Die Verlängerung des Lockdowns beruht auf einer Computersimulation. Dummerweise verhält sich der Mensch anders, als die Modelle es vorsehen. Also wird der Mensch jetzt an das Modell angepasst
Als im April 2010 der isländische Vulkan Eyjafjallajökull ausbrach, schlossen die Behörden für Tage den Luftraum über Europa. Tausende von Flügen wurden gestrichen oder zu anderen Flughäfen umgeleitet.
Die unsichtbare Wolke, die den Flugverkehr lahmlegte, bestand nicht aus Asche und Staub, sondern aus einem Schwarm von Daten. Weil es keine Erfahrung gab, wie sich die Staubpartikel auf Triebwerke und Tragflächen auswirken würden, behalfen sich die Aufsichtsbehörden mit einer Computersimulation. An die Stelle der Empirie trat die Risikoprognose, an die Stelle von realen Messungen über die Luftkonzentration von Schwebeteilchen die Modellrechnung.
„Heute stoppt die Computersimulation den Flugverkehr, zu Kosten, die täglich in die Hunderte Millionen gehen“, schrieb der „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher, der als Erster die Bedeutung dieses Modellversuchs erfasste. „Was wird sie morgen tun? Was tut sie jetzt schon, ohne dass wir es ahnen? Und was ist der Preis?“
Wir kennen die Antwort auf Schirrmachers Frage. In einer bis dato für utopisch gehaltenen Versuchsanordnung ist nun bewiesen, dass die Modelle aus dem Computer nicht nur den Flugverkehr stoppen können, sondern das gesamte soziale Leben. Und der Preis dafür sind nicht Hunderte Millionen Euro, der Preis ist das Fundament ganzer Branchen und Volkswirtschaften.
Die Pandemie ist mehr als der Sieg des Virus über den Menschen, sie ist auch ein Triumph der Simulation und der Datenphysiker. Kein Tag, an dem man uns nicht auf Modelle verweist, die uns voraussagen, welchen Verlauf die Infektionskurven nehmen werden, wenn wir in unserem Bemühen nachlassen.
Es wäre ein groteskes Missverständnis, die über alle Medien verbreiteten Grafiken mit ihren steigenden und fallenden Linien für eine Illustration der Infektionsdynamik zu halten. Sie sind Warntafeln, die unsere ungeteilte Aufmerksamkeit verlangen, ja: unseren Gehorsam. Seht her, lautet der Begleittext, wenn ihr euch nicht so einschränkt, wie es die Wissenschaftler aus den Datenlabors empfehlen, dann wird das Virus mit unverminderter Wucht über euch kommen.
Die Frage, die Schirrmacher vor elf Jahren aufwarf, stellt sich mit neuer Dringlichkeit: Welche Macht wollen wir den Modellen über unser Leben geben? Die Politik liebt die Simulation der Pandemie. Die Rechenbeispiele aus dem Computer suggerieren eine Vorhersehbarkeit des Infektionsverlaufs, die der politischen Antwort eine eiserne Rationalität verleiht. Wenn die Kanzlerin über die Notwendigkeit neuer Einschränkungen spricht, verzichtet sie nie auf einen Hinweis auf die ihr vorgelegten Kurven.
Die Präzision der Vorhersage ist selbstverständlich ebenfalls nur eine Simulation. Die Modelle sind in Wahrheit erstaunlich fehleranfällig. Erinnern wir uns: Auch am Anfang des zweiten Lockdowns stand eine Prognose, in diesem Fall vorgetragen von der Leopoldina, jener Akademie der Wissenschaften, deren Beratung die Bundesregierung besonders schätzt.
Spätestens Mitte Januar würde die Zahl der Neuinfektionen bei 50 pro 100000 Einwohnern liegen, wenn die Politik zu Weihnachten das öffentliche Leben herunterfahre, hieß es in einer Stellungnahme. Drei bis vier Wochen den Einzelhandel dicht, die Schulen geschlossen und nur noch wenige soziale Kontakte: Dann wäre die zweite Welle gebrochen. Es ist anders gekommen, wie wir heute wissen.
Der Mensch passt nicht zur Mathematik der Simulation. Wir verhalten uns anders, als der Algorithmus es vorsieht – komplexer, widersprüchlicher. Jede Abweichung von den Annahmen über unser Bewegungsverhalten oder die Frequenz unserer Sozialkontakte verändert den Kurvenverlauf. Schon eine winzige Änderung bei der Mobilität kann, millionenfach addiert, dazu führen, dass am Ende die Linie nicht eine L-Form annimmt, sondern in einem V mündet.
Eine Lösung wäre, die Modelle der Wirklichkeit anzupassen. Also einzugestehen, dass die Voraussagen mit Unsicherheit behaftet sind. Es ließe sich aus der Fehleranfälligkeit auch der Schluss ziehen, dass es an der Zeit sei, sich für mehr Intuition und Erfahrung zu öffnen, das heißt für das, was man gemeinhin gesunden Menschenverstand nennt.
Wie wäre es, würde man in diesem Fall fragen, wir tasteten uns in die Normalität zurück? Wir entließen den Einzelhandel vorsichtig aus dem Lockdown und vielleicht auch die ersten Cafés? Elastische Lösungen lassen sich nicht dadurch finden, dass man sie simuliert, sondern nur, indem man Daten ermittelt und entsprechend reagiert. Darauf hat schon Schirrmacher hingewiesen. Ein Forscherteam der TU Berlin hat Zahlen vorgelegt, was die größten Ansteckungsorte sind. Ladengeschäfte gehören nicht dazu.
Die Politik hat sich für einen anderen Weg entschieden. Wir denken, der Stillstand sei notwendig, um das Virus in Schach zu halt en. Aber das ist zu simpel, um nicht zu sagen: zu unmathematisch gedacht. Das erste Ziel der Maßnahmen ist vielmehr, dass wir uns algorithmuskonform verhalten. Je weniger Kontakte wir haben und je eingeschränkter unser Bewegungsradius ist, desto leichter sind wir, im wahrsten Sinne des Wortes, ausrechenbar. Wenn man die Modelle nicht an den Menschen anpassen kann, muss man den Menschen eben an das Modell anpassen.
Wer die Simulation programmiert, bestimmt auch über die Entscheidungsabläufe. Man muss nur eine Variable ändern, und schon ändern sich die politischen Vorgaben. Am Anfang hieß es, das Ziel der Corona-Maßnahmen sei, die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Also wurde die Zahl der freien Intensivbetten zum entscheidenden Parameter.
Dann rückte der sogenannte Inzidenzwert in den Vordergrund, erst von 50, jetzt von 35. Auch dieser Wert hat sich schon wieder verändert. Nun kommt es darauf an, dass er stabil bei 35 liegt. Was heißt „stabil“? Die gleiche Lage für drei bis fünf Tage, lautete die Antwort der Kanzlerin am Mittwoch. Für 14 Tage, damit die Lage stabil ist, erklärte sie am Freitag.
Gegen die Mathematik der Simulation kommt kein Argument an. Wie sollte es lauten? Dass man nicht glaube, was der Computer an Kurven ausspucke? Damit steht man auf verlorenem Posten.
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer hat auf die Frage, wann der Lockdown denn ende, geantwortet: „Das entscheidet nicht die Politik, sondern das Virus.“ Das ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Satz. Man kann ihn als Eingeständnis der völligen Ohnmacht lesen – oder im Gegenteil als Ausdruck absoluter Anmaßung.
Eine Politik, die für sich die Unausweichlichkeit eines Naturgesetzes beanspruchen kann, ist jeder Diskussion enthoben. Gegen sie kann es keinen Einspruch und keinen Widerstand mehr geben. Das allerdings ist das Gegenteil von Demokratie.
„Nur Gestrige können glauben, dass in der Skepsis gegenüber dieser neuen Macht die Sehnsucht nach vorindustriellen Zeiten steckt“, schloss Schirrmacher seinen Artikel über die unheimliche Verführungskraft der Risikoprognose. „Es geht vielmehr darum, gegen die Welt der Computer Instanzen des Einspruchs zu etablieren. Tun wir das nicht, fliegt bald gar nichts mehr.“ Es fliegt nun nicht nur nichts mehr, wäre hinzuzufügen: In Bayern lässt man die Leute nachts mancherorts nicht einmal mehr vor die Tür.
Schirrmacher hat das Thema nicht mehr losgelassen. Seinem Artikel ließ er ein Buch zur Herrschaft der Algorithmen folgen. Das Buch nannte er „Ego“, was ein hinterhältiger Titel war, weil es ja eigentlich um das Gegenteil ging, nämlich den Menschen zu entmündigen, indem man ihn zum Zuschauer seines eigenen Lebens macht.
Es lohnt, das Buch in der Krise wieder in die Hand zu nehmen. Und sei es nur, weil man an zentraler Stelle einer vertrauten Figur begegnet: dem Physiker, der mit seinen Annahmen den Computer füttert. Bei Schirrmacher war er noch nicht in den Pandemielabors angekommen, sondern erst in die Handelsräume der Investmentbanken vorgestoßen, wo er Modelle zur Risikoabschätzung von Finanzderivaten entwarf.
Das Ende ist bekannt: Weil sich der Mensch schon damals anders verhielt als von den Datenspezialisten vorgesehen, führten die Modelle in den Beinahe-Zusammenbruch der Finanzmärkte.