötzlich neue Brücken oder Abzweigungen einbauen, gerät man manchmal an Ziele, die man gar nicht erreichen wollte. Man nennt das Demagogie, könnte man in Verwendung eines Gedankens von Frank Schirrmacher sagen.

Eine demokratische, verfassungsrechtlich einwandfreie Wahl wird zum „Zivilisationsbruch“ und gerät damit sprachlich in die Nähe des Holocaust. Ein Chefredakteur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nimmt den Ball auf und spricht in einem Fernsehkommentar von „Endstation Buchenwald“. Ein abgewählter Ministerpräsident verschickt Bildchen, auf denen er den FDP-Vorsitzenden im Landtag mit Hindenburg vergleicht und den AfD-Vorsitzenden mit Hitler.

Dann folgen die personellen Erschütterungen. Wer nicht schnell genug Gefolgschaft gelobt oder sich für Gesinnungsfehler entschuldigt, findet sich im Abseits wieder. Im Zweifelsfall reicht ein zu früh abgesetzter Gratulationsgruß, um seinen Posten zu verlieren. Und das ist immer nur der Anfang. „Ihm werden viele folgen müssen“, schrieb der stellvertretende SPD-Vorsitzende Kevin Kühnert nach der Entlassung des Ostbeauftragten der Bundesregierung im Stil eines Mini-Danton, während sich der Mob vor den FDP-Parteibüros austobte.

Am Ende steht der Bruch formaler oder rechtlicher Prinzipien. Die Kanzlerin agiert so, als ob sie weiterhin Parteivorsitzende wäre, was die Demission der eigentlichen Parteivorsitzenden zur Folge hat. In Thüringen überlegt man, vor der nächsten geheimen Ministerpräsidentenwahl eine Dokumentationspflicht einzuführen, damit man sicher sein kann, dass Bodo Ramelow nicht mit Stimmen der AfD ins Amt zurückgehievt wurde.

Die CDU zur dominanten Kraft im linken Lager zu machen ist eine Strategie, die Angela Merkel seit Langem beharrlich verfolgt. Die große Koalition war bei ihren Vorgängern immer als Ausnahme gedacht, bevor man zur natürlichen Ordnung zurückkehren konnte, worunter die Koalition mit den Freidemokraten verstanden wurde. Merkel hat es nie so ausgesprochen, aber für sie war das Bündnis mit der SPD eine politische Heimatfindung.

Dass man Rot-Grün jetzt in der Union ganz neu denkt, also als Pakt mit den Grünen und, wenn es die Lage erfordern sollte, dann auch mit der Linkspartei, ist so gesehen nur konsequent. Man darf sich nicht täuschen: Der Unvereinbarkeitsbeschluss, der jede Zusammenarbeit mit der Linken verbietet, ist bestenfalls das Papier wert, auf dem er steht.

Die Wähler empfinden noch anders. Dieses Realignment ist ja nicht Ausdruck des Volkswillens, sondern eines von oben verordneten Kulturkampfs. Auch deshalb wird mit großem rhetorischem Aufwand versucht, dem Vorgang eine nachträgliche Legitimation zu verschaffen.

Kaum etwas hat die Linke immer schon so gehasst wie die Totalitarismusthese, wonach Nationalsozialismus und Kommunismus neben großen Unterschieden eben auch frappierende Ähnlichkeiten aufweisen. Es sei die Hufeisentheorie, die ins Unglück geführt habe, heißt es jetzt, also die Vorstellung, dass sich die Extreme berühren würden.

Genau besehen ist schon der Begriff „Mitte“ verdächtig, weil er ja insinuiert, dass es zwei Ränder gibt, also einen linken und einen rechten Rand. Dass es genau dieses Denken sei, das den Aufstieg der AfD erst möglich gemacht habe und das, wenn man nicht aufpasse, in Buchenwald ende, ist das Mantra der Stunde.

Unter den Bedingungen der Demokratie ist es wahnsinnig schwer, 30 bis 40 Prozent der Wähler von der Einflussnahme auf parlamentarische Prozesse auszuschließen. Und auf 30 bis 40 Prozent kommt man, wenn man zur AfD die Teile von CDU und FDP hinzuzählt, die nun unter Faschismusverdacht geraten sind. Man muss sich also etwas einfallen lassen.

In Nordrhein-Westfalen hat die SPD jetzt ein Gesetz vorbereitet, das verhindern soll, dass Gesetze den Landtag passieren, an denen sich die parlamentarische Rechte beteiligt hat. Wie sich dieses Anti-AfD-Dokumentationspflicht-Gesetz mit der Gewissensfreiheit des Abgeordneten verträgt, ist ein Rätsel. Aber wer weiß, vielleicht hat jemand ja noch eine gute Idee.

Rot-grüner Mainstream: Die zwei Gründe, weshalb Journalisten viel linker als das Land sind

Journalisten sehen sich gern als mutige Streiter wider den Mainstream. Leider legen die Zahlen nahe, dass es mit dem Widerspruchsgeist nicht so weit her ist. Die meisten Medienmenschen bewegen sich in einem Umfeld, in dem fast alle so denken wie sie selbst.

Ein typischer Tag beim Deutschlandfunk verläuft so: Eine Mode-Bloggerin erklärt anlässlich der Berlin Fashion Week, warum sie gegen Mode sei – weil Mode den Klimawandel befördere.

Ein junger Sprachwissenschaftler berichtet über die neuesten Initiativen, mithilfe gendergerechter Sprache zu einem besseren Verhältnis der Geschlechter zu kommen. Lehrer heißen bei dem in Köln beheimateten Sender nicht länger „Lehrer“, sondern „Lehrende“, wie man bei der Gelegenheit erfährt.

Es folgt ein Beitrag über „rassistische Elemente“ im Werk des berühmten „Brücke“-Malers Otto Müller. Das Bild „Zwei Zigeunerinnen mit Katze“ zeige Frauen als „exotische Verführerinnen“ und tradiere so Klischees über Sinti und Roma, weshalb sich das Museum entschlossen habe, das Bild nur noch in Verbindung mit einem Dokumentarfilm zu zeigen.

Sie denken, ich übertreibe? Dann haben Sie seit Längerem nicht mehr Deutschlandfunk gehört. Weil auch anderen Hörern aufgefallen ist, dass weite Teile des Programms so klingen, als führten Annalena Baerbock und Robert Habeck die Oberaufsicht, hat sich ein Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ neulich einem Selbstversuch unterzogen. Sein Fazit: Früher hätten Konservative die öffentlich-rechtlichen Anstalten als „Rotfunk“ geschmäht, heute müsste man von einem „Grünfunk“ reden.

Insofern war ich doch überrascht, auf der Seite des Senders einen langen Text zu finden, warum es gar nicht wahr sei, dass das Herz des deutschen Journalisten links schlage. Tatsächlich sei es ein Vorurteil zu glauben, die Mehrheit in den Medien tendiere zu Rot-Grün.

Insbesondere linke Journalisten hören es nicht gern, wenn man sie links nennt, die Erfahrung habe ich schon öfter gemacht. Ich glaube, das hängt mit dem Selbstbild zusammen. Journalisten sehen sich gern als mutige Streiter wider den Mainstream. Wenn man sagt, dass sie in einem Umfeld arbeiten, indem die meisten so denken wie sie, schmälert das ein wenig den Heroismus. Wer gilt schon gern als Mitläufer?

Leider legen die Zahlen nahe, dass es mit dem Widerspruchsgeist nicht so weit her ist. Es gibt nicht viele Studien zu den politischen Vorlieben von Medienmenschen. Eine der größten stammt von 2005 und kommt vom Hamburger Institut für Journalistik. Danach verteilte sich die politische Sympathie wie folgt: Grüne 35,5 Prozent, SPD 26 Prozent, CDU 8,7 Prozent, FDP 6,3 Prozent, sonstige 4 Prozent, keine Partei 19,6 Prozent.

Jüngere Studien kommen zu einem ähnlichen Befund. Mal ist die Zahl derjenigen größer, die sich politisch nicht zuordnen wollen. Mal liegen die Sozialdemokraten besser, mal liegen sie schlechter. Aber am Trend ändert sich nichts: Wenn deutsche Journalisten den Bundeskanzler stellen könnten, käme der nicht aus dem bürgerlichen Lager.

Selbst in Redaktionen, in denen man es nicht erwarten sollte, gibt es eine klare Mehrheit für Rot-Grün. Bei der „Welt“, dem konservativen Flaggschiff des Springer-Konzerns, weiß man es genau, seit die Redaktion vor ein paar Jahren anlässlich einer Bundestagswahl eine Testwahl unter den Kollegen durchführte. Das Ergebnis hing dann zwei Wochen am schwarzen Brett des Springer-Hochhauses in Berlin, bis der Vorstand es abnehmen ließ, weil man nicht jedem Besucher auf die Nase binden wollte, dass der heimliche Lebenstraum eines „Welt“-Redakteurs ein Platz bei der „Süddeutschen“ ist.

Linke Medienkritiker weisen gern darauf hin, dass die Chefredakteure oft sehr viel konservativer sind als die Mannschaft. Das mag stimmen, aber es hat im Redaktionsalltag weniger Auswirkungen, als man annehmen sollte (oder sich der Chefredakteur einbildet). Es gibt viele Möglichkeiten, die Anweisung von oben zu unterlaufen – ich spreche aus Erfahrung. Themenvorschläge werden ignoriert, oder der Chefredakteur bekommt zu hören, dass sich leider keine Belege für seine These finden ließen.

Warum sind so viele Journalisten links eingestellt? Ein Grund ist das, was die Soziologie Selektionsverzerrung nennt. Der typische Journalist hat Germanistik, Geschichte oder Politik studiert. Jura oder Ingenieurwissenschaften, also Studiengänge, in denen man linken Gedanken abwartend gegenübersteht, kommen eher selten vor. Weshalb tendieren Geisteswissenschaftler so stark nach links? Die Betroffenen würden vermutlich sagen, weil ihnen die Gerechtigkeit besonders am Herzen liegt. Meine Antwort wäre, dass es sich um eine Art Kompensationshandlung handelt.

Mein Freund Roger Köppel, heute Chefredakteur der „Weltwoche“, hat das einmal so beschrieben: Stellen Sie sich vor, Sie sind mit Bill Gates zur Schule gegangen. Jetzt sitzen Sie vor dem Fernseher, während eine Dokumentation über Ihren ehemaligen Klassenkameraden läuft. Der Kopf Ihrer Frau dreht sich, sie spüren schon den unausgesprochenen Vorwurf: „Bill Gates hat 50 Milliarden, du hast es nur zum Redakteur einer mittelgroßen Zeitung gebracht, was ist schiefgelaufen?“ Da haben Sie nur eine Chance, wie Sie sich herauswinden können. Sie sagen: „Das stimmt schon, Bill Gates ist viel reicher als ich. Aber ich habe mich nicht korrumpieren lassen. Ich bin nicht zum Kapitalistenschwein geworden.“

Ist es schlimm, dass die Mehrheit der Journalisten mit linken Ideen sympathisiert? Konservative klagen oft über die Voreingenommenheit der Medien. Was die Ungleichbehandlung der politischen Lager angeht, haben sie zweifellos Recht. Als Grüner kann man anstellen, was man will, ohne dass man schlechte Presse fürchten muss. Selbst der größte Unsinn wird mit Nachsicht quittiert. Wenn sich die bayerische Spitzengrüne Katharina Schulze bei „Markus Lanz“ um Kopf und Kragen redet, heißt es anschließend: Okay, der Auftritt war nicht optimal, aber sie ist eine so nette Person, da muss man doch nicht gleich draufhauen.

Die tröstliche Nachricht ist: Die Voreingenommenheit spielt für die Wahlentscheidung eine weit geringere Rolle, als man vermuten sollte. Wäre es anders, hätte Helmut Kohl nie Bundeskanzler werden können. Was wurde der Mann nicht verspottet, als Gimpel, als Tor, als Birne: Trotzdem wählten ihn die Deutschen mit so schöner Regelmäßigkeit, dass sich am Ende kaum noch jemand an eine Zeit ohne ihn erinnern konnte. Woran man erkennen kann, dass sich die Leute eine eigene Meinung erlauben, allen Kommentaren oder auch Kolumnen zum Trotz.

Es wird übrigens nicht besser werden, was die politische Einseitigkeit angeht, das lässt sich schon jetzt sagen. Als ich auf der Journalistenschule war, gab es wenigstens noch ein paar Leute, die nicht Germanistik studiert hatten. Die sind heute alle verschwunden, in die Kanzleien oder in die Wirtschaftswelt.

Wer heute Journalist wird, muss entweder finanziell unabhängig sein – oder er ist sehr intrinsisch motiviert, also von einem starken Missionsgeist erfüllt. Es ist im Prinzip schön, wenn Menschen von ihrer Sache sehr überzeugt sind. Es kann leider nur furchtbar nerven, wenn sie alle ständig daran teilhaben lassen.

Wann sind wir bloß alle so empfindlich geworden?

Wir sind eine Gesellschaft unter permanentem Entschuldigungszwang. Irgendjemand fühlt sich immer beleidigt. Niemand sagt: „Reiß dich zusammen! Weine woanders!“ Dabei würde genau das helfen

Ein Bekannter erzählte mir beim Abendessen eine Geschichte. Sein Vater traf bei einem Empfang in München auf Gerhard Schröder. Der Abschied aus dem Kanzleramt lag zu diesem Zeitpunkt vier Monate zurück, über die Anschlussverwendung bei Gasprom hatten die Medien breit berichtet. Alle tranken Bier, nur Schröder hielt ein Glas Rotwein in der Hand.

„Na, das hat wohl Gasprom bezahlt“, sagte der Vater, in der Absicht, Schröder zu provozieren. Der erwiderte leichthin: „Wenn Gasprom bezahlt hätte, wäre das Glas deutlich größer.“

Manchmal wünsche ich mir Schröder zurück. Nicht unbedingt seine Politik, obwohl auch die ihre Vorzüge hatte. In jedem Fall aber die Coolness im Umgang mit Vorhaltungen und Kritik an seinem Lebensstil. Uns wird heute gesagt, so wie Schröder dürfe man nicht mehr auftreten. Ich höre schon das Stöhnen derjenigen, die sagen, einer wie Schröder sei völlig aus der Zeit gefallen. Das mag sein, der Mann ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Aber die Nonchalance, mit der er es ablehnte, sich für sein Verhalten oder seine Ansichten zu entschuldigen, finde ich vorbildlich.

Wir sind eine Gesellschaft unter permanentem Entschuldigungszwang. Irgendjemand fühlt sich immer beleidigt, sodass man aller Welt versichern muss, wie sehr es einem leidtue, welches Unrecht ihm und seinesgleichen widerfahren sei. Niemand sagt: „Reiß dich zusammen! Deal with it! Weine woanders!“ So etwas zu sagen gilt als unschicklich und schrecklich unsensibel.

Der Hang zur Empfindlichkeit ist keine Sache der politischen Präferenz. Was die Kränkungsbereitschaft angeht, hat die Rechte zur Linken aufgeschlossen. Man kann die Empfindlichkeit aber geografisch einengen. Wenn es so etwas wie einen Hotspot des eruptiven Beleidigtseins gibt, dann ist es die Universität. Nirgendwo ist die Wahrscheinlichkeit, einem Menschen mit fragilem Gemüt zu begegnen, größer als auf einem Campus.

Kaum eine Woche, in der nicht irgendwo Studenten die Fassung verlieren, weil entweder jemand auftritt, der nach ihrer Meinung nicht auftreten sollte. Oder weil ein Thema behandelt wird, von dem sie finden, dass es besser unbehandelt bliebe. Vorletzte Woche war es Frankfurt, wo eine Diskussion über das Kopftuch so aus dem Ruder lief, dass die Polizei kommen musste. Davor machte die Hamburger Uni mit Getobe rund um die Vorlesungsreihe des Wirtschaftsprofessors Bernd Lucke Schlagzeilen.

Es wird auch immer bizarrer. Zum Jahreswechsel kündigte die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch den Besuch einer Veranstaltung zu „Klimawandel und Gender“ an der Freien Universität Berlin an. Sie interessiere brennend, was der Klimawandel mit dem Geschlechterverhältnis zu tun habe und ob Männer und Frauen unterschiedlich betroffen seien, schrieb sie. Das war erkennbar ironisch gemeint. Anderseits: Soll man nicht froh sein, wenn eine AfD-Abgeordnete ihr Milieu verlässt, um Neues zu erfahren? Wer weiß, vielleicht hört sie ja Dinge, die sie ins Nachdenken bringen. Man könnte es auf einen Versuch ankommen lassen.

Aber nein, kaum hatte Frau von Storch ihre Ankündigung verbreitet, forderte die Studentenvertretung von der Universitätsleitung ein „klares Zeichen gegen rechte Hetze“ und verlangte ein Hausverbot. Weil selbst in Berlin ein Unipräsident nicht einfach Leute aussperren kann, wie er lustig ist, wurde die Veranstaltung kurzerhand von den Organisatoren abgesagt. Selbstauflösung aus Angst vor der Seminarteilnahme einer bald 50-jährigen Politikerin: Das hat es in der deutschen Universitätsgeschichte noch nicht gegeben, würde ich vermuten.

Wir haben noch nicht amerikanische Zustände, wo sich die Studenten in spezielle Sicherheitszonen flüchten, wenn sie fürchten müssen, mit Gedanken oder Meinungen konfrontiert zu werden, die sie erschüttern könnten. Aber wir sind nicht mehr weit davon entfernt. Aus dem nichtigsten Anlass fallen junge Menschen von einer Ohnmacht in die andere. Wenn nicht gerade irgendwelche Gleichstellungsaktivisten aufschreien, dass man über ihre Gefühle getrampelt sei, findet sich sicher eine feministisch bewegte Person, die geltend macht, dass man sich sexistisch oder rassistisch geäußert habe.

Es nützt einem auch nichts, wenn man zuvor als Kämpfer für die gute Sache hervorgetreten ist. Der Dekan der juristischen Fakultät der Leipziger Universität, Tim Drygala, gilt als aufrechter Mann, seit er sich gegen einen Kollegen stellte, der mit islamfeindlichen Bemerkungen aufgefallen war. Als Drygala Anfang der Woche auf Twitter einen Witz riss, der als unsensibel empfunden wurde, gab es trotzdem kein Pardon.

Der Witz lautete: „In der Revisionsklausur müssten die Frauen eigentlich besser abschneiden. Sie sind geübt darin, anderer Leute Fehler zu finden.“ Das reichte, um den Professor vor den Fakultätsrat zu zerren. Drygala hat jetzt alle Twitter-Aktivitäten eingestellt. Wenn man auf sein Profil geht, erscheint der Hinweis, dass man einem Nutzer zu folgen versuche, den es nicht mehr gebe.

Was ist da los? Eine Erklärung wäre, dass wir es mit einer Generation von Studenten zu tun haben, die durch die Hände sogenannter Helikoptereltern gegangen sind, also Eltern, die überall Gefahren sehen und von morgens bis abends über das Wohlergehen ihrer Kleinen wachen. Dass sich die Überbehütung nachteilig auf die Psyche auswirkt, haben Erziehungswissenschaftler schon länger vermutet. Jetzt ist der Beweis erbracht, würde ich sagen.

Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt hat darauf hingewiesen, dass der Versuch, Kinder vor Nussallergien zu bewahren, indem man Nüsse grundsätzlich von ihnen fernhält, das Gegenteil von dem bewirkt, was man erreichen wollte. Das Immunsystem lernt nicht, dass Nüsse harmlos sind, was wiederum die Zahl der Allergien in die Höhe treibt.

So geht es auch mit Ideen, sagt Haidt. Wer Kinder vor bösen Gedanken schützen will, verhindert, dass sie eine Abwehr aufbauen, die ihnen erlaubt, den Kontakt mit fremden Ideen unbeschadet zu überstehen. Wenn sie dann tatsächlich einmal einer als anstößig empfundenen Meinung ausgesetzt sind, erleiden sie einen Schock. Anstatt ruhig und gefasst Gegenargumente zu sammeln, sind sie nur noch fähig, um Hilfe zu rufen, bis die Polizei kommt.

Was kann man tun? Die naheliegendste Lösung ist, die Frustrationstoleranz zu erhöhen. Wenn sich Kinder auf den Boden werfen und mit den Händen auf den Teppich trommeln, weil man ihnen einen Wunsch versagt hat, soll man ihnen Trost spenden, aber nicht nachgeben. Erwachsenwerden bedeutet zu lernen, sein seelisches Gleichgewicht auch unter widrigen Umständen zu behalten.

Gerhard Schröder hatte übrigens keine einfache Kindheit, er musste sich nach oben durchboxen. Vielleicht ist er deshalb heute von solch heiterer Gelassenheit.

Sieg des Sentimentalismus

Harry und Meghan als Hoffnungsträger aller Opfer von Diskriminierung? Die politische Bewertung des Rückzugs des britischen Adelspaars zeigt, dass es mit den richtigen Sätzen selbst der Multimillionär zum linken Emanzipationssymbol bringen kann.

Eine feste Größe in der Berichterstattung der bunten Blätter ist die reiche, aber unglückliche Frau, die unter den Umständen leidet. Sie mag Millionen auf dem Konto haben und mehr Adelstitel besitzen als andere Leute Unterhemden: Wenn es ums Lebensglück beziehungsweise -unglück geht, ist sie nicht besser dran als du und ich, also ganz nah bei den Lesern.

Das ist selbstredend Quatsch, wie alles, was auf Sentimentalität beruht. Aber es ist tröstlicher Quatsch, deshalb verkauft er sich. Meine linken Professoren hätten gesagt, dass die Regenbogenpresse den Leuten ihre bunten Geschichten unterjubele, damit sie die Machtverhältnisse nicht infrage stellten. Das war vielleicht etwas zu marxistisch gedacht. Sie können sich trotzdem mein Erstaunen vorstellen, als ich jetzt ausgerechnet beim „Spiegel“ auf die linke Version der Herzblatt-Geschichte stieß.

Für jeden klarsichtigen Menschen ist der Privatisierungsentschluss des Herzogs und der Herzogin von Sussex die Folge einer Fehlkalkulation bei der Eheschließung. Für den „Spiegel“-Redakteur Jonas Schaible ist der Rückzug der beiden nach Kanada eine „Botschaft der Selbstfindung, Emanzipation, aber auch der nicht-weißen Vielfalt“, wie es im schönsten Proseminar-Jargon in einer „Analyse“ hieß, die vergangene Woche online ging.

Bündnispartner bei dem Ausbruchsversuch seien nicht die traditionellen Fans des Königshauses, von denen wenig Verständnis zu erwarten sei, ließ der Autor seine Leser wissen. Alliierte seien vielmehr alle, „die nicht in die alten Strukturen der britischen Gesellschaft passen“: Schwarze, Muslime, Frauen, Einwanderer, kurzum diejenigen, die „die Selbstermächtigung eines jeden und einer jeden über das Anspruchsdenken der anderen stellen, die sich von den auferlegten Lebenswelten emanzipieren wollen, die für Antirassismus und Feminismus eintreten“.

Ich bin vor Lachen fast vom Stuhl gekippt, als ich das las. Harry und Meghan als Hoffnungsträger aller Diskriminie- rungsopfer? Wenn es jemanden gibt, der sich vor Bewun- derung nicht retten kann, dann das britische Adelspaar. Es gibt auch nicht viel, was Meghan und Harry mit, sagen wir, einer polnischen Putzfrau oder einem rumänischen Klemp- ner verbindet, außer dass die einen die Steuern zahlen, von denen die andern ihre Häuser renovieren lassen. Aber so nüchtern können selbst linke Journalisten die Dinge im Meghan-Rausch nicht sehen.

In Wahrheit ist der Megxit die Geschichte eines Missverständnisses. Eine junge Frau aus Hollywood verliebt sich in einen Prinzen. Als er ihr die Ehe anträgt, glaubt sie, Disney würde wahr. Dass das Leben als Royal eine endlose Abfolge von Repräsentationsterminen bedeutet, das hat ihr keiner gesagt – oder sie wollte es nicht hören. Morgens Altenheim, mittags Veteranenverband, danach Besuch im Krankenhaus, um den Moribunden Zuspruch zu spenden: So zieht es sich dahin. Dazu eine Presse, die jeden Protokollverstoß hämisch kommentiert. Kein Wunder, dass man da als Hollywood-Aktrice schlecht drauf kommt.

Der Text im „Spiegel“ weist auf ein grundsätzliches Problem hin, deshalb habe ich ihn ausführlicher zitiert. Ich habe die Linke immer für ihren klaren ökonomischen Blick auf die Welt geschätzt. Wer in Interessenlagen denkt, ist relativ immun gegen Sentimentalismus und falsche Solidarität. Leider gibt es die marxistisch geschulte Linke, die in Interessengegensätzen zu denken vermochte, kaum noch. An ihre Stelle ist eine akademische Linke getreten, der die Frage nach der Zugehörigkeit wichtiger ist als jede Klassenfrage.

Was heute unter dem Begriff „Identitätspolitik“ läuft, ist die Aufgabe ökonomischer Kategorien zugunsten von psychologischen. Statt danach zu fragen, wie man für materiellen Ausgleich sorgen kann, kümmert man sich lieber darum, dass jeder sich wertgeschätzt und anerkannt fühlt. Das hat kurzfristig politisch durchaus Vorteile. Anerkennung ist leichter zu organisieren als materieller Aufstieg. Es reicht, dass man die richtigen Worte findet oder Anteilnahme zeigt, wenn jemand es schwer im Leben hat. Billiger ist Fortschritt nicht zu haben, würde ich sagen. Mit den entsprechenden Postings bei Facebook oder Instagram wird selbst die millionenschwere Glamour-Amsel zum Emanzipationssymbol – oder wie es heute heißt: zu einer Botschafterin der „Selbstermächtigung“ und „Selbstverortung“.

Der Nachteil des Strategiewechsels ist allerdings ebenfalls evident. Den Erfolg klassischer Sozialpolitik konnte man am Haushaltseinkommen ablesen und, wenn es gut lief, an den Studienabschlüssen der Kinder. Kultureller Fortschritt ist sehr viel schwerer zu ermessen. Wann kann die schwarze, lesbische Frau muslimischen Glaubens von sich sagen, dass sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist? Wenn niemand sie mehr fragt, wo sie herkommt? Oder wenn die Zahl schwarzer, lesbischer Musliminnen in Vorstandsetagen dem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht.

Gleichberechtigung ist als politisches Programm unendlich, deshalb wächst der Bedarf ja auch mit dem Bemühen um mehr Gerechtigkeit. Es ist kein Zufall, dass noch nie so viel über Benachteiligung geklagt wurde, obwohl sich die Lage von Minderheiten über die letzten 30 Jahre entscheidend verbessert hat.

Vermutlich ist die Vernachlässigung der Klassenfrage der zentrale strategische Fehler der Linken, weil Identitätspolitik ein Gefühl der Solidarität annimmt, das so nicht existiert. Die traditionelle Klientel mag in Wahrheit nicht einsehen, warum sie Mitleid mit Leuten haben soll, deren Lebenswirklichkeit himmelweit von der eigenen entfernt ist.

Nicht jede Verkäuferin zerfließt in Tränen, wenn sie vom Schicksal einer migrantisch bewegten Soziologiestudentin hört, deren größtes Problem im Leben es ist, dass sie öfter danach gefragt wird, woher sie denn stamme. Manche würde gerne mal auf ihren Namen oder ihre vermutete Herkunft angesprochen. Es wäre eine nette Abwechslung in einem ansonsten relativ monotonen Arbeitsalltag.

Ich bin erklärtermaßen Fan des britischen Komikers Ricky Gervais. Bei einer seiner Golden-Globe- Moderationen hat er die Schauspielerin Jennifer Lawrence aufs Korn genommen, die gerade mit der Forderung nach „Equal Pay“ die Herzen der Presse erobert hatte. „Sie bekam Unterstützung von Leuten von überallher“, sagte Gervais. „Es gab Demonstrationen von Krankenschwestern und Fabrikarbeitern, die sich fragten: Wie, in Gottes Namen, kann eine 25-Jährige nur von 52 Millionen Dollar im Jahr leben?“

Als er Anfang des Monats wieder an der Reihe war, endete Gervais seine Moderation mit der Bitte an die Gäste, sich ihre Preise abzuholen und dem Fernsehpublikum ansonsten Kommentare oder politische Statements zu ersparen. „Ich mache mich nicht über Hollywoods Millionäre her, weil sie ein Haufen Linker sind. Ich bin selbst ein Linker“, erklärte er im Anschluss. „Ich habe sie mir vorgenommen, weil sie ihre linken Überzeugungen wie Orden vor sich hertragen.“

Wie rechts darf man als Schriftsteller sein?

Der Schriftsteller als Mahner und kritische Instanz hat in Deutschland eine lange Tradition. Heinrich Böll und Günter Grass haben diese Rolle in Vollzeit bekleidet. Warum reagiert das Feuilleton also so allergisch, wenn der Erfolgsautor Uwe Tellkamp die Tradition wiederbelebt?

Das Lingnerschloss am Dresdner Elbhang ist eine der prachtvollsten Villen in der an Villenpracht reichen Stadt. Von der Terrasse hat man einen imposanten Blick über das Elbtal, entsprechend beliebt ist das zwischen 1850 und 1853 errichtete Palais bei Hochzeitspaaren und Festgesellschaften.

Im Januar sollte hier eine neue, von der Kulturzeitschrift „Tumult“ ins Leben gerufene Veranstaltungsreihe beginnen. Für die Auftaktveranstaltung hatte man den Autor Uwe Tellkamp verpflichten können, mit einer Lesung aus seinem neuen, noch unveröffentlichten Roman. Doch daraus wurde nichts, und es wird auch nichts daraus werden. Überraschend zog das Lingnerschloss seine Zusage zurück. Die Veranstaltungsreihe und mithin der Auftritt Tellkamps widerspreche dem Neutralitätsgebot, dem man sich verpflichtet fühle, erklärte der zuständige Förderverein.

Das ist in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Vorgang. Tellkamp ist nicht irgendein Autor, sondern der bekannteste Autor der Stadt. Was Günter Grass für Lübeck und Heinrich Böll für Köln, das ist der ausgebildete Chirurg für Dresden. Große Teile seines Erfolgsromans „Der Turm“, der es nach seinem Erscheinen 2008 zu einer schwindelerregenden Auflage brachte, spielen hier. Tellkamp selbst hat von den Tantiemen im Stadtteil Weißer Hirsch eine Souterrainwohnung gekauft, in der er seitdem am Nachfolgebuch arbeitet.

Der Verweis auf ein Neutralitätsgebot, das es zu achten gelte, ist auch deshalb eigenartig, weil der Veranstalter nicht eine politische Veranstaltung, sondern eine Lesung angekündigt hatte. Die Rolle, in der Tellkamp seinem Publikum gegenübertritt, ist die des Schriftstellers, dafür wird er verehrt; dass er sich hin und wieder politisch äußert, ist eher der Gelegenheit geschuldet. Seine politischen Einlassungen sind auch nicht außergewöhnlich. Ausweislich der Umfragen (und der Wahlergebnisse der AfD) teilen über 25 Prozent der Bürger in Sachsen seine Meinung. Außergewöhnlich ist, dass ein Suhrkamp-Autor sich kritisch zur Flüchtlings- oder Europapolitik der Regierung äußert.

Ich habe Tellkamp in den vergangenen zwei Jahren mehrfach getroffen. Das erste Mal sahen wir uns anlässlich einer Lesung in Weimar. Es war Tellkamps erster öffentlicher Auftritt, nachdem er ein paar Monate zuvor bei einer Diskussionsveranstaltung im Dresdner Kulturpalast sein Debüt als Kritiker des Zeitgeschehens gegeben hatte. Tellkamp hatte bei einer Diskussion mit dem Schriftstellerkollegen Durs Grünbein unvorsichtigerweise seine Sympathie für den Teil des ostdeutschen Publikums zu erkennen gegeben, der grundsätzlich mit der Regierungspolitik hadert. Ich meine mich an einen Artikel in einer führenden Zeitung zu erinnern, in dem stand, dass man von nun an keine Tellkamp-Bücher mehr lesen könne.

Der Schriftsteller als Seismograf und gesellschaftlicher Mahner hat in der Bundesrepublik Tradition, so ist es nicht. Ich persönlich habe meine Zweifel, ob Autoren notwendigerweise auch politisch weitsichtige Menschen sind. Nur weil jemand großartig über innere Vorgänge oder menschliche Verwicklungen schreiben kann, ist er nicht automatisch ein besonders scharfsinniger Denker. Doch die Öffentlichkeit billigt dem Autoren eine besondere moralische Kompetenz zu. Vielleicht ist es die Sensibilität, die man Künstlern unterstellt, oder die Leser denken, dass der eher meditative Lebensstil tiefere Einsicht begünstigt.

Im Grunde knüpft Tellkamp also nur an eine Rolle an, die Leute wie Grass und Böll als Vollzeitstelle bekleidet haben. Aber so einfach lässt man ihn nicht davonkommen. Es macht eben einen gewaltigen Unterschied, ob der kritische Geist von links oder rechts weht.

Ich würde auch immer einwenden, dass es das Privileg des Schriftstellers sei, Unsinn zu verzapfen. Böll hat als Kommentator hanebüchenes Zeug von sich gegeben, ohne dass dieses seinem Ruf als moralischer Instanz Abbruch getan hätte. Unvergessen ist der „Spiegel“-Essay, in dem Böll die erste Generation von RAF-Terroristen als fehlgeleitete Idealisten gezeichnet hatte, die vom Staat in den Untergrund getrieben worden seien. Auch Grass war von erstaunlicher Eigenwilligkeit im Umgang mit Fakten. Erst als er auf seine alten Tage sein Engagement bei der Waffen-SS allzu salopp der eigenen Biografie einzugliedern versuchte, merkten diejenigen im Feuilleton auf, die bis dato jede seiner Einlassungen als gottgleich hingenommen hatten.

Tellkamp ist ein scheuer Mensch. Ihm fehlen das Selbstbewusstsein und die Robustheit des von einer politischen Mission überzeugten Großschriftstellers. Wenn er sich zu Fragen der Einwanderung äußert, dann eher aus Verbitterung über die Hochnäsigkeit, mit der im Westen über die Landsleute geurteilt wird, denen er sich zugehörig fühlt. Dass man den Menschen aus Sachsen and Thüringen den politischen Verstand abspricht, weil sie sich anders äußern, als man es in München oder Hamburg erwartet, erzeugt bei ihm eine Gereiztheit, die sich in impulsiven Gelegenheitsauftritten entlädt.

Als wir im Herbst das letzte Mal sprachen, saß er an der Endfassung seines neues Romans. Die Arbeit sei im Wesentlichen abgeschlossen, sagte er, aber das muss bei ihm nichts heißen. Wer seine Arbeitsweise mit dem von Dombaumeistern vergleicht, denkt in anderen Zeiträumen. Tellkamp las dann aus einem Kapitel, das in einer Außenstelle der „Tausendundeine Nacht“-Abteilung des Verkehrsministeriums spielte, dem der Held zugeordnet ist. Von der Leyen tauchte auf, camoufliert als „Flintenbrigitte“, die Kanzlerin sowie eine Reihe ihrer Vasallen. Wenn man nach den Seiten, die er vortrug, auf das Buch schließen müsste, das dem „Turm“ folgen soll, erwartet den Leser eine ins Dystopische gewendete Vision der Merkel-Jahre.

Bei Suhrkamp lebt man in banger Erwartung des Buchs. Tellkamp gehört zu den wenigen Schriftstellern, die man nicht ins Weihnachtsgeschäft hieven muss, um Auflage zu machen. Die Wahrheit ist, dass viele der Suhrkamp-Autoren Tellkamp ihre Vorschüsse verdanken. Die Geschäftsgrundlage von Buchverlagen beruht auf einer Mischkalkulation, wo die Einnahmen des einen die Honorare der anderen subventionieren. Jemand wie Durs Grünbein, der Tellkamp als „Heimatautor“ verhöhnt, könnte ohne dessen Heimatschriftstellerei niemals von seinen eigenen anämischen Auflagen leben.

Selbstverständlich schlägt der Erfolg nicht zugunsten des Mannes aus Dresden aus. Tellkamp berichtete mir von der Begegnung mit einem Kollegen, der ihm nach dem Auftritt im Kulturpalast damit drohte, man werde dafür sorgen, dass Suhrkamp nichts mehr von ihm drucke, wenn sich so ein Vorgang wiederhole. Eine Art Orwell von rechts ist nicht das, was in der Suhrkamp-Welt geschätzt würde. Man darf vermuten, dass es da noch einen Tanz geben wird.

Der Förderverein des Lingnerschlosses hat jetzt angekündigt, selbstverständlich könne Tellkamp auftreten. Die Ausladung habe sich gegen die Zeitschrift „Tumult“ gerichtet, die die Veranstaltungsreihe ersonnen hatte, nicht gegen den Schriftsteller selbst. Der „Tumult“-Herausgeber Frank Böckelmann kommt übrigens von ganz links. Er hat mit Leuten wie Rudi Dutschke die Studentenrevolte angeführt, bevor er in die Kommunikationswissenschaft abbog. Böckelmann würde vermutlich sagen, dass er sich in seinem politischen Engagement treu geblieben sei. 

Kann uns nur noch die Kernenergie retten?

Die Strahlenangst gehört zur deutschen Identität. So wie die Liebe zum Auto. Leider gibt es nach Lage der Dinge nur eine Energiequelle, die verlässlich ist und gleichzeitig klimaneutral, und das ist die Atomenergie

Bei einem Besuch in London habe ich vor einigen Jahren ein Buch mit dem schönen Titel „Strange Days Indeed: The Golden Age of Paranoia“ erstanden. Der Autor Francis Wheen beschreibt darin die seltsam fiebrige Stimmungslage Mitte der siebziger Jahre, als die eine Hälfte im Westen den Untergang der Zivilisation wegen der Hippie-Kultur für unausweichlich hielt und die andere Hälfte die Menschheit den Atomtod sterben sah. Auf dem Rückumschlag ist ein Mann abgebildet, der an einem Strand an lauter Badenden mit einem Schild vorbeiläuft, auf dem „The End Is Near“ steht.

Die Untergangsangst ist zurück. Selbst kluge Köpfe sind von der Überzeugung befallen, dass das Ende der Menschheit kurz bevorstehe, diesmal nicht wegen der Atom-, sondern wegen der Klimakatastrophe. Sie könne weinen, wenn sie daran denke, wie gering die Chancen ihrer Tochter seien, anno 2076 60 Jahre alt zu werden, schrieb neulich Marina Weisband, eine durchaus nachdenkliche Frau, die sich nach ihrem Ausscheiden bei den Piraten als Digitalexpertin einen Namen gemacht hat.

Lassen Sie uns nicht darüber diskutieren, wie berechtigt oder unberechtigt Ängste sind. Ich selbst halte es für extrem unwahrscheinlich, dass die menschliche Rasse ab dem Jahr 2076 nicht mehr existieren wird. Menschen neigen nun einmal zu Zwangsvorstellungen. Eine Freundin von mir kann über keine Brücke fahren. Sie ist von der Angst geplagt, dass die Brücke in dem Moment, in dem sie darüberfahren würde, einstürzen könnte, deshalb nimmt sie bei Reisen entsprechende Umwege in Kauf. Es ist völlig sinnlos, sie auf die Unwahrscheinlichkeit des von ihr befürchteten Ereignisses hinzuweisen.

Nehmen wir also an, wir alle seien dem Hitzetod geweiht. Wäre es dann nicht an der Zeit, über die einzige Maßnahme nachzudenken, die geeignet ist, das Schicksal abzuwenden? Nach Lage der Dinge gibt es nur eine Energiequelle, die verlässlich ist und gleichzeitig klimaneutral, und das ist die Atomenergie. Was die CO2-Bilanz angeht, ist die Kernkraft sogar der Solarenergie überlegen. Nur Windenergie und Wasserkraft können klimapolitisch mithalten.

Wo ich mit den Apokalyptikern übereinstimme, ist der Pessimismus, die Erderwärmung ließe sich durch Selbstdisziplin begrenzen. Ich glaube, Leute wie Marina Weisband haben zu 100 Prozent Recht, wenn sie der Politik die Fähigkeit absprechen, das Ruder noch rechtzeitig herumzureißen. Bis wir so weit sind, dass wir den Laden mit Sonne und Wind am Laufen halten, sind die Eisberge längst geschmolzen.

Ich kenne alle Argumente gegen die Nutzung der Kernenergie. Die Frage der Müllentsorgung ist nicht hinreichend geklärt. Es gab in der Vergangenheit mehrere schwere Unfälle. Aber wenn ich davon ausgehe, dass nur wenige Monate bleiben, um zu verhindern, dass die Erde unbewohnbar wird, ist es dann nicht klüger, auf eine Technologie zu setzen, bei der nur ein theoretisches Risiko besteht, dass sie uns im Stich lässt?

Bislang hieß es: Ja, sicher, dass sich Tschernobyl oder Fukushima wiederholen, ist extrem unwahrscheinlich – aber ein Atomunfall reicht, um einen ganzen Landstrich zu verwüsten. Dieses Argument hat sich erledigt. Wenn wir weitermachen wie bisher, so sagen uns die CO2-Experten, dann ist nicht nur ein Landstrich verwüstet, sondern der ganze Globus.

Auch an der Kernkraft ist der Fortschritt nicht vorbeigegangen, das kommt hinzu. Die neuen Meiler haben mit den alten AKWs, von denen bei uns die letzten 2022 außer Betrieb gehen, kaum etwas gemein. Moderne Reaktoren, die auf flüssiges Natrium als Kühlmittel setzen, wären in der Lage, aus abgebrannten Brennelementen Energie zu gewinnen, was auch den Blick auf das Problem mit dem Atommüll schlagartig ändert.

Tatsächlich kommt eine ganze Reihe von Experten zu dem Schluss, dass nur eine Renaissance der Atomenergie uns vor einem globalen Anstieg der Temperaturen bewahren kann. Selbst Greta Thunberg hat in einem unbedachten Moment zu erkennen gegeben, dass sie in der Kernkraft einen positiven Beitrag sieht. „Atomkraft kann laut Weltklimarat IPCC ein kleiner Teil einer großen neuen, kohlenstofffreien Energielösung sein“, postete sie auf Facebook. Sie hat das dann mit Rücksicht auf die Befindlichkeit der „Fridays for Future“-Aktivisten relativiert, indem sie ein paar Tage später hinzusetzte, sie persönlich sei natürlich gegen die Kernkraft. Aber das war eher ein taktisches Manöver.

Es ist mitnichten so, dass die Kernenergie tot ist. Sie spielt nur in Deutschland keine Rolle mehr. Schon ein paar Kilometer jenseits der deutschen Grenze, in Frankreich, stehen die ersten von insgesamt 58 Reaktorblöcken, von deren Stromerzeugung wir übrigens unmittelbar abhängen, wenn bei uns der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Auf der anderen Seite, in Tschechien, verrichten insgesamt sechs Atommeiler ihren Dienst, ohne dass jemand daran denkt, sie abzuschalten.

So kann man fortfahren: Schweiz fünf Meiler, Belgien und Spanien je sieben. Selbst das wegen seiner Klimaneutralität gelobte Schweden mag nicht auf die Kernenergie verzichten. In Finnland, das bereits über vier Reaktoren verfügt, wird gerade um einen Neubau gerungen.

Ich habe Angela Merkel vor ein paar Jahren einmal gefragt, was sie dazu bewogen habe, über Nacht die deutsche Energiepolitik umzustoßen. Im Nachhinein ist die Entscheidung, das Land vom Atomstrom abzukoppeln, möglicherweise der schwerwiegendste Fehler ihrer Regierungszeit.

Auch sie habe es mit der Angst zu tun bekommen, als sie die Bilder aus Fukushima gesehen habe, gab die Kanzlerin als Antwort. Das fand ich für eine Frau, der man nachsagt, kühl kalkulierend auf die Welt zu sehen, eine bemerkenswerte Aussage. Es wurde dann im weiteren Verlauf der Diskussion noch etwas hitzig, weil ich erwiderte, dass ich nicht gedacht hätte, dass eine CDU-Kanzlerin einmal wie Claudia Roth reden würde.

Vielleicht hat Angela Merkel mit ihrer Entscheidung auch einfach der deutschen Gemütslage Rechnung getragen. Die Wahrheit ist ja, dass von den Unionsanhängern unter dem Eindruck von Fukushima ebenfalls eine Mehrheit für die Sofortabschaltung aller hiesigen Kernkraftwerke war. Es ist in Japan kein Anwohner wegen Strahlen gestorben, die Toten waren alle Opfer des Tsunamis. Aber was zählen schon Zahlen, wenn das Gefühl regiert?

Die Strahlenangst gehört zur deutschen Identität. So wie die Liebe zum Auto, der Widerwille gegen das Tempolimit und die besondere Wertschätzung von schön dicht schließenden Fenstern. Man kann das auch politisch einordnen. Je weiter jemand nach links tendiert, desto größer seine Strahlenangst, weshalb schon die Anschaffung einer Mikrowelle in jedem sozialdemokratischen Haushalt eine große Sache war, wie ich aus eigenem Erleben weiß.

Vielleicht sollten wir die Klimakrise nutzen, an uns selbst zu arbeiten. Manchmal führt eine Krise ja dazu, dass man über sich selbst hinauswächst. Das gilt auch für Nationen.

Das Ende der Biologie

Wie viele Geschlechter gibt es? Sind es drei, fünf oder sogar 60? In jedem Fall haben Mann und Frau als Kategorien ausgedient. Wer heute noch an die Biologie glaubt, ist ein Hinterweltler, Düber den man nur den Kopf schütteln kann 

Die Kinderbuchautorin Joanne K. Rowling hat sich zu Fragen der Biologie geäußert. Rowling ist Mutter dreier Kinder, außerdem die Erfinderin der Harry-Potter-Welt. Dass sie drei Kinder großgezogen hat, erwähne ich, weil niemand, der Kinder hat, an den Grundfragen des Lebens vorbeikommt, wie erfolgreich er oder sie auch sein mag. Rowling hat geschrieben, dass sie nach wie vor davon ausgehe, dass es Männer und Frauen gebe und dass für sie das biologische Geschlecht nichts Erfundenes sei, sondern real.

Ich wurde darauf aufmerksam, weil sich augenblicklich ein Sturm der Entrüstung erhob. Wer wie die britische Autorin behaupte, dass es nur zwei Geschlechter gebe, werte Transmenschen ab, hieß es. Ihre Äußerung sei diskriminierend und perfide. Es folgte der Aufruf zum Boykott ihrer Bücher.

Frau Rowling wird den Aufruf, ihre Bücher zu meiden, verschmerzen können. Ich finde den Fall bemerkenswert, weil er zeigt, wie selbstverständlich in einem Teil der akademischen Linken die Vorstellung geworden ist, die Unterscheidung in Mann und Frau sei eine rückständige, um nicht zu sagen repressive Idee, die kein aufgeklärter Mensch mehr vertreten könne.

Die Frage, ob es mehr als Mann und Frau gibt, beschäftigt die akademische Öffentlichkeit schon seit Längerem. Der Theorie zufolge, die Einzug in die Seminarräume gehalten hat, ist Geschlecht nichts, was man vorfindet, so wie Gene oder Hormone, sondern Definitionssache und damit eine Frage der gesellschaftlichen Übereinkunft. Wie viele Geschlechter es gibt – ob es drei sind, fünf oder wie bei Facebook 60 –, das ist Teil der akademischen Debatte. Aber dass die sogenannte binäre Ordnung der Vergangenheit angehöre, darüber besteht Einigkeit.

Man darf sich nicht täuschen: Nur weil etwas absonderlich wirkt, heißt das nicht, dass es nicht Wirkung entfalten kann. Tatsächlich hat kaum eine Disziplin eine solche Karriere hingelegt wie die Gender-Wissenschaften, wobei man von Wissenschaften im engeren Sinne eigentlich nicht sprechen kann. Keine der vorgetragenen Thesen hält einer Überprüfung durch die Biologie oder die Neurowissenschaften stand.

Im Grunde funktionieren die „Gender Studies“ wie Homöopathie. Es existiert eine Reihe von Hypothesen und Annahmen, die nicht durch das Prinzip von Bestätigung oder Falsifikation, sondern allein durch Wiederholung Wahrheitskraft erlangen. Dennoch gibt es inzwischen in Deutschland über 150 Lehrstühle.

Wie bei allen Theorien, die lange genug im Umlauf sind, verselbstständigt sich die Sache irgendwann. Aus Lübeck erreicht uns zum Jahreswechsel die Nachricht, dass die Stadtverwaltung einen Leitfaden zur „gendersensiblen Sprache“ verfasst hat, damit sich alle Bürger angesprochen fühlen, auch jene, „die sich nicht als Frau oder Mann beschreiben“. Bevor Mitarbeiter der Stadt in näheren Kontakt mit einem Lübecker treten, sollen sie zuerst ermitteln, welches Geschlecht der oder diejenige bevorzugt. Die Empfehlung zur Ansprache lautet: „Guten Tag Name Vorname, wie darf ich Sie in Zukunft ansprechen?“

Selbst in bayerischen Gemeinden wird inzwischen überlegt, ob man in Grundschulen nicht Toiletten für das dritte Geschlecht einführen sollte, also für Kinder, die angeblich nicht genau sagen können, ob sie nun Jungen oder Mädchen sind oder das nicht sagen wollen.

Wenn ich im Gemeinderat von Taufkirchen säße, würde ich mir die Frage stellen, ob es ein einziges Kind gibt, das durch den Toilettengang dokumentieren will, dass es grundsätzlich anders ist als alle anderen. Der sicherste Weg, zum Mobbing-Opfer zu werden, besteht doch darin, sich als Außenseiter zu outen. Aber solche Überlegungen spielen keine Rolle, wenn es darum geht, sich als aufgeschlossen und aufgeklärt zu beweisen. Vermutlich kämen die Gemeindemitglieder arg ins Schwimmen, wenn sie sagen sollten, was genau sie unter dem drittem Geschlecht verstehen. Sind Intersexuelle gemeint, also Menschen, die beide Geschlechtsmerkmale besitzen und deshalb wirklich nicht sagen können, ob sie Mädchen oder Junge beziehungsweise Frau oder Mann sind? Die Zahl ist allerdings sehr gering. Der Prozentsatz von Kindern, die als Zwitter geboren werden, liegt deutlich unter 0,1 Prozent.

Oder sind vielmehr Transsexuelle das Ziel der Baumaßnahme? Dann allerdings wäre die Investition in gesonderte Toiletten für die Katz. Der Transsexuelle besteht ja gerade darauf, ein Mann oder eine Frau zu sein, nur unglücklicherweise im falschen Körper beheimatet. Dass die Krankenkasse die Kosten für eine Geschlechtsumwandlung übernimmt, lässt sich nur damit begründen, dass Geschlecht eben keine Frage der Definition, sondern eine der Hormone ist. Wäre es anders, könnte man sich die Kosten für die Behandlung sparen. Dann müsste man dem Transsexuellen lediglich sagen, dass die binäre Ordnung ohnehin passé sei.

Je ausführlicher man sich mit der Materie beschäftigt, desto verwirrender wird es. In Kanada ist eine Gender-Aktivistin vor Gericht gezogen, weil sich die Mitarbeiterinnen mehrerer Schönheitsstudios geweigert hatten, ihr die Hoden zu wachsen. Die Aktivistin machte geltend, die Weigerung stelle eine Diskriminierung als Frau dar. Der Komiker Ricky Gervais hat die Geschichte zum Teil seines Stand-up-Programms gemacht, womit er sich augenblicklich den Vorwurf der Minderheitenfeindlichkeit einhandelte.

Manchmal lohnt es sich, ein wenig Abstand zu gewinnen. Ich bin seit zwei Wochen in Kenia und Tansania unterwegs. Ich kann natürlich nicht genau einschätzen, wie viele Menschen hier der Meinung sind, dass eine Romanautorin verdammt gehört, weil sie nach wie vor an die Biologie glaubt. Meine Vermutung wäre: Es sind weniger als 0,1 Prozent. Die meisten Menschen, die in Afrika leben, wissen noch nicht mal, was ein Gender-Stern ist. Würde man ihnen sagen, dass sich Frau und Mann als Geschlechter überholt haben, würden sie nur den Kopf über den verrückten Weißen schütteln.

In Wahrheit lassen sich die Zentren der neuen Geschlechtertheorie auf einer Weltkarte relativ gut eingrenzen. Es sind die amerikanischen Hochschulen an den beiden Küsten der USA sowie die europäischen Universitätsstädte, wobei Deutschland als Verbreitungsgebiet besonders hervorsticht. Was zu einer interessanten Frage führt: Wenn die Gender-Theorie den Anspruch erhebt, für alle Menschen zu gelten, muss man dann nicht unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass die Bewohner Afrikas besonders rückständig sind?

Vielleicht sollten die Vertreter der „Gender Studies“ mal mit den Kollegen von den „Kolonialismusstudien“ reden. Eine Tür weiter könnte man ihnen sagen, warum die Zeiten, als man im Westen glaubte, dem Rest der Welt überlegen zu sein, eigentlich vorbei sind.

Deutschland, deine Nervensägen

Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Wer ist dem Kolumnisten 2019 besonders aufgefallen, wer gehört zu den Auf- oder Absteigern?

Das Stadtmagazin „tip Berlin“ veröffentlicht einmal im Jahr eine Liste der „100 peinlichsten Berliner“. Wer es auf die Liste geschafft hat, der gilt in der Hauptstadt etwas, und sei es als Ärgernis. Diese Kolumne nimmt die Idee auf und präsentiert zum Jahresausklang fünf Menschen, die im Ruf stehen, besonders klug oder sympathisch zu sein, in Wahrheit aber furchtbare Nervensägen sind.

Heiko Maas, Außenminister

Gerade eben war er noch der Jogi Löw der Sozialdemokratie: der nette Junge aus dem Saarland mit der feschen Freundin und den etwas zu eng geschnittenen Hemden. Dann gab er plötzlich den Bad-Boy-Maas. Flog nach Ankara und posierte mit dem türkischen Außenminister, um klarzumachen, dass er die Richtlinien der Außenpolitik bestimmt und nicht etwa die Verteidigungsministerin. Schrieb Beiträge zum Mauerfall, in denen er aller Welt für das Geschenk der Einheit dankte, aber die Amerikaner bewusst ausließ. „Was kommt als Nächstes?“, fragte man sich. Sauna-Abende mit Xi Jinping? Ein Aufsichtsratsposten in einem chinesischen Staatsunternehmen?

Offenbar sieht Heiko Maas seine Zukunft doch eher als die Margot Käßmann der deutschen Außenpolitik. „Militärisch Frieden schaffen hat noch nie funktioniert“, erklärte er jetzt, was nicht nur mehrfach widerlegt ist, sondern auch eine erstaunliche Unkenntnis der deutschen Geschichte beweist. Aber wie das so ist mit dem EKD-Pazifismus: Wichtiger als das, was stimmt, ist das, was stimmen sollte.

Rezo, Berufsjugendlicher

Es gibt in der Musik das Phänomen des „One Hit Wonders“: ein Sommer lang ein Song, den alle mitsummen. Dann tingelt man 20 Jahre durch die Lande, und bei jedem Auftritt sagen die Leute: „Mensch, das ist doch ,Mambo Number 5‘, wie hieß noch mal der Sänger?“

Der Lou Bega des Journalismus heißt Rezo. „Die Zerstörung der CDU“ war nicht nur das meistgeklickte YouTube-Video des Jahres 2019: Es machte den Mann mit der blauen Haartolle über Nacht zur politischen Instanz, die zu allem um Auskunft gebeten wurde, was eine Stimme der YouTube-Generation verlangte – die Zukunft der Medien, die Krise der Demokratie, den Generationenkonflikt.

Auch Rezo ist mit 27 Jahren nicht mehr exakt der Jüngste, aber für die Redaktion der „Zeit“ verkörpert er die deutsche Jugend, weshalb sie ihm dort eine Kolumne antrugen. Dafür, dass er ihnen in Hamburg die Online-Welt erklärt, sehen sie auch über gewisse stilistische Schwächen hinweg. Wem zu Innenminister Horst Seehofer vor allem einfällt, dass er „Scheiße labert“, bekommt in der Redaktion am Speersort normalerweise nicht mal einen Praktikumsplatz. Weil Rezo alles zu sein scheint, was die „Zeit“ gern wäre, findet man „Scheiße labern“ als Ausdruck plötzlich cool und frech, also irgendwie heutig. Hoffen wir, dass der Zwang zur Jugendlichkeit nicht die Chefredaktion erreicht. Wenn demnächst auch Giovanni di Lorenzo wie Rezo reden sollte, wäre das selbst für die treuesten Leser ein Schock, da bin ich mir als „Zeit“-Abonnent fast sicher.

Robert Habeck, Grünen-Vorsitzender

Erinnern Sie sich noch an Björn Engholm? Ministerpräsident von Schleswig-Holstein und Herausgeber von Büchern mit Titeln wie „Die Zukunft der Freizeit“? Kanzlerkandidat der SPD 1993, dessen Reden immer so klangen, als habe Hermann van Veen sie geschrieben, und der sich gern auf die „sensiblen Potenziale“ im Lande berief?

Engholm heißt jetzt Robert Habeck. Niemand versteht es besser, den Gefühlssprech so klingen zu lassen, als habe er gerade etwas furchtbar Bedeutendes gesagt, auch wenn man später erkennt, dass es leider nur Gefühltes war. Dafür liegt ihm das Publikum zu Füßen, insbesondere das weibliche. Könnte ich einen Wunsch äußern, dann wäre es der, dass vorerst keine Journalistinnen mehr über den Parteivorsitzenden der Grünen berichten dürfen. Dann wäre immerhin ausgeschlossen, dass jedes Porträt mit einer Würdigung des jeweiligen Wuschelzustands seiner Haare beginnt. Männer sind, was Frisuren angeht, weniger zu beeindrucken.

Richard David Precht, Fernsehphilosoph

Dass man mit einem geisteswissenschaftlichen Studium im Rücken keine großen Sprünge macht, gehört zu den Wahrheiten, die einem bei Studienanfang leider nicht gesagt werden. Wäre es anders, hätte sich die Klage über den Gender Pay Gap erledigt. Der einzige Mensch, den ich kenne, der es mit einem Philosophiestudium zu Ruhm und Reichtum gebracht hat, ist Richard David Precht.

Precht kann man zu jedem Thema befragen, er hat garantiert eine Meinung, die in den Redaktionen auf Zustimmung stößt. Precht ist der kleinste gemeinsame Nenner der Debattenrepublik, das philosophische Ground Zero der „Titel, Thesen, Temperamente“-Welt: entschieden gegen den Klimawandel und für das Tierwohl, dezidiert gegen Ungleichheit und für mehr Geschlechtergerechtigkeit.

Interessanter wäre es, schon aus Gründen der geistigen Beweglichkeit, mal andersherum. Aber diese Übung würde seinen Status als Mann, der immer die offen stehende Tür findet, in Gefahr bringen. Also bleibt Precht lieber bei den erprobten Nummern. Auch Richard Clayderman erschreckt das Publikum, wenn er sich abends ans Klavier setzt, nicht plötzlich mit Heavy Metal.

Daniel Günther, Nordlicht

Wie heißt der amtierende Ministerpräsident von Schleswig-Holstein? Nein, nicht Ralf Stegner. Der wäre es gern geworden, ist aber in der falschen Partei. Der aktuelle Ministerpräsident von Schleswig-Holstein heißt Daniel Günther. Sie müssen sich nicht grämen, wenn Ihnen der Name auf Anhieb nichts sagt. Kiel ist wirklich weit weg. Ich war mal da. Viel Wasser. Deshalb gibt es einmal im Jahr die Kieler Woche, laut Wikipedia eines der größten Segelsportereignisse der Welt. Damit wäre auch schon das Wichtigste über Kiel gesagt.

Vielleicht ist es die meditative Abgeschiedenheit des Nordens, die Herrn Günther beflügelt, sich mit einem guten Rat zu melden, kaum wurde irgendwo gewählt. Der CSU empfahl er nach der Wahl in Bayern, sich neue Leute an der Spitze zu suchen, die alten hätten versagt. Am Abend der Hessenwahl war er mit dem Vorschlag zu vernehmen, die Bundesregierung müsse sich härter in die Riemen legen: „Am Riemen reißen ist das Gebot der Stunde.“ Nach der Wahl in Thüringen wurden die „älteren Männer“ zurechtgewiesen, die Kritik an der Bundeskanzlerin geübt hatten. Das sei die Debatte von Leuten, die „ihre Karriereziele nicht erreicht“ hätten.

Ich weiß nicht, wie die weiteren Karriereziele von Herrn Günther aussehen. Die Wege vom Weisen aus dem Watt ins Kanzleramt sind jedenfalls steinig, die Erfahrung musste schon Björn Engholm machen, der Mann, der wie Habeck redete, als es Habeck noch gar nicht gab.

Huch, nur Männer? Können Frauen nicht nerven? Das kann ja gar nicht sein, eine Liste, auf der Frauen keine Rolle spielen. Deshalb demnächst am selben Ort zur selben Zeit die peinlichsten Prominentinnen. Nicht, dass noch jemand sagt, „Der schwarze Kanal“ benachteilige Frauen. Vielleicht haben Sie ja Favoriten. Wenn Sie Vorschläge haben, schreiben Sie uns.