Schlagwort: Rassismus

Sagen, wie es ist

Wir werden regelmäßig über die Gefahr des antimuslimischen Rassismus belehrt. Aber es gibt offenbar auch so etwas wie positiven Rassismus, also die Duldung anstößigen Verhaltens, wenn jemand einen Migrationshintergrund hat

In der „Süddeutschen Zeitung“ erschien Mitte Mai ein unerhörter Text, der bis heute erstaunliche Nachwirkungen zeitigt. Vor wenigen Tagen erst musste die Berliner Schulsenatorin bekennen, nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Wäre man nicht in Berlin, würde man an der Eignung der Frau zweifeln.

Der Text schildert das Schicksal des Berliner Lehrers Oziel Inácio-Stech, eines besonders engagierten Pädagogen, wie Kollegen bezeugen. Inácio-Stech unterrichtete an der Carl-Bolle-Grundschule im Berliner Bezirk Moabit Kinder mit besonderem Förderbedarf. Die Carl-Bolle-Grundschule gilt als Brennpunktschule, 95 Prozent der Schüler haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Es war der ausdrückliche Wunsch des Lehrers, an dieser Schule zu unterrichten. Er wollte die Welt ein Stück besser machen, wie er sagt.

Nach allem, was man weiß, war Inácio-Stech bei seinen Schülern anerkannt und beliebt. Das änderte sich schlagartig, als in einer Unterrichtsstunde die Frage aufkam, mit wem er denn verheiratet sei, und er wahrheitsgemäß sagte, mit einem Mann. Seitdem ist nichts mehr, wie es war. Inácio-Stech wurde beschimpft und bedroht. Schüler bezeichneten ihn als Schwuchtel. Er sei eine Familienschande und eine Schande für den Islam. Wohlgemerkt, wir reden nicht von 17-Jährigen, die vor Kraft nicht laufen können, sondern von Fünftklässlern.

Der Bericht war auch deshalb unerhört, weil er mit einem Tabu brach. Eine Reportage über einen schwulen Mann, dem muslimische Kinder das Leben zur Hölle machen? Das ist normalerweise nicht das, was man auf den Seiten der „Süddeutschen“ zu lesen bekommt. Wenn Probleme mit Zuwanderern aus Ländern wie dem Libanon oder Afghanistan geschildert werden, dann in der Regel so, dass man anschließend sagt: Nicht schön, aber die haben’s ja auch nicht leicht.

Der Text enthält eine zweite Geschichte, die beinah noch düsterer ist. Diese Geschichte handelt vom Versagen der Schulleitung. Man sollte meinen, dass der bedrängte Pädagoge sofort Hilfe bekam. Mobbing gilt im Schulalltag gemeinhin als schweres Vergehen. Aber nichts da. Tatsächlich wurde Inácio-Stech alleingelassen.

Mehr noch: Die Schulleitung bezichtigte ihn, Grenzen nicht gewahrt zu haben. Die Schule werde „von überdurchschnittlich vielen Kindern aus traditionellen Elternhäusern“ besucht, erklärte der Personalrat. Er möge sein pädagogisches Konzept bitte der „sozialen Ausgangsvoraussetzung“ an der Carl-Bolle-Grundschule anpassen.

Die Schulaufsicht belehrte ihn „vorsorglich“, dass man von ihm einen „professionellen Umgang mit Schülerinnen und Schülern“ erwarte. Dazu gehöre „die Vermittlung einer offenen und nicht diskriminierenden Weltanschauung“. Das klang so, als seien die Schüler belästigt worden, als ihr Lehrer bekannte, schwul zu sein – und nicht der Lehrer durch die Schüler.

Was bringt eine Schulleitung dazu, sich gegen eine Lehrkraft zu stellen, der erkennbar Unrecht geschah? In jedem Mobbing-Seminar würde man von Täter-Opfer-Umkehr sprechen. Der Fall hat inzwischen auch politische Weiterungen. Auf Nachfrage erklärte die Schulsenatorin, von den Vorgängen nichts gewusst zu haben, gleichlautend äußerte sich ihre Behörde. Ende letzter Woche, als diese Version nicht länger haltbar war, teilte sie in einer „persönlichen Erklärung“ mit, doch informiert gewesen zu sein.

Ich musste an den Fall der Grooming-Gangs denken, der in England hohe Wellen schlägt. In einer Reihe von englischen Kleinstädten konnten pakistanische Männer minderjährigen Mädchen über Jahre ungehindert nachstellen. Die Mädchen, oft aus schwierigen sozialen Verhältnissen, wurden mit Drogen gefügig
gemacht und zu sexuellen Handlungen gezwungen. Alle Hinweise auf den systematischen Missbrauch versickerten bei den Behörden oder wurden aus Angst, als rassistisch zu gelten, ignoriert.

Wir werden regelmäßig über die Gefahr eines antimuslimischen Rassismus belehrt. Eine eigene Meldestellen-Infrastruktur ist pausenlos damit beschäftigt, offene und verborgene Diskriminierung aufzuspüren. Aber es gibt offenbar auch so etwas wie positiven Rassismus, also die Duldung anstößigen Verhaltens, weil jemand über einen Migrationshintergrund verfügt.

Ich glaube, die meisten Menschen sind durchaus in der Lage zu differenzieren. Wenn sie vom Fehlverhalten Einzelner hören, folgt daraus nicht automatisch, dass sie alle in Mithaftung nehmen. Das ist übrigens die Definition von Rassismus: vom Verhalten einiger Missetäter auf die gesamte Gruppe zu schließen.

Aber viele Journalisten trauen ihren Lesern dieses Differenzierungsvermögen nicht zu. Deshalb werden große Anstrengungen unternommen, dem Publikum die Herkunft vorzuenthalten. Das trägt mitunter kuriose Züge. Dann ist vage von einer Hochzeitsgesellschaft die Rede, die mit einem Autokorso die A 8 blockiert habe. Was denken sich die Redakteure, die solche Meldungen absetzen? Dass die Leser nicht eins und eins zusammenzählen können? Unter Deutschstämmigen ist der Autokorso als Ausdruck der Begeisterung eher ungebräuchlich.

Die „Spiegel“-Redakteurin Anna Clauß hat im Februar ebenfalls einen unerhörten Text veröffentlicht. „Neulich überkam es mich wieder. Dieses Unbehagen Migranten gegenüber. Gefolgt von einem Schreck über das plötzlich aufgetauchte rechtskonservative Gedankengut in meinem Kopf“, so fängt der Text an.

Clauß schilderte dann, dass der muslimische Freund ihres Sohnes nicht zum Kindergeburtstag erschienen sei. Seine Eltern hätten es auch nicht für nötig befunden abzusagen. Es folgte eine Beobachtung aus der Kita, wo die Leitung Schweinefleisch vom Speiseplan genommen habe, und das Bekenntnis, konservativer zu denken, seit der Sohn mit Paschasprüchen aus der Grundschule nach Hause komme und der Mutter vorhalte, sie sei „ehrlos“.

Weil wir beim „Spiegel“ sind, endete der Text mit einem Loblied auf die Bereicherung durch fremde Kulturen. Auf der nächsten Redaktionskonferenz war trotzdem die Hölle los. Clauß wurde vorgeworfen, Vorurteile gegen Minderheiten zu befördern. Ein besonders aufgeregter Redakteur verstieg sich zu der Anklage, sie würde das Leben von migrantischen Menschen gefährden.

Ein paar Kollegen versicherten ihr später, sie sähen es wie sie, aber die Botschaft war gesetzt: Wer sich öffentlich so äußert wie Clauß, muss damit rechnen, vor versammelter Mannschaft gekielholt zu werden. Deshalb ist auch im „Spiegel“ so selten von Problemen die Rede, die sich nicht mit einem grünen Sozialprogramm aus der Welt schaffen lassen.

Ich bin sicher, dass viele Leser den inkriminierten Text ganz anders gelesen haben. Sie haben ihn als Bestätigung verstanden, dass sie mit ihrem Blick auf die Welt nicht allein stehen. Das Unbehagen, von dem Clauß schrieb, erfüllt viele Menschen, die mit offenen Augen durch die Welt gehen.

Was ist zu tun? Mein Vorschlag wäre: sagen, wie es ist. Eine Gesellschaft, die es vorzieht, unangenehme Dinge auszublenden, wahrt oberflächlich den Frieden. Aber das endet wie in jeder dysfunktionalen Familie: Irgendwann kommt das Verdrängte hoch, und dann wird es sehr schnell sehr hässlich.

Das N-Wort-Verbot: Über den verzweifelten Versuch, die Wirklichkeit zu korrigieren

Dass man das „N-Wort“ nicht mehr sagt, ist klar. Aber auch aus Romanen und Reportagen soll es verschwinden, bald ist sogar die Abkürzung tabu. Über den verzweifelten Versuch einer Wirklichkeitskorrektur

Ein Buchhändler aus München hat mich angeschrieben, um mich auf einen Roman aufmerksam zu machen. Genauer gesagt: auf eine Seite darin.

Das Buch stammt von dem Berliner Reporter Dirk Kurbjuweit und heißt „Der Ausflug“. Es handelt von vier jungen Westdeutschen, die zu einer Kanutour nach Ostdeutschland aufbrechen, einer der vier ist schwarz. Wie nicht anders zu erwarten, kommt es zu Problemen mit der einheimischen Bevölkerung.

Auf der Seite, die mir der Buchhändler zuschickte, hat der trinkende Dorfnazi seinen Auftritt. Die vier Freunde sitzen in der Ortskneipe und stoßen auf die bevorstehende Kanutour an. „Seit wann können N… paddeln?“, ruft der Nazi dazwischen.

Ich habe das Wort nicht abgekürzt, die Auslassungszeichen hat der Autor vorgenommen. Nimmt man den Satz wörtlich, muss man zu dem Schluss kommen, dass inzwischen auch ostdeutsche Nazis darauf achten, nicht unter Rassismusverdacht zu geraten. Aber so ist es selbstverständlich nicht gemeint.

Das Buch bewegt sich auf der Höhe der Zeit, das muss man anerkennen. Gerade hat sich der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer in einem Anfall von politischem Tourette unmöglich gemacht, indem er einen Auftritt an der Frankfurter Uni dazu nutzte, das verfemte Wort mehrfach auszusprechen. Am Montag gab Palmer seinen Austritt bei den Grünen bekannt. Er wolle professionelle Hilfe suchen, um an sich zu arbeiten, erklärte er außerdem.

Wenn es nach mir ginge, könnten wir morgen die Auslöschung des „N-Wortes“ beschließen. Ich habe nie zu denen gezählt, die finden, dass man an Worten festhalten müsse, nur weil man sie schon immer benutzt habe. Uns ist auch nichts verloren gegangen, als wir uns von „Schlitzaugen“, „Fidschis“ oder „Spaghetti“ als Bezeichnung für andere Menschen verabschiedet haben.

Dummerweise halten sich nicht alle an das Aussprechverbot, das böse Wort wird in bestimmten Kreisen weiter seinen Reiz haben. Es wird vermutlich sogar Menschen geben, die es jetzt erst recht wertschätzen, weil der Beleidigungscharakter in dem Maße zunimmt, in dem man einen Begriff unter Tabu stellt. Auch das muss man im Zweifel hinnehmen.

So sehr ich den Wunsch teile, Beleidigungen aus der Welt zu schaffen: Ich fürchte, die Konsequenzen sind nicht durchdacht. Wenn nicht nur das gesprochene, sondern auch das geschriebene Wort als so anstößig gilt, dass man es besser vermeidet: Warum bei Romanen stehen bleiben? Auch Zeitungsreportagen, wissenschaftliche Studien und überhaupt jede Form der Wirklichkeitserfassung muss sich dann eine Überprüfung gefallen lassen.

Ich sehe die Diskussion bei der „Zeit“ oder der „Süddeutschen“ vor mir. Ein junger Reporter war im Osten unterwegs und liefert Szenen aus dem AfD-Milieu. Einer der darin auftauchenden Funktionäre liebt es, rassistisches Vokabular zu benutzen, er ist geradezu besessen davon. Darf der Reporter nun die Realität beschreiben, auch in ihren abstoßenden Seiten? Oder muss er sie filtern, indem er Abkürzungen oder Umschreibungen des Gesagten benutzt?

Es schließt sich ein weiteres Problem an. Das verfemte Wort ist ja nicht aus der Welt, indem man es abkürzt. Was meint der Dorfnazi bei Kurbjuweit mit „N…“, was verbirgt sich hinter den drei Pünktchen? Neuling, Normalo, Nichtsnutz? Vermutlich meint er genau das, woran wir denken, wenn wir den Buchstaben lesen. So ist es ja auch gedacht: Alles andere würde der Intention des Romans zuwiderlaufen und den späteren Handlungsverlauf unverständlich erscheinen lassen.

Kurbjuweit erwartet also, dass sich im Kopf des Lesers das Wort formt, das er selbst nicht nennen will. Wenn der Autor aber davon ausgeht, dass ohnehin jeder weiß, was gemeint ist, warum nennt er es dann nicht selbst? Aus Rücksichtnahme, würde er vermutlich sagen. Aber müsste echte Rücksichtnahme nicht bedeuten, dass man ganz auf die Nennung verzichtet?

In den USA hat sich genau so ein Fall zugetragen, der Amerika-Korrespondent René Pfister erwähnt ihn in seinem Bestseller „Ein falsches Wort“. Ein Juraprofessor an der University of Illinois Chicago benutzte in einer Klausur, in der die Studenten einen Diskriminierungsfall zu beurteilen hatten, das „N-Wort“ in der abgekürzten und damit scheinbar zulässigen Form. Mehrere Studenten wandten sich darauf an die Unileitung und beklagten, jede Erinnerung an das Leid der Sklaverei wirke traumatisierend, dazu zähle auch der Buchstabe „N“, da er ja stellvertretend für die Abwertung stehe. Der Professor wurde suspendiert.

Schreibweisen ändern sich, Wortbedeutungen ebenfalls. Was eben noch okay war, kann morgen als Herabwürdigung gelten. Das geht mitunter sehr schnell. Auf Twitter kursierte in den vergangenen Tagen ein Videoclip, in dem sich Jan Böhmermann darüber lustig macht, dass man zu Negerküssen nun Schokoküsse sagen solle. Er nennt das Wort „Negerkuss“ mehrfach mit großer Wonne. Der Clip ist von 2016. Ich kann mir nicht vorstellen dass Böhmermann sich heute noch trauen würde, so zu reden.

Es gibt auch die fröhliche Brutalität der zur Schau gestellten Unschuld. Ich weiß noch, wie ich mich innerlich wand, wenn mein Vater von „Schwatten“ redete. Wieso, sagte er, das ist doch nicht böse gemeint. Ich fand das Beharren auf die vermeintliche Harmlosigkeit des Gesagten befremdlich. Wenn eine überwältigende Mehrheit der Angesprochenen einen Begriff als Beleidigung empfindet, tut man gut daran, nicht darauf zu bestehen, dass man besser als sie wisse, was eine Beleidigung sei.

Aber inzwischen frage ich mich, ob wir nicht zu viel des Guten tun. Von der Rücksichtnahme im Umgang miteinander zur Verfälschung der Wirklichkeit ist es nicht weit. Wenn der Rassist nicht mehr wie ein Rassist reden darf, gibt es irgendwann keinen Rassismus mehr. Auch so lässt sich das Problem des Rassismus lösen. Ich bezweifele nur, dass der Sache damit gedient ist.

Heute sind es die People of Color, die auf einer Umschreibung der Wirklichkeit bestehen, morgen die Transmenschen. Das Gesetz dazu ist schon in Arbeit. Im sogenannten Selbstbestimmungsgesetz findet sich eine Vorschrift, wonach die Nennung des alten Namens künftig unter Strafe stehen soll. Wer über eine Transfrau sagt, dass sie als Mann geboren wurde, verstößt gegen das „Offenbarungsverbot“ und riskiert eine Geldstrafe von bis zu 10000 Euro. Es ist nicht ganz klar, ob sich die Regelung auch auf Journalisten erstreckt. Etwas nebulös ist in dem Gesetzentwurf davon die Rede, dass „besondere Gründe des öffentlichen Interesses“ vorliegen müssten, um von einer Strafe abzusehen.

Deadnaming ist in der Szene eine ernste Angelegenheit. Ich erinnere mich an die Schwierigkeiten, in die der „Spiegel“ geriet, als er seine Leser darüber unterrichtete, dass die Schauspielerin Ellen Page jetzt Elliot heiße. Ich möchte nicht in der Haut von Nachrichtenredakteuren stecken. Wie sollen sie ihrem Publikum mitteilen, dass ein bekannter Mensch das Geschlecht gewechselt hat, wenn bereits der Hinweis auf die bisherige Karriere unter anderem Namen als Verstoß gegen die guten Sitten gilt? Ohne Ellens Filme wüsste niemand, wer Elliot ist.

Meine Frau sagt, warum schreibt dein Kollege überhaupt über Nazis im Osten. Hätte er sich nicht ein anderes Thema suchen können? Das ist, wenn man so will, die pragmatische Sicht auf die Dinge. Einfach umschiffen, was unangenehm werden könnte. Aber wenn man damit anfängt, um alles einen Bogen zu machen, womit man sich Ärger einhandeln könnte, kann man als Journalist oder Schriftsteller einpacken. Dann bleibt als Ausweg nur noch Enid Blyton.

Ich sehe auch keine einfache Lösung. Vielleicht ist eine Antwort, dass man zwischen gesprochener und geschriebener Sprache unterscheidet. Man könnte auch Texte, die böse Worte enthalten, mit einem Warnhinweis versehen: „Achtung, Weiterlesen auf eigene Gefahr.“ Klingt vielleicht lächerlich. Aber wenn das der Preis ist, dass wir nicht vor der Realität die Augen verschließen, dann wäre ich bereit, ihn zu zahlen.

© Silke Werzinger

Shithole-Sender

Ein junger Journalist wird von seinem Arbeitgeber, dem RBB, des Rassismus bezichtigt. Sein Vergehen? Er hat eines der brutalsten Länder der Welt als „Shithole-Country“ bezeichnet. Das reicht, um bei den Programmverantwortlichen in Ungnade zu fallen

Am Nachmittag des 18. Oktober setzte der Journalist Jan Karon einen Tweet ab, der ihm erst wütende Angriffe von linker Seite und dann eine Schmähung durch seinen Arbeitgeber eintragen sollte.

Der Tweet lautete folgendermaßen: „Somalia ist ein Shithole-Country mit Steinzeitkultur. Wenn ein Migrant aus Somalia zwei Menschen absticht und zwei weitere verletzt, ist das ein Problem. Wenn dies 800 Meter von deinen Eltern am Ort passiert, an dem du aufgewachsen bist, ist das schockierend.“

Wenige Stunden bevor Karon das schrieb, war ein Mann in Ludwigshafen mit einem Küchenmesser auf Passanten losgegangen und hatte wahllos auf die Umstehenden eingestochen. Karon ist in Ludwigshafen groß geworden, im Stadtteil Oggersheim. Als er auf den Fotos vom Tatort einen Drogeriemarkt sah, in dem Polizisten erste Beweise sicherten, erkannte er sofort den Rossmann, bei dem er früher einkaufen war. Das erklärt möglicherweise Betroffenheit und Wortwahl.

Es dauerte nicht lange, bis sich die ersten Verfolger an die Fersen des jungen Mannes hefteten. „Hier macht sich ein als ,freier Reporter‘ verkleideter Rassist breit“, schrieb die Internet-Hetz- und Nervensäge Nils Gerster (2684 Follower), ein unterbeschäftigter Politikwissenschaftler, der sich auf den verspäteten Kampf gegen Nazis verlegt hat. Karon sei vielleicht kein Rassist, sein Tweet aber eindeutig rassistisch, erklärte der Blogger und IT-Anwalt Thomas Stadler (18443 Follower), eine andere (Klein-)Größe des linken Twitter-Kosmos.

Kurz vor Mitternacht, zu einem Zeitpunkt, an dem andere schon zu müde oder zu betrunken sind, um sich noch öffentlich zu äußern, wandte sich schließlich die Autorin Jasmina Kuhnke (138091 Follower) direkt an den Sender, für den Karon arbeitet. „Hallo ARD-Presse und RBB24“, schrieb Kuhnke. „Wisst ihr, was ein (freier?) Mitarbeiter hier auf Twitter von sich gibt? Greift hier nicht sogar Strafgesetzbuch (StGB) § 130 Volksverhetzung? Eine Stellungnahme eurerseits wäre hier angebracht!“

Wenn es ein Land gibt, auf das die Bezeichnung Shithole zutrifft, dann Somalia. Nach allen Kriterien, an denen sich zivilisatorische Standards bemessen, ist das Land die Vorhölle auf Erden. 98 Prozent der Frauen sind genitalverstümmelt, praktisch die gesamte männliche Bevölkerung ist auf Droge. Schwule werden sofort an die nächste Tür genagelt, und bei der Christenverfolgung belegt das Land einen der allerersten Plätze. Es mag Leute geben, die Karons Ausdrucksweise trotzdem für unangebracht halten. Aber ist sie volksverhetzend?

Doch, das ist sie, wenn man dem RBB glauben darf, der ARD-Anstalt, für die Karon über eine Berliner Produktionsgesellschaft hochgelobte Reportagen erstellt. Es ist nach Ansicht des Senders sogar noch schlimmer: Wer sich so äußert wie der junge Reporter (Karon ist gerade 30 Jahre alt geworden), der macht sich der Verbreitung von Menschenfeindlichkeit schuldig.

„Wir verstehen und teilen die Kritik an den Äußerungen und sind mit der Produktionsfirma im Gespräch über mögliche Konsequenzen. Wir als RBB verurteilen jegliche Form von Rassismus.“ So lautete, zwölf Stunden nachdem Kuhnke eine Stellungnahme gefordert hatte, eine Erklärung aus der Pressestelle. Was bis eben die Meinung von ein paar Internet-Krakeelern war, hatte damit den Rang eines quasioffiziellen Verdikts erreicht.

Ich habe mit Karon telefoniert. Innerhalb eines Tages von einer Nachwuchshoffnung, die auch schon für so fortschrittliche Medien wie „Zeit Online“ oder „Vice“ gearbeitet hat, zu einer Art Paria, der von einer Anstalt des öffentlichen Rechts als Rassist hingehängt wird – das kommt nicht alle Tage vor. Da will man doch wissen, mit wem man es zu tun hat.

Man kann sich die Filme, in denen Karon als Moderator eine prominente Rolle einnimmt, online ansehen, sie sind unter der Überschrift „Schattenwelten Berlin“ in der Mediathek verfügbar. In einem Feature geht es um zweifelhafte Wohnungsdeals in der Hauptstadt, in einem anderen über die Rave-Kultur im Untergrund der Stadt. Für November ist die Lieferung einer neuen Staffel verabredet.

©Sören Kunz

Man sollte annehmen, dass sich die Sendeleitung vor den Mitarbeiter stellt, mit dessen Arbeiten man sich schmückt. Oder zumindest mal bei ihm nachfragt, was er sich bei seiner Äußerung gedacht hat, bevor man auf Beschuldigungen reagiert. Auch Fernsehanstalten haben eine Fürsorgepflicht. Aber das scheint beim RBB niemand zu interessieren. „Wir stehen zu unseren Leuten“ ist ein Satz, den man toll findet, solange er von Chefredakteuren auf der Leinwand geäußert wird. Im wirklichen Leben fliegen beim kleinsten Gegenwind die einfachsten Anstandsregeln aus dem Fenster.

Auch alle Hilferufe gingen ins Leere. Eine SMS an die Leiterin Reportage, in der Karon darum bat, dass sich der Sender vor ihn stellen möge, blieb erst einmal ohne Antwort. „Liebe Ute, ich weiß nicht, ob du gerade mitbekommst, was passiert“, schrieb er und schilderte die Anfeindungen, denen er sich ausgesetzt sah, bis hin zu Gewaltandrohungen. „Ich würde mir vor diesem Hintergrund höflich Solidarität wünschen.“

Erst nachdem der RBB den Stab über den Kollegen gebrochen hatte, kam es zu einem Telefonat. Man habe Schaden vom Haus abwenden müssen, erklärte die Ressortleiterin. Die Äußerungen zu Somalia seien kontrovers gewesen, es gehe darum, dass man keine rechten Narrative bediene. Es gab Zeiten, da war „kontrovers“ ein Wort, das auch im Rundfunkhaus in der Masurenallee in Berlin noch einen guten Klang hatte.

Viel war in den vergangenen Wochen vom Finanzgebaren an der Spitze des RBB die Rede. Von Massagesitzen für die Intendantin, zu teurem Parkett und falsch abgerechneten Abendessen. Dass dies ein Skandal sei, darauf können sich alle sofort einigen. Aber für viel bedenklicher als ein paar unkorrekte Spesenabrechnungen halte ich die Feigheit, die sich bis in die höchsten Etagen zieht. Wie es aussieht, gibt es nicht nur Shithole-Countries, sondern auch Shithole-Sender.

Was ist die Lektion, die junge Journalisten lernen, wenn eine Sendeleitung nach der ersten Aufforderung einknickt? Dass es sich auszahlt, mutig seine Meinung zu vertreten, Risiken einzugehen, sich mit Pressure-Groups anzulegen? Eher nicht. Wobei einknicken, genau besehen, das falsche Wort ist. Das setzt ja voraus, dass es zuvor so etwas wie Widerstand gegeben habe. Leute wie die RBB-Leiterin Reportage kommen gar nicht auf die Idee, sich dem Mob entgegenzustellen, weil sie längst flach auf dem Boden liegen.

Es wäre so einfach. Man müsste nur sagen: Mit uns nicht. Es ist in dem Fall – wie so oft – ja noch nicht einmal so, dass der Presserat kopfstünde oder ganz Twitter-Deutschland eine Erklärung verlangen würde. Es sind in der Regel immer dieselben Leute, die im Netz Bambule machen, wenn jemand die von ihnen vorgegebenen Sprachregeln verletzt. Ich könnte mühelos ein Diagramm mit 30 bis 40 Namen der Schreihälse erstellen, die immer dabei sind. Aber viel mehr sind es meist eben auch nicht.

Die Bedrohung für die Meinungsfreiheit geht nicht von Aktivisten wie Jasmina Kuhnke aus, die offensichtlich mit ihrer Zeit nichts Besseres anzufangen wissen, als bis tief in die Nacht vermeintliche Feinde auszugraben und anzuzählen. Die wahren Totengräber der Meinungsfreiheit sind die Leute an den Schalthebeln, die aus Bequemlichkeit oder Opportunismus nachgeben.

In vielen Chefredaktionen und Programmetagen denken sie, dass es den Aufruhr dämpft, wenn sie den Krawallmachern entgegenkommen. Interessanterweise tritt meist das Gegenteil ein. Je mehr man Verständnis zeigt, desto eher fühlen sie sich auf der anderen Seite ermuntert nachzulegen. Diese Leute geben erst Ruhe, wenn das Opfer am Boden liegt und nicht mehr zuckt – oder wenn sie zu ihrer Überraschung ignoriert werden. Dann fällt ihnen außer einem großen Lamento nicht mehr viel ein.

Auch das ist dann schnell vorbei. Es sind ja, wie gesagt, nur 30 bis 40 Leute.