Wir wollen keine Autoindustrie mehr, die Finanzindustrie sehen wir mit Skepsis und Gentechnik halten wir für Teufelswerk. Die Bürokratie gedeiht, immerhin. Aber ob sich damit eine Industrienation am Leben halten lässt?
Einer der größten Erfolge der Medizin ist der Kampf gegen Diabetes. Es ist noch nicht so lange her, da bedeutete die Krankheit Siechtum und Tod. Ich bin beim Surfen im Netz auf ein Bild gestoßen, das Kinder auf einer Krankenstation in Toronto 1922 zeigte. Die Kinder lagen regungslos in ihren Betten, weil sie die Überzuckerung ins Koma versetzt hatte.
Dann kamen die beiden Mediziner Frederick Banting und Charles Best. Die Wissenschaftler gingen von Bett zu Bett und injizierten den Kindern eine Dosis Insulin, das sie aus der Bauchspeicheldrüse von Hunden gewonnen hatten. Als sie beim letzten Kind angelangt waren, erwachte das erste aus dem Stupor. „Was eben noch ein Bild der Verzweiflung gewesen war, wandelte sich in eine Szene der Freude“, heißt es unter dem Foto.
Haben Sie eine Idee, wie Insulin heute hergestellt wird? Ich möchte sie nicht erschrecken, aber der lebensrettende Stoff wird durch genveränderte Bakterien produziert. In Zukunft könnten gentechnisch veränderte Pflanzen den Job übernehmen. Wenn Sie also Angst vor Gentechnik haben, sollten Sie definitiv kein Diabetiker sein.
Es gibt gute Nachrichten, nicht nur für kranke, sondern auch für arme Menschen: Die EU-Kommission will die Genehmigungsverfahren für genetisch veränderte Lebensmittel verkürzen. Allein über das Ausfüllen der Anträge vergehen bisher Jahre. Jede gentechnisch veränderte Sorte muss außerdem auf speziellen Feldern streng getrennt von anderen Pflanzen angebaut werden, wo sie dann regelmäßig von Gentechnikgegnern zertrampelt wird. Die Forschung ist deshalb in Europa praktisch zum Erliegen gekommen. Das soll wieder anders werden.
Für den Vorstoß der EU-Kommission spricht, zum Beispiel, der Klimawandel. Ohne Pflanzen, die Dürre und schlechten Böden trotzen können, wird es nicht gelingen, die Weltbevölkerung zu ernähren. Aber das überzeugt die Kritiker nicht. Wenn es um Genfood geht, endet der Blick am heimischen Gartenzaun.
Auch unsere Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze hat zu dem Thema eine Meinung. „Die Gentechnik hat in ihrer Geschichte noch keinen wesentlichen Beitrag zur Ernährungssicherung geleistet“, schrieb sie auf Twitter. „Ihr gesellschaftlicher Nutzen wird in der Theorie oft behauptet, aber in der Praxis zielt die Gentechnik auf Patente und Profite.“
Nun gut, Frau Schulze hat wie ich Germanistik studiert. Ich war in Biologie auch keine Leuchte. Aber gibt es in ihrem ganzen Ministerium niemand, der sie von diesem Unsinn hätte bewahren können? Die Deregulierung der Gentechnik sei nicht die Antwort auf den Welthunger, erklärte die Ministerin. „Wir helfen den Hungernden am besten, wenn wir weiter in nachhaltige, klimaangepasste Landwirtschaft vor Ort investieren.“ Ob Frau Schulze Sri Lanka kennt?
Die Insel hat es mit der Wende zur Nachhaltigkeit versucht, und zwar nachhaltig. Vor zwei Jahren stellte Sri Lanka komplett auf biologische Landwirtschaft um. Jeder Einsatz von Pestiziden oder synthetischem Dünger war fortan verboten. Ein Traum jedes Grünen – und ein Albtraum für die Einwohner. Die Reisproduktion fiel binnen sechs Monaten um 20 Prozent, die Tee-Ernte erlitt ebenfalls dramatische Einbußen. Das Land, das eben noch Nahrungsmittel im großen Stil exportiert hatte, erlitt eine beispiellose Hungersnot.
Auch Ängste lassen sich national zuordnen. Der Deutsche fürchtet sich vor allem, was mit Strahlung verbunden ist, weshalb schon die Anschaffung einer Mikrowelle in politisch bewussten Haushalten lange ein Thema war (glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede). Die Strahlenangst wird dicht gefolgt von der Furcht vor Giftstoffen, die man unwissentlich zu sich nimmt.
Die Angst vor dem Genfood verbindete diese beiden Motive Mutation und Vergiftung. Deshalb reicht schon der Verdacht, irgendwo in der langen Nahrungskette, die am Ende zu einem Schnitzel führt, könnte ein genverändertes Korn verborgen gewesen sein, und die Leute verlassen laut schreiend den Supermarkt.
Ich erinnere mich an einen Demonstrationszug in Berlin, bei dem jemand ein Plakat mit dem Satz: „Gegen Gene, für das Leben“ hochhielt. Wenn sich die Bildungskatastrophe irgendwo offenbart, dann hier. Acht Jahre Biologie-Unterricht – und man hält Gene immer noch für eine Substanz, auf die man lieber verzichtet. Sie lachen? Aber wenn schon der Frischkäse damit wirbt, „garantiert gentechnikfrei“ zu sein, dann weiß man, dass die Sache die Nische verlassen hat.
Das Urteil der Wissenschaft fällt eindeutig aus. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina preist die „Vorteile für die Ernährung sowie eine produktive, pestizidarme und ressourcenschonende Landwirtschaft“. Aber was interessiert schon der Konsens der Wissenschaft? Auch 98 Prozent können sich irren, wie wir wissen. War es nicht das, was uns während der Corona-Krise dauernd eingeschärft wurde: Traut nicht dem Konsens, es könnten auch die zwei Prozent Abweichler recht haben? Kleiner Scherz. Der Wissenschaftsfeind steht immer im anderen Lager, wie man sieht.
Ich hatte gedacht, dass sie allerdings in der Bundesregierung weiter wären. Svenja Schulze gehörte bereits dem Kabinett Merkel an und damit einer Regierung, die alles daran setze, die Bürger von den Vorteilen der Gentechnik zu überzeugen. Auch die Corona-Impfstoffe verdanken sich ja nicht der natürlichen Kreuzung im Labor. Aber selbstverständlich hat das eine (Impfen) rein gar nichts mit dem anderen (Essen) zu tun. Das ist die letzte Verteidigungslinie: Biontech ist etwas völlig anderes als Gentechnik!
Der härteste Widerstand kommt von der Generation Gorleben, das ist wie bei der Atomkraft. Bei der Grünen Jugend sieht man die Sache mit Blick auf den Klimawandel inzwischen pragmatischer. Aber so wie man aus Rücksicht auf Jürgen Trittin und die Seinen nicht am Atomausstieg rühren wollte, will man nun aus Rücksicht auf Renate Künast und die Ihren auch die Haltung zur Gentechnik nicht überdenken.
Als der bekannte Pflanzenbiologe Ralf Reski der Entwicklungshilfeministerin zu widersprechen wagte („mit Verlaub, das ist dummes Zeug“), wies ihn Künast scharf zurecht: „Ich blockiere so einen Tonfall.“ Zu seinen Argumenten? Kein Wort. Das ist der Stand der Diskussion.
Es gibt auch eine wirtschaftliche Komponente, das sollte man nicht ganz außer Acht lassen. In der „Frankfurter Allgemeinen“ fand sich dieser Tage ein Interview mit der Biochemikerin Emmanuelle Charpentier, die 2020 den Nobelpreis für ihre Entdeckung der Genschere erhielt.
Seit ein paar Jahren lebt sie in Berlin, wo sie die Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene leitet, aber in ihrem Labor ist die Arbeit an CRISPR/Cas9 weitgehend eingestellt. Es gebe in Deutschland schlicht keine Wissenschaftler mehr, die man für die Arbeit begeistern könnte, berichtet sie in dem Interview. Deutschland sei einfach nicht mehr wettbewerbsfähig in dem Feld. Auch was die grüne Gentechnik angeht, zieht die Nobelpreisträgerin ein düsteres Fazit. „Inzwischen sind viele Unternehmen mit dem wichtigsten Teil der Entwicklung in die USA abgewandert.“
Wir wollen keine Autoindustrie mehr und die Chemieindustrie eigentlich auch nicht. Die Finanzindustrie sehen wir mit Skepsis, und für den Aufbau einer Softwareindustrie waren wir nie clever genug.
Gut, die Bürokratie gedeiht. Man weiß aus Umfragen auch, dass die Grünen ihre treuesten Anhänger im Staatsdienst haben. So schließt sich der Kreis. Aber ob auf Dauer ein Land funktioniert, in dem niemand mehr produktiv tätig ist, weil alle nur noch einander verwalten? Das wäre das Deutschland-Experiment. Wer weiß, vielleicht geht das ja besser aus als das grüne Experiment in Sri Lanka.