Ein Bürger, der nichts von ihm will, ist dem Sozialpolitiker unheimlich. Wer keine Leistungen bezieht, ist dem Staat auch nichts schuldig. Deshalb arbeitet der Sozialstaat daran, alle zu Leistungsempfängern zu machen – das ist sein wahres Ziel
Ich habe vor drei Wochen über das Bürgergeld geschrieben. Als Grundlage diente mir eine Berechnung aus dem Bundessozialministerium, wonach eine vierköpfige Familie ab Januar Anspruch auf 2502 Euro hat.
Ich habe meine Leser eingeladen, bei Gelegenheit mal den Brutto-Netto-Rechner anzuwerfen, was Sie als Familienvater, zwei Kinder, Steuerklasse 3 verdienen müssen, um da mithalten zu können. Arzthelfer, Paketzusteller, Bäcker, Kindergärtner, Kellner, Verkäufer, Busfahrer sind schon mal raus. Deswegen fehlen sie ja auch überall.
Kaum war der Text erschienen, sah ich mich mit Gegenrechnungen konfrontiert. Mehrere Leser wiesen darauf hin, dass ich beim Bäcker das Wohngeld übersehen hätte. Auch der Bäcker habe Anspruch auf Mietzuschuss. Dann schaltete sich die Vorsitzende des Rats der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, ein. Meine Rechnung sei falsch. Wenn man Kindergeld und Wohngeld berücksichtige, habe der Bäcker 1000 Euro mehr an verfügbarem Monatseinkommen als der Bürgergeldempfänger.
Mir kam das bekannt vor. Immer, wenn ich in einer Talkshow sitze, sagen alle, wie mickrig die Sozialsätze doch seien. Binnen zwei Minuten ist das Bürgergeld so runtergerechnet, dass man sich schämt, überhaupt darüber gesprochen zu haben.
Mit dem Bürgergeld verhält es sich ein wenig wie mit der Definition von Pornografie. Fragen Sie 15 Leute und Sie erhalten 15 verschiedene Auskünfte. Man kann darin System sehen, wenn man will. Wenn selbst die Experten uneinig sind, wie hoch die staatlichen Leistungen denn nun ausfallen, ist das vermutlich kein Zufall.
Je länger man sich mit der Materie befasst, desto komplizierter wird es außerdem. Dass Geringverdiener ihr Gehalt durch den Bezug von Bürgergeld aufbessern können, das wusste ich. Die Leute heißen dann Aufstocker. Aber dass man auch als ganz normaler Arbeitnehmer Anspruch auf Wohngeld hat? Das war mir nicht bewusst. Ich bezweifele, dass mein Bäcker in Pullach Wohngeld beantragt hat oder der Kellner nebenan im Rabenwirt. Aber es stimmt: Die beiden könnten, wenn sie wollten.
Wäre es nicht geschickter, man würde den Leuten mehr von ihrem erarbeiteten Geld lassen? Dann müssten sie auch keine Sozialleistungen beantragen. Also Steuersätze runter, anstatt ihnen übers Sozialamt wieder einen Teil von dem zurückzugeben, was man ihnen vorher abgenommen hat. Aber wer so denkt, hat das Prinzip des Sozialstaats nicht verstanden. Sein Ziel ist es, alle zu Leistungsempfängern zu machen. Deshalb ist das entscheidende Wort auch nicht Selbstbestimmung, sondern Umverteilung.
Erst wenn der letzte Deutsche zum Kostgänger gemacht worden ist, gibt sich der deutsche Wohlfahrtsstaat zufrieden. Wobei das stimmt nicht, da muss ich mich korrigieren: Es ist völlig unerheblich, ob jemand deutscher Staatsbürger ist oder nicht, um in den Genuss von Sozialtransfers zu kommen. 2024 wird mit großer Wahrscheinlichkeit das Jahr sein, in dem die Zahl der Bürgergeldempfänger ohne deutschen Pass die der Nutznießer mit deutschem Pass übersteigt.
Ein Bürger, der nichts von ihm will, ist dem Sozialpolitiker unheimlich. Wer keine Leistungen bezieht, ist dem Staat auch nichts schuldig. Das aber wäre dann ein Bürger, vor dem man sich vorsehen muss. Er könnte ja zu Aufsässigkeit neigen.
Dass es darum gehe, den in Not Geratenen beizustehen, ist das Mantra der Sozialstaatsfreunde. In Wahrheit dient nur der kleinste Teil des gewaltigen Sozialbudgets noch dem „Schutz und der Daseinshilfe in Notlagen“, wie es im Rechtslexikon heißt. Wenn es eine Lebensleistung gibt, für die die Nachkriegslinke uneingeschränkt Kredit beanspruchen kann, dann den Umbau des Sozialstaats von einer Grundsicherung gegen die großen Schadensfälle des Lebens zum umfassenden Für- und Nachsorgesystem.
Auf 14 Bücher und 5784 Seiten bringt es die aktuelle Ausgabe des Sozialgesetzbuchs, die Magna Charta des deutschen Wohlfahrtsstaats. Wie viele Versorgungswege über die Jahre gegraben wurden und welche Ergebnisse der Umverteilungsapparat im Einzelnen erzielt, kann niemand seriös sagen. Vollends den Überblick verliert, wer den Versuch unternimmt, die Transferströme innerhalb eines deutschen Durchschnittshaushalts zu erfassen. Dort haben sich die Negativtransfers, also alle Gehaltsabzüge und Steuerzahlungen, mit den Positivtransfers des Sozialstaats so verknäult, dass nicht einmal der Haushaltsvorstand weiß, ob er am Ende nun draufzahlt oder nicht.
Im Grund braucht es Soziallotsen, um sich zurechtzufinden, das ist die Konsequenz. Ich bin bei der Zeitungslektüre darauf gestoßen, dass sich allein im Verantwortungsbereich der Bundesfamilienministerin Lisa Paus 150 verschiedene familienpolitische Leistungen angesammelt haben. Frau Paus wurde sehr dafür gescholten, dass sie von dem Geld, das sie für die Kindergrundsicherung losgeeist hat, erst einmal Beamte einstellen will. 5000 neue Stellen will sie schaffen, damit die Hilfsgelder auch bei bedürftigen Familien ankommen. Aber das liegt in der Logik des Sozialstaats: Ohne Fachberatung läuft nichts.
Kein Wunder, dass viele das Gefühl haben, sie kämen zu kurz. Ein System, das darauf ausgelegt ist, ständig neue Sozialleistungen zu erfinden, muss zu schlechter Laune führen. Mit jeder weiteren Leistung verstärkt sich das Gefühl, dass man etwas übersehen hat, was man auch noch hätte beantragen können, wenn man nur die Zeit finden würde, sich noch eingehender mit den Details zu beschäftigen. Vielleicht sind die Deutschen deshalb so missmutig.
Es gibt noch Menschen, denen es der Stolz verbietet, beim Sozialamt vorstellig zu werden. Aber das ist eine Minderheit. Wer verschmäht, was ihm zusteht, gilt heute als Trottel. Es gibt eine ganze Industrie, die davon lebt, den Bedürftigen und allen, die es werden wollen, den Weg zu weisen. Oben sitzen die Sozialverbände, die jedes Jahr neue Horrorzahlen über die angeblich grassierende Armut veröffentlichen. Unten stehen die Berater, die den Leuten einreden, ja auf keinen Euro zu verzichten.
Beim mit Abstand größten Posten des Haushalts, dem Sozialbudget, wird selbstverständlich nicht gespart. Die Vorschläge konservativer Politiker, in der Haushaltskrise auch noch einmal über die Höhe des Bürgergelds nachzudenken, seien moralisch unverantwortlich, hat Arbeitsminister Hubertus Heil gesagt. „Wer Menschheit sagt, will betrügen“, heißt es bei Carl Schmitt. Ich weiß, Schmitt war ein schlimmer Finger. Aber die Lebenserfahrung lehrt, dass Vorsicht geboten ist, wenn es zu luftig wird. Wenn Politiker ins Moralfach greifen, sieht’s bei den handfesten Argumenten eher dünn aus.
Der Wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums hat ebenfalls eine Berechnung zur Höhe des Bürgergelds vorgelegt. Demnach hat eine vierköpfige Familie in München inklusive Miete Anspruch auf 2732 Euro – im Durchschnitt. In der Spitze beträgt der „Mindestbedarf“ sogar 3333 Euro. Klar, München ist auch ein teures Pflaster. In Hamburg, Köln oder Düsseldorf sieht es allerdings nicht viel anders aus. Ich will ja nicht zu defätistisch klingen. Aber ich verstehe den Bäcker, der sich fragt, ob es sich wirklich lohnt, jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe aufzustehen, wenn es finanziell keinen großen Unterschied macht – Wohn- und Kindergeld hin oder her.
© Michael Szyszka